Schnee-Geschäft

Herr HOLLE

Von 
Thomas Olivier
Lesedauer: 

Berlin im Frühling. Die Sonne scheint, die Bäume blühen, die Vögel zwitschern. Die Straßencafés sind voll. Nur ein paar Schritte weiter herrscht tiefster Winter: Eisblumen zieren die Fenster der Häuser. Von den Dächern wachsen Eiszapfen. Und dann kommen sie: drei ergraute Männer. Sie schleppen einen Christbaum durch das schneeweiße Szenario. Vorbei an Autos und Büschen, die unter Schneebergen begraben liegen.

Alles nur Illusion: Der Dezember ist ein Mai, und auch der Schnee ist nicht echt: Kunstschnee hat den Rüdesheimer Platz für das Kino-Drama "Epsteins Nacht" mit Bruno Ganz und Mario Adorf in eine leuchtende Winterlandschaft verwandelt. Schneemaschinen haben stundenlang Sattelzug-Ladungen weißer Papierzellulose in den fiktiven Heiligabend-Himmel geblasen.

Das Schnee-Imitat stammt aus Ladbergen, Nordrhein-Westfalen. In den 6 000-Einwohner-Ort im norddeutschen Tiefland verirrt sich selten eine Flocke. Aber die Gemeinde zwischen Münster und Osnabrück ist Sitz eiskalter Geschäftemacher, die ihresgleichen suchen: Das Winterimperium "Snow Business" ist weit und breit die erste Adresse für Kunstschnee.

Wir betreten das Schnee-Reich und sind auf einen Karrieristen-Typ eingestimmt. Auf einen coolen Manager in Anzug, Krawatte und Lackschuhen, stets bereit, die neueste Erleuchtung im iPad zu notieren. Die Tür geht auf - das Bild ist kaputt: Inmitten vereister Zweige und eines Meers glitzernder Schnee- und Eisproben wirkt der Schöpfer des Schnees eher kumpelhaft. Lucien Stephenson, 43 Jahre, gebürtiger Engländer und studierter "European Business"-Fachmann. Ein Typ von mittelgroßer Statur, dunkles T-Shirt und Jeans, lustige Bubennase, Drei-Tage-Bart, rötliche Haare über breiter Stirn. An seinen schwarzen Turnschuhen klebt weißer Staub. "Wir haben hier nichts, was echt ist!"

Garantiert verschneit

Wenn Herr Holle die Bettfedern fliegen lässt, schneit es auf der ganzen Welt. Für Werbekampagnen fielen die künstlichen Flocken schon auf fast alle bekannten Limousinen-Marken. Weihnachtsmärkte setzen auf Stephensons Schneegarantie.

Winterromantik aus Westfalen hat die Kollektionen von Lauren bis Esprit und TV-Spots von Ferrero bis Tchibo sowie T-Online fest im Griff. Firmen-Weihnachtsfeiern und Messestände, Fotografen, Designer und Museen schätzen Stephensons Winterflair. Zur Olympia-Bewerbung Münchens wurde die gesamte Allianz-Arena eingeschneit. Selbst gefrorene Teiche, Raureif auf Wiesen und vereiste Requisiten können in Windeseile herbeigezaubert werden.

Ein Filmplakat neben dem anderen ziert die Wände des Büros. Stephenson frostete sich durch internationale Großproduktionen wie Jodie Fosters "Flight Plane", "Der Vorleser" mit Oscar-Preisträgerin Kate Winslet und "Wer ist Hannah" mit Cate Blanchett. Stephenson ist die erste Wahl Hollywoods und des deutschen Fernsehens in Sachen Kunstschnee.

Das Snow-Geschäft beginnt vor 16 Jahren: In den Semesterferien heuert der Student aus Dover, Kent, mit 56 weiteren Technikern für Kenneth Branaghs Vier-Stunden-Epos "Hamlet" an: 200 Tonnen zuckerweiße Zellulose gehen auf Blenheim Palace in Churchills Heimat Woodstock nieder. Der Duke of Marlborough, Herr über das britische Nationalheiligtum, ist anfangs nicht "amused". Er hat größte Bedenken. "Wir mussten erst einmal mit Chemie-Tests beweisen, dass alles okay ist", erzählt Stephenson.

Nach dem Examen und der Disney-Produktion "101 Dalmatiner" mit Glenn Close kehrt Stephenson 1999, frisch verheiratet, an die Stätte seiner Kindheit zurück: nach Osnabrück, wo er bei der englischen Mutter und dem deutschen Stiefvater aufwuchs und das Abitur gemacht hatte. Noch im selben Jahr öffnet das einzigartige Winter-Reich. Der internationale Durchbruch im Film-Business gelingt mit der verschneiten Anfangssequenz in Jean-Jacques Arnauds Drama "Das Duell - Enemy At The Gates" (2001).

Schnee hat viel mit Emotionen zu tun, findet Stephenson. "Jeder wird an seine Kindheit erinnert." Die Umgebung wird stiller. Der Schnee klebt an den Häuserwänden. "Einfach romantisch!", findet er. Häufig reist er in die Berge, um mit der Kamera Schnee-Effekte aus der Natur festzuhalten und sie später bei der Arbeit nachzuempfinden. "Schnee- oder Eisstürme beeindrucken mich noch immer."

150 verschiedene Eis- und Schneesorten hat Deutschlands einziger reiner Winter-Effektspezialist parat. Vom schimmernden Fantasy-Schnee mit Perlmutt-Effekt bis zum Frostpuder für klirrend kalte Raureif-Illusionen: "Wir führen mehr Eissorten, als Inuit Namen dafür haben." Ob kleine oder große Flocken, schnell oder langsam fallend - allesamt sind sie biologisch abbaubar. Die Ausgangsmaterialien sind reine Zellulose, Stärke und Kunststoff. Künstliche Eiszapfen, täuschend echt und in unzähligen Weihnachtsauslagen zu finden, werden aus Kunstharz und Wachs gegossen. Für weihnachtliche Privatgärten kramt Herr Holle eine verblüffende Sorte aus seiner Winter-Wundertüte: "Snow Cell", ein feines Zellulose-Pulver. "Es fühlt sich an wie Stärke und knirscht unter den Sohlen wie frischer Schnee bei Kälte."

Wärmeresistentes Weiß

Warm anziehen muss sich das Unternehmen nicht: Sein Kunstschnee prägt das Bild vieler weihnachtlicher Einkaufsmeilen. Wenn Karstadt und Co. das wärmeresistente Weiß in die Schaufester schaufeln, ist Herr Holle zur Stelle. Eingebettet in Stephensons glitzernde Winterlandschaften wiegen Nikoläuse und Feen, Wichtel und Engel ihre lustigen Häupter in den Shopping-Centern.

Auch bei den Stephensons zu Hause in Osnabrück brach zu Weihnachten schon des Öfteren tiefster Winter aus. "Prima! Papa macht Schnee!" jubelten seine drei Kinder, inzwischen zwölf, 15 und 18 Jahre alt. Früher kippte Papa zum Fest regelmäßig Schnee in die Wohnung. Schnell wurden die Fußspuren imitiert und Geschenke unter Schnee versteckt. Dann nahte die Bescherung. Das ging so lange gut, bis der Älteste petzte: "Ist ja eh alles unecht, Papa!"

Schnee-Geschäft

Lucien Stephenson, 43, Chef einer einzigartigen Kunstschnee-Firma, ist gebürtiger Engländer aus Dover, Kent, mit Wahlheimat in Osnabrück, Niedersachsen.

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen