Fröhliche Ostern!

Von 
Thomas Olivier
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Es ist eine fremde Welt, die da jeden Tag eintrudelt im ostfriesischen 3000-Seelen-Dorf Riepe, wo rote Klinker-Häuser die endlos lange Hauptstraße säumen und in den Fenstern weiße Spitzengardinen hängen. Hier residiert Wilhelm Janssen, 52 Jahre alt, der weltweit ungekrönte Postkarten-König. Früher hat der bärtige Fan der "Toten Hosen" zwei Schachteln Zigaretten am Tag gequalmt. Heute sind Postkarten seine Glimmstängel, sagt er. In den Raucherpausen geht der Arbeiter im VW-Werk Emden seinem "Vollzeit-Hobby" nach: Janssen schreibt Ansichtskