Lesen im Turbogang

Wer schneller liest, arbeitet effizienter und spart Zeit. Doch beim Überfliegen von Akten, Dokumenten oder Mails bleibt meist wenig hängen. Moderne Methoden versprechen jetzt mehr Tempo ohne Verständnisverlust.

Von 
Viola Schenz
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Jedes Wort für sich: Was viele in der Grundschule gelernt haben, behindert nach Aussagen von Trainern das schnelle Lesen im Erwachsenenalter. © dpa

Das Leben ist ziemlich unfair, wenn es um den Erwerb von Fähigkeiten geht. Sprechen zum Beispiel lernt man quasi von selbst, Lesen lernen dagegen ist ein mühsamer Prozess, der sich durch die halbe Grundschulzeit zieht. Erst muss man sich die Buchstaben zu eigen machen, dann kurze Wörter, Wortgruppen, längere Begriffe und schließlich Sätze entziffern. Irgendwann schafft man endlich ein ganzes Buch.

Lesen gilt als Kernkompetenz in der Informationsgesellschaft, es gibt immer mehr schriftliche Informationen, ob auf Papier oder am Bildschirm. Digitalisierung und Internet machen das Leben nicht textärmer, im Gegenteil, gerade weil sich im Netz alles endlos verschriftlichen lässt, passiert genau das. Die sozialen Medien fördern die Schreibwut zusätzlich.

Angesichts der Textflut wäre es traumhaft, Wichtiges von Unwichtigem zügig unterscheiden zu können, einen Sachtext blitzschnell zu erfassen, ellenlange Mails sofort als nutzlos auszufiltern oder gar die Facebook-AGBs zu verstehen. Die durchschnittliche Lesezeit in deutschen Büros beträgt eineinhalb bis zwei Stunden, zeigen Statistiken. Mit einer 25 Prozent höheren Leseeffizienz ließen sich zehn Arbeitstage im Jahr gewinnen.

Zahlreiche Kurse und Apps versprechen inzwischen Abhilfe; sie locken damit, Textmuffel in Turboleser zu verwandeln. Lesen werde leichter und flotter mit der richtigen Technik, heißt es, das durchschnittliche Lesetempo von 200 bis 250 Wörtern pro Minute lasse sich schnell und einfach potenzieren.

Das ist harte Arbeit

Um der Sache gleich eine Illusion zu nehmen: Eine Technik, die man im Schlaf lernt, wurde bisher nicht entwickelt. Anbietern, die damit werben, gebührt Skepsis. Effizientes Lesen lernen ist harte Arbeit, so wie es Lesen lernen eben auch war.

Ebenso ist schnelles Lesen zunächst kein Wert an sich, es geht vielmehr darum, das Textverständnis zu beschleunigen. Und bevor sich die ersten Bibliophilen empört an einen Leserbrief setzen: Natürlich geht es hier nicht darum, Philip Roth oder Martin Suter herunterzuschlingen. Es geht hier um Zweckdienliches, um Sach- und Fachtexte, um lästige E-Mails oder Anleitungen, nicht um Belletristik – auch wenn man sich damals in der Schule bei so mancher Pflichtlektüre die Kunst des Schnelllesens gewünscht hätte.

Zu den seriösen Anbietern gehört Improved Reading, ein international tätiger Verbund, der weltweit Leseeffizienz vermittelt. Entwickelt hat das Improved-Reading-Verfahren ein Australier namens Stan Rodgers. 2001 wurde es für die deutsche Sprache patentiert.

In Deutschland sind gut 20 Lesetrainer im Einsatz, zu ihnen gehört Britta Sösemann. Die 66-Jährige hat früher Deutsch und Geschichte am Gymnasium unterrichtet, seit 2002 arbeitet sie als Textcoach für Unternehmen und lehrt auch Schnelllesen. Zwei Tage Seminar bei Frau Sösemann sind eine Art Bootcamp in Sachen Lesen. Verdammt anstrengend, aber anders funktioniert es nun mal nicht. Zwei Tage lang sogenannte Augenübungen über DIN A4-Seiten mit Ziffern, Buchstabenabfolgen, Wörtern, Synonymen in schier endlosen Reihen und Kolonnen und immer gegen die erbarmungslos laufende rote Digitalsekundenuhr auf Sösemanns Pult.

