Langweiler leben länger

Von 
Jörg Zittlau
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© Wolfgang Maria Weber

Noch nie wurden die Menschen in unseren Breiten so alt wie heute. Wer derzeit in Deutschland geboren wird, darf auf ein Leben von über 80 Jahren hoffen. Dennoch besteht immer noch der Wunsch, so alt wie nur möglich zu werden. Neidisch schaut man etwa nach Japan, wo fast 48 000 Menschen 100 Jahre oder älter sind, und fragt sich, wie man eine ähnliche Lebensspanne erreichen kann.

Neben den Genen, die den groben Rahmen für die Lebenserwartung stecken, werden auch zahlreiche Lebensstilfaktoren diskutiert, die angeblich den Tod hinauszögern können. Wie etwa eine kalorien- und fleischarme Ernährung, Sport, Heirat und eine religiöse Einstellung, doch die Datenlage zu ihnen ist widersprüchlich und lückenhaft. Außerdem funktionieren sie nur, wenn sie von Selbstdisziplin, Gewissenhaftigkeit, Zuverlässigkeit, Beharrlichkeit und anderen sogenannten Sekundärtugenden angetrieben werden - und tatsächlich sind sie es, die am effektivsten für ein langes Leben sorgen können.

Ein Forscherteam um den amerikanischen Psychologen Howard Friedman verglich die Persönlichkeitsmerkmale von 1500 Männern und Frauen mit deren Lebenserwartung, und das Resümee lautet: "Wer sparsam, beharrlich, detailorientiert und verantwortungsvoll ist, lebt am längsten." Und: "Gegen Ende des 20. Jahrhunderts waren 70 Prozent unserer männlichen und 51 Prozent unserer weiblichen Probanden gestorben - und es waren vor allem die Undisziplinierten, die das Zeitliche gesegnet hatten." Das klingt wenig tröstlich für die unsteten Chaoten, während pflichtbewusste Pedanten auf ein langes Leben hoffen dürfen.

Doch andere Forscher liefern Bestätigungen und Ergänzungen zu dieser These. In einer schottischen Studie an knapp 70 000 Menschen zeigten sich nicht etwa Originalität und Selbstsicherheit als lebensverlängernde Faktoren, sondern Intelligenz und Zuverlässigkeit. Wer diese beiden Faktoren auf sich vereinen konnte, hatte im Beobachtungszeitraum von 1968 bis 2003 eine Sterbequote von 9,9 Prozent, während die Probanden mit niedrigen IQ- und Zuverlässigkeitswerten auf fast das Dreifache kamen, nämlich 24,4 Prozent.

Neben Zuverlässigkeit und Disziplin stellten sich in weiteren Studien auch Ordnungsliebe, Zielstrebigkeit und Vorsicht als lebensverlängernd heraus. Doch warum ist das so? Der erste und vielleicht offensichtlichste Grund ist, dass Menschen mit diesen Eigenschaften mehr für den Erhalt ihrer Gesundheit tun und weniger riskante Dinge unternehmen. Beispielsweise trinken und rauchen sie weniger, und auch beim Autofahren finden sie eher das Brems- als das Gaspedal.

Sie sind aber auch in der Regel psychosomatisch robust. "Personen mit geringen Disziplinwerten neigen öfter zu klinischer Depression und Angst", erklärt die amerikanische Altersforscherin Renee Goodwin. "Sie leiden öfter unter Ischias und Gelenkschmerzen. Zudem erkranken sie öfter an Tuberkulose, Diabetes und Schlaganfällen." Die Gründe dafür sind vielschichtig, aber einer der wichtigsten ist sicherlich, dass undisziplinierte Menschen sich eher erschöpfen und dadurch anfälliger für Krankheiten werden. Denn wer alles anfängt und nie zu Ende bringt, wer ständig zu spät zu Terminen kommt, sich beim Üben fürs Examen ablenken und beim Gang durch den Supermarkt von Impulskäufen leiten lässt, verschwendet nicht nur Zeit und Geld, sondern auch seine körperlichen und psychischen Reserven.

Gründe genug also, auf dem Weg zum langen Leben vor allem auf die Sekundärtugenden zu setzen. Doch die haben derzeit ein schlechtes Image, denn sonst würden sie Primärtugenden heißen. Disziplin, Ordnungsliebe, Sparsamkeit und Vorsicht passen nicht zu einer Gesellschaft, in der die freie Entfaltung des Individuums an vorderster Stelle steht. Sie gelten schlichtweg als langweilig - und damit will niemand etwas zu tun haben.

Tatsache ist freilich, dass ein langlebiger Langweiler vielleicht auf andere Menschen langweilig wirken mag, sich selbst aber überhaupt nicht langweilt. Denn dadurch, dass er mit seinen Sekundärtugenden seine Kräfte bündelt, bringt er enorm viel zustande - und das macht in der Regel mehr Spaß, als wenn man wenig bis nichts zustande bringt.

Gewissenhaftigkeit

Das National Institute on Aging im amerikanischen Baltimore analysierte die Daten von 1076 Männern und Frauen über 65 Jahre, indem man per Interview zunächst ihre "Big Five" erfasste, also die fünf wesentlichen Persönlichkeitsmerkmale: Neurotizismus (emotionale Labilität), Extraversion (Nach-Außen-Gekehrtheit), Offenheit für neue Erfahrungen, soziale Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit.

Jedes einzelne Merkmal wurde in einer fünfstufigen Skala erfasst.

Fünf Jahre später zeigte sich, dass bei der Gewissenhaftigkeit jeder Skalenpunkt oberhalb des Durchschnitts das Sterberisiko um 34 Prozent gesenkt hatte. Kein anderes Persönlichkeitsmerkmal kam auf einen ähnlichen Wert.

Buch-Tipp

"Langweiler leben länger. Über die wahren Ursachen eines langen Lebens" von Jörg Zittlau, Gütersloher Verlagshaus,

17,99 Euro

Freier Autor Geboren 1960 in Düsseldorf. Studierte Philosophie, Biologie und Sport. Nach Tätigkeit in Lehre und Forschung wechselte er 1991 zum Wissenschaftsjournalismus.

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