Anna-Lia Ohms schminkt sich gerne, liebt hohe Schuhe, ist stolz, wie kunstvoll sie sich die Nägel lackieren kann. Manchmal nimmt sie sich extra lange Zeit, greift zu dem dünnen Pinsel und zeichnet filigrane Muster in bunten Nagellack-Farben. Anna-Lia Ohms wird 1956 in Sachsen als Bernd geboren. Das Geschlecht, das ihr zugeordnet wurde, ist männlich. Doch Ohms weiß, seit sie denken kann, dass sie eine Frau ist.
"Schon mit sechs Jahren bin ich heimlich ins Zimmer meiner Schwestern gegangen und habe ihre Klamotten stibitzt. Ich wollte so gerne ein Kleid tragen", sagt die 59-Jährige. In Ohms Familie ist dafür kein Platz. "Etwa im gleichen Alter habe ich mir die Pumps meiner Mutter angezogen." Doch ihre Mutter kommt früher als erwartet nach Hause und erwischt Anna-Lia, die damals noch alle Bernd nennen, in den hohen Schuhen. "Da setzte es dann Backpfeifen", erzählt Ohms. "Ich habe gemerkt, dass das, was sich für mich als Kind ganz natürlich angefühlt hat, von anderen als nicht normal wahrgenommen wurde."
Worte fehlen
Lange kann Ohms nicht ausdrücken, was sie tief in sich fühlt. "Transgender, das Wort kannte ich gar nicht." Als Transgender oder Transmenschen werden Personen bezeichnet, die sich nicht - oder nicht nur - mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Wie viele Personen das in Deutschland sind, ist nicht sicher. Die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität geht von etwa 100 000 Menschen aus.
Ein prominentes Beispiel ist Caitlyn Jenner, die als Bruce eine olympische Goldmedaille im Zehnkampf gewann. Jenner hat mit 65 Jahren ihr Geschlecht angleichen lassen und damit dem Thema Transgender in den USA ungewohnte Aufmerksamkeit verschafft. Auch Filme wie "The Danish Girl" machen heute Transmenschen einem breiten Publikum bekannt. "Ich finde das toll", sagt Ohms. "Je mehr darüber berichtet wird, desto mehr Menschen beschäftigen sich damit."
"The Danish Girl" sieht sich Ohms mit ihrer Selbsthilfegruppe "Trans-Treff" an. Einmal im Monat tauschen sich Transfrauen in Mannheim aus. Ohms leitet den Treff. Im Atlantis-Kino wendet sich die 59-Jährige vor der Filmvorführung an das Publikum. "Ich habe ein bisschen was über die Gruppe erzählt, über uns." Die Reaktionen seien positiv gewesen. Akzeptanz nicht nur auf der Leinwand, sondern auch im Alltag? Ohms schüttelt den Kopf. "Schiefe Blicke und blöde Sprüche bin ich gewohnt, wenn ich im Rock durch Mannheim laufe." Aber: "Ich mache das einfach zur Normalität", sagt Ohms selbstbewusst. Die gelernte Berufskraftfahrerin wirkt ruhig, fast abgeklärt, wenn sie über Ablehnung und Diskriminierung spricht. Das war nicht immer so: "Früher war ich ein aggressiver Mensch", erzählt sie. "Aber seit ich offen als Frau lebe, kann ich über den Dingen stehen." Freunde sagen, sie ruhe nun in sich.
Zuvor war Ohms eine Getriebene. "In eine Schablone gepresst zu werden, in die man nicht passt, ist das Schlimmste, was man der Seele antun kann." Das Gefühl, wenn sie heute in Frauenkleidern das Haus verlasse, sei unbeschreiblich. "Frau-Sein bedeutet mir so viel." Endlich muss sie sich nicht mehr verkleiden, nicht mehr verstecken.
"In der DDR galt das als Krankheit, Kinder kamen ins Heim, Erwachsene in eine Klinik", berichtet Ohms. Also schweigt sie. Als ihr Geheimnis eines Tages aus ihr herauszuplatzen droht, flüchtet die Jugendliche aus der elterlichen Wohnung. "Ich saß sechs Stunden auf der Straße", sagt Ohms. "Ich konnte mit niemandem sprechen, sonst hätte ich alles erzählt."
Vieles wäre heute vielleicht einfacher, hätte Ohms Mutter nicht eine folgenschwere Entscheidung getroffen. "Als die Pubertät anfing, blieb ich klein und zierlich. Mit meinen langen Haaren sah ich fast weiblich aus. Jemand sagte meiner Mutter, sie solle deswegen mit mir zum Arzt gehen." Der spritzt Ohms männliche Hormone. Sie schießt in die Höhe, bekommt breite Schultern, ein männlicheres Gesicht. "Ich hatte solche Schmerzen, die Knochen kamen gar nicht nach."
Ohms passt sich nach außen hin an, heiratet eine Frau. Heute sagt sie: "Es war eine Zweckehe." Auch in dieser Zeit näht sie sich Reizwäsche, die sie trägt, wenn ihre Kinder im Bett sind. Denn Ohms wird Vater. Doch diese Rolle und die eines Ehemannes zu erfüllen, gelingt ihr nicht. Sie flüchtet: "Ich habe viele Überstunden gemacht, wollte nicht nach Hause." 1996, die Familie lebt mittlerweile in der Nähe von Stuttgart, lässt Ohms sich scheiden. Zu ihrer Ex-Frau und zu ihren Kindern hat sie heute keinen Kontakt mehr. Auch mit ihren Eltern und Schwestern ist jeglicher Umgang abgebrochen.
Applaus statt Buh-Rufe
Fast sieben Jahre dauert es noch, bis Ohms, die inzwischen ehrenamtlich als Tanzlehrerin arbeitet, es wagt, nicht nur in ihren eigenen vier Wänden, als die Frau zu leben, die sie ist. "Irgendwann dachte ich: ,Es reicht jetzt.'" Sie fängt an, hin und wieder eine Bluse zur Arbeit zu tragen. "Dann wurde es langsam mehr." Die Mitglieder von Ohms Tanzverein reagieren positiv. "Ich habe es ihnen einfach erklärt", sagt die 59-Jährige.
Offenheit ist ihr Erfolgsrezept für mehr Toleranz. "Ich finde es gut, wenn Menschen Fragen stellen. Das ist viel besser als hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln." Ihr Coming-out (öffentliches Selbstbekenntnis) hat sie schließlich vor 400 Leuten bei einem Fest mehrerer Vereine. "Ich war so nervös, als ich auf die Bühne ging." Sie rechnet mit Buh-Rufen. "Doch die Leute klatschten, viele gratulierten mir sogar." Ihr Coming-out ist gleichzeitig ihr Abschied. Ohms zieht in die Pfalz, der Liebe wegen.
Über das Internet hat sie einen Partner gefunden - "der mich so liebt, wie ich bin". Er unterstützt sie auf ihrem Weg: Ohms steht kurz vor der Personenstandsänderung nach dem Transsexuellengesetz. In diesem Anfang der 1980er Jahre in Kraft getretenen Gesetz wird geregelt, unter welchen Voraussetzungen eine Frau zum Mann oder ein Mann zur Frau werden darf. Dafür müssen Transmenschen in Deutschland zwei psychologische Gutachten vorlegen. Das hat Ohms schon hinter sich. Ihr Status im Personenstandsregister wird von männlich auf weiblich gestellt. In ihrem neuen Pass wird nicht länger Bernd stehen, sie heißt dann auch offiziell Anna-Lia. "Anna ist die griechische Form von Hannah und bedeutet ,die Anmutige'. Lia ist hebräisch und soll so viel wie ,die Löwenstarke' heißen", erklärt Ohms ihre Namenswahl.
Vieles wird sich ändern: Zum Beispiel kann Ohms dann die Damentoiletten nutzen. Aber auch große Neuerungen stehen an. Im November wird sie 60 Jahre alt. Davor wird sie sich operieren lassen. Eine Kastration, eine Brust- und eine Stimmband-OP sind geplant. "Dann kann ich endlich das Leben leben, das ich mir immer gewünscht habe."
Kleines Glossar
Transgender: Transgender (auch: Transmenschen) identifizieren sich nicht - oder nicht nur - mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde.
Transfrau: Eine Person, die sich als Frau identifiziert und der bei der Geburt das männliche Geschlecht zugeordnet wurde.
Transmann: Eine Person, die sich als Mann identifiziert und der bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugeordnet wurde.
Transsexualität: Der in Deutschland rechtlich korrekter Begriff. "Sexualität" bezieht sich auf das körperliche Geschlecht, nicht auf die sexuelle Orientierung.
Transidentität: Diese deutsche Wortschöpfung betont den geschlechtlichen Identitätsaspekt.
Trans*: Ein weit gefasster Oberbegriff. Der Stern * dient als Platzhalter für diverse Komposita.
Transvestismus: Tragen von Kleidung des anderen Geschlechts (auch: Cross-Dressing), ohne den Wunsch nach Geschlechtswechsel.
Intergeschlechtliche Menschen: Intergeschlechtliche Menschen (auch: Zwitter, Hermaphroditen, intersexuelle Menschen) werden mit körperlichen Merkmalen geboren, die medizinisch als "geschlechtlich uneindeutig" gelten.
LGBT: LGBT ist die Abkürzung für "Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender" und steht für die Gemeinschaft von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern.
Queer: Sprachliches Sammelsurium für alles rund um sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität. ls
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