Dazwischen Jack-London-Lektüre mit einem „Rate Controller“, einer eigens entwickelten Tempoapparatur, immer wieder wird die sogenannte Effective-Reading-Rate gemessen, die mal Anlass für Jubel und mal für Frust ist. Sösemann geht um die Schreibtische, notiert sich Ergebnisse, gibt Tipps, und weiht ein in die mysteriöse Welt der Leseeffizienz, die in bedeutungsreiche Anglizismen unterteilt ist.

So kommt es auf die „Preview“ an, also darauf, den Blick zunächst über eine Seite schweifen zu lassen, um einen Voreindruck des Textes zu erhalten. Beim Skimming („Rahm abschöpfen“) lernt man, Schlüsselbegriffe herauszufiltern, beim „Paragraphing“, den Kerngedanken eines Absatzes rasch zu erfassen, beim „Chunking“, sinnvolle Wortgruppen mental zu bilden.

Sünden aus der Schulzeit

Geübt wird auf Papier, doch alle Methoden sind auch fürs Lesen am Bildschirm geeignet. Als erstes treibt die Lehrerin Sösemann einem das aus, was man damals in der Schule beigebracht bekam. Jene Techniken, die man sich mühsam verinnerlichte, die aber das Lesen erschweren und Zeit rauben. Wir haben gelernt, Wörter einzeln zu lesen. Wenn wir aber beim Lesen lediglich sinnvolle Wortverbindungen erfassen, wird die Satzaussage schneller erkannt.

Das kindgerechte Lesen behindere im Erwachsenenalter die Effizienz, so die Improved-Reading-Lehre. Das A und O sei, drei Lernsünden aus Kindertagen zu vermeiden, so der Erfinder Stan Rodgers: erstens den Blick durchs Schlüsselloch, den zu engen Fokus auf einzelne Wörter. Unsere Kinder-Augen springen hin und her, ohne, dass wir es merken, aus der Botschaft wird ein Chaos. Ein geübter Leser dagegen braucht nur drei bis fünf Augenbewegungen pro Zeile.

Zweitens das Subvokalisieren, das lautlose Mitlesen eines Textes, das bei ungeübten Lesern auch zum Mitmurmeln wird. Dieser innere Vorleser, den wohl jeder kennt und den man nur schwer los wird, lässt die Gedanken abschweifen. Und drittens die Regression, also mit den Augen immer wieder zu den Wörtern zurückzugehen, die man gerade gelesen hat. Das unterbricht die logische Abfolge und verwirrt.

Bremsen ist die Ursünde überhaupt. Langsames Lesen macht einen Text nicht verständlicher. Nur wenn man das Lesetempo steigert, lässt sich die Gehirnkapazität optimal auslasten und das ständige Abschweifen der Gedanken verhindern. Vergleichbar mit dem Autofahren: Wer mit 60 über die Autobahn kriecht, verliert schnell die Konzentration, bei 180 Stundenkilometern wiederum wird es anstrengend. Nicht ohne Grund gibt es Richtgeschwindigkeiten.

Auch effiziente Leser lesen nicht immer im selben Tempo, sondern beherrschen unterschiedliche Strategien: Je nach Textart und Zielsetzung entscheiden sie sich, einen Text zu hundert Prozent zu erfassen oder lediglich zu „skimmen“, zu „scannen“ oder zu „paragraphen“.

Das alles klingt plausibel, will aber gekonnt sein. Bis zum effizienten Leser ist es ein steiniger Weg. Improved Reading-Seminare gehen streng methodisch vor, man muss diszipliniert dranbleiben, das Gelernte rasch umsetzen und permanent üben. Um die Hausaufgaben kommt man nicht herum – wie damals in der Grundschule.

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