Wie die Grenzen zwischen Kindheit und Erwachsenenalter verschwimmen, zeigt der bloße Alltag: Mittvierzigerinnen kleiden sich wie ihre zehnjährigen Töchter. Vierjährige werden von Papa und Mama ins Möbelhaus gezerrt, wo sie Form und Farbe des neuen Wohnzimmersofas auswählen sollen. Halbwüchsige sitzen einträchtig mit den Eltern im Kino – vorbei die Zeiten, als es mega-peinlich war, sich mit den Alten öffentlich blicken zu lassen. Da ist es nur konsequent, dass die Kulturindustrie diesen Trend aufsaugt und sich ebenfalls generationenübergreifend ausrichtet. MoppetBooks heißt ein neuer Verlag in Kalifornien, der sich darauf spezialisiert, Literatur für Große in Bilderbücher für Kleine zu verwandeln: „Der alte Mann und das Meer“, „Unterwegs“, „Frühstück bei Tiffany“, „Der Alchimist“ – gehobene Erwachsenenlektüre wird in den „KinderGuides“ sprachlich vereinfacht und auf knapp 50 Seiten geschrumpft, bestückt mit bunten Zeichnungen, mit einem kurzen Glossar, einer kindgerechten Textanalyse und einem Rätsel plus Auflösung. Ziel und Zweck des aufwendigen Unterfangens: Sechs- bis Zwölfjährige mit Klassikern spielerisch vertraut machen.
Hinter KinderGuides („Kinderführer“) stecken Fredrik Colting und seine Freundin Melissa Medina. Er schreibt die Texte, sie entwirft das Szenenbuch. Ihr Mini-Verlag: ein kleines Zimmer, Küchentisch und Garten ihres Hauses in Silver Lake, einem Stadtteil von Los Angeles. Silver Lake ist bekannt für seine Nachtklubs und Restaurants, es gilt als „one of the city’s hippest neighborhoods“.
Geboren ist ihre Geschäftsidee allerdings im vermeintlich öden, uninspirierenden Mittleren Westen. „Als wir vergangenes Jahr Verwandte in Kansas besuchten, las ich ,Der alte Mann und das Meer’“, erzählt Colting. „Unsere kleine Nichte – sie war damals sechs – wollte wissen, worum es in dem Buch geht.“ Eine kindgerechte Kurzform des Hemingway-Romans zu improvisieren, ging erstaunlich schnell. „Da merkte ich, dass kindliche Neugier, dieser natürliche Wissensdurst, eine Marktlücke ist.“
Ganz neu ist die Idee nicht: In den USA gibt es seit Jahrzehnten Literaturhilfen für Schüler, Cliff Notes oder Spark Notes etwa, die die großen Romane und Schauspiele zusammenfassen, vereinfachen, erklären. Oder BabyLit, gegründet 2015, ein Verlag, der aus der „Odyssee“ oder der „Schatzinsel“ Bilderbücher für Kleinkinder macht. KinderGuides ist eine Mischung aus beidem, für Schulkinder und zum Selberlesen. „Wir verstehen uns als Studierhilfe“, sagt Colting.
Vor einem halben Jahr sind Colting und Medina gestartet, 20 000 Bücher sind bisher gedruckt, die Hälfte davon ausgeliefert, Ladenpreis 16,95 Dollar. Nachfrage gibt es genug bei all den ehrgeizigen Mittelklasse-Eltern, deren Kinder schon im Embryonalstadium Mozart vorgespielt bekommen und die mit zwei das Alphabet lernen müssen. Frühbildung vor dem unausweichlichen Wettbewerb um die besten Schulen, Unis, Jobs, da bleiben Buchklassiker nicht außen vor. Colting und Medina verjüngen derzeit „Stolz und Vorurteil“, „Der Fänger im Roggen“ und „Wer die Nachtigall stört“.
Der 40-Jährige mit Haardutt und ohne Schuhe stammt aus Schweden, dem Land von Astrid Lindgren, die Mutter war Bibliothekarin und Lehrerin, „ich war immer von hunderten Büchern umgeben“. In Göteborg hatte er einen kleinen Verlag gegründet, Sachbücher zu Film, Sport, Gesundheit vertrieben. Vor drei Jahren zog er nach Los Angeles.
Neugier früh wecken
Nun existieren freilich bereits massig Kinderbücher, darunter viele gute, und Klassiker. Und immer mehr kommen dazu. Warum jetzt also zusätzlich noch Erwachsenenlektüre? „Es existieren auch viele Filme, und dennoch werden neue Filme oder Remakes gedreht“, sagt Medina. „Natürlich sollen Kinderbuchklassiker gelesen werden, aber Studien zeigen, dass der Lesedurst in der Jugend nachlässt. Deswegen sollte man die Neugier auf Weiterführendes früh wecken, damit sie sich später daran erinnern und dann zum Original greifen.“
Doch Erwachsenenbücher sind voller Erwachsenenthemen: Beziehungskrisen, Drogen, Streit, Sex, Betrug, Gewalt – kompliziertes Zeug. Wie macht man das kindgerecht? „Nehmen wir Jack Kerouacs ,Unterwegs’“, sagt Colting. „Klar, es geht da auch um Drogen und Sex. Aber selbst, wenn ich das Buch einem Erwachsenen erklärte, würde ich das nicht gleich erwähnen, weil das nicht relevant genug ist. Worum es geht, sind Freiheit und Selbstentdeckung, das gilt es rüberzubringen.“ Auch in klassischen Kindermärchen wimmelt es schließlich vor Grausamkeit, Traurigkeit, Mord, Betrug und Hunger.
Noch eine Zeitenwende: KinderGuides oder BabyLit verlegen Werke neu, die eine linke amerikanische Kulturpolizei in den vergangenen 30 Jahren auf den Index der Political Correctness setzte, weil sie von toten weißen Männern geschrieben wurden und nur deren Sichtweise spiegelten. Die klassischen Klassiker sind jetzt widerspruchslos wieder gesellschaftsfähig und kehren durch die Kinderzimmertür zurück.
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