Leydicke in Berlin

Kultkneipe, die keiner kennt

Von 
Dirk Engelhardt
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Raimon Marquardt führt das Leydicke in Berlin bereits in vierter Generation. Die Einrichtung ist größtenteils noch original aus dem Gründungsjahr 1877.

© Engelhardt

Die Decke ist ja weg!" Die beiden Besucherinnen, Anfang 20, können es nicht fassen und starren nach oben. "Wat denn, wo soll denn wat weg sein?" bullert der erste Stammgast mit zotteligen grauen Haaren, der es sich an der Theke bequem gemacht hat, den beiden entgegen. Und es entspinnt sich ein frühabendlicher Kneipendisput um das mysteriöse Verschwinden der Stuckdecke im vorderen Gastraum. Es ist kurz vor acht. Bis auf die drei Gäste ist das Leydicke noch leer. Viel voller wird es an Wochentagen auch kaum noch; "die Zeiten sind eben schlecht", sagt Raimon Marquardt, der das urige Lokal zusammen mit seiner Mutter in vierter Generation führt.

Vom alten "Kreuzberger Trampelpfad" an der Yorckstrasse, wo früher eine Kneipe an der anderen lag, sind heute nur noch das Leydicke und das Yorckschlösschen übrig. Während das Yorckschlösschen mit seinen Jazzabenden regelmäßig volles Haus hat und im Sommer der Biergarten gut gefüllt ist, verirren sich ins Leydicke bis auf die Stammgäste nur noch einige Touristengruppen. Dies hauptsächlich deswegen, weil das Lokal in einigen Reiseführern als "authentische Alt-Berliner Kneipe" aufgeführt ist. Heute liegt das Leydicke zwischen der Future Gallery und der Zwinger Galerie, in einer türkisch dominierten Gegend. Selbst im heißesten Sommer stellt der etwas stieselige Marquardt nicht einen einzigen Tisch nach draußen, schließlich sei man ein anständiges Lokal und "kein Biergarten".

Destillerie im Keller

Dabei ist das Leydicke ein echtes Unikat unter den tausenden Berliner Abfüllstellen. Nur schwerlich wird sich eine andere Kneipe finden, in der ein Zigarettenautomat hängt, an dem ein Päckchen der längst vergangenen Berliner Marke "Garbaty" noch 20 Pfennig kostet, wo auf der Getränkekarte noch "Abricot Brandy" für 35 Pfennig, "Bärenpils" für 35 Pfennig oder "Aquavit" für 30 Pfennig verzeichnet ist, von der Wandfarbe ganz zu schweigen. Die wurde mutmaßlich seit dem Jahr 1877 nicht erneuert und glänzt heute in einem speckigen, halb abgeblätterten Ockerbraun, welches die Ablagerungen unzähliger verrauchter Kneipennächte konserviert.

In Tischhöhe lassen sich sogar antike Scratchings, wie man sie heute nennen würde, entziffern. "Wir machen eben nicht jeden Trend mit", kommentiert Kneipier Raimon Marquardt die Frage auf die Renovierung der Inneneinrichtung mit original Berliner Schnauze.

Gegründet wurde das Leydicke im Jahr 1877 von Max und Emil Leydicke als "Likörfabrik und Probierstube" an der Prinzenstraße. Obstweine, Liköre und Hochprozentiges wurde nach eigenen Rezepten hergestellt und verkauft. 1889 bauten die Likörfabrikanten ein großes Gründerzeithaus an der Mansteinstraße, und man bezog die größeren Räumlichkeiten dort - inklusive Destillerie im Keller. In den 20er Jahren wandelte sich die Probierstube zu einer Kneipe, in der sich Proletariat und Kleinbürgertum traf. Das ging so bis 1968.

Während der Berliner Studentenrevolte entdeckten Studenten das Lokal mit den gelben Butzenglasscheiben, dem drei Meter hohen Tresenrückschrank aus dunkler Eiche und dem Steinfliesenboden aus den 20er Jahren. Zusammen mit der Wirtin, Luzie Leydicke, wurde die Kneipe Kult. Luzie muss ein echtes Berliner Original gewesen sein, die sich nicht davor schreckte, Gäste anzupöbeln, wenn sie zu wenig tranken, ihnen aber auch Mut zusprach, wenn sie Liebeskummer hatten.

In den 80er Jahren, als Marquardt in vierter Generation die Kneipe übernahm, fand er es lustig, gegen Mitternacht die DDR-Nationalhymne abzuspielen. "Dazu habe ich dann drüben, in der Hauptstadt, noch die passenden Winkelemente, wie das damals hieß, gekauft, und sie an die Gäste verteilt." Die seien auf diese Partys regelrecht abgefahren.

Wenn es nach dem Journalist Dieter Hildebrandt gegangen wäre, wäre das Leydicke längst Geschichte. Zum Tod von Luzie Leydicke verfasste er nämlich für die ehrwürdige "Zeit" einen Nachruf, der nicht nur die Wirtin, sondern auch gleich die Kneipe selbst für Historie erklärt. Der Nachruf hängt heute vergrößert und gerahmt im Gastraum.

Heute kostet das Glas Bier zwei Euro fünfzig, während ein Gläschen selbst gemachter Fruchtwein - ganze 0,25 Liter! - zwei Euro zwanzig kostet. "Wir wollen eigentlich keine Bierkneipe sein", sagt Marquardt und dreht die Country-Musik, die aus einem alten Kassettenrekorder dudelt, ein bisschen leiser. Alle Liköre und Schnäpse stellt er heute noch im Keller selber her. Nur die Kleintierzucht im zweiten Hinterhof, die hat er eingestellt. Von ihr zeugt ein Foto im Schaufenster, das eine fette Sau zeigt, die ihre Pranken auf den Tresen stellt. "Das war ein Spaß vor 20 Jahren, weil ein Gast meinte, wir sollten doch mal richtig die Sau rauslassen", erzählt Marquardt.

Rentabel sieht anders aus

DDR-Musik wird heute nicht mehr gespielt. Dafür stehen alle zwei Wochen Konzerte mit Country-Bands, Swing, Boogie-Woogie oder Rock'n'Roll auf dem Programm. "Die laufen ganz gut", sagt Marquardt. Zu den Konzerten arrangiert er meist noch eine "Show". "Bauchtanz, Striptease oder so".

Richtig rentabel ist das Gastgewerbe längst nicht mehr, eigentlich ist das Leydicke nur noch offen, weil der Familie das ganze Haus gehört - Miete wird also nicht fällig.

Im Café Manstein, direkt neben der Kneipe, wurden jüngst die lange verschlossenen Jalousien hochgezogen: Ein Quereinsteiger bietet nun Kaffee und Kuchen für Studenten und Intellektuelle. Dazu abendliche Diskussionen über Soziale Marktwirtschaft oder Philosophie.

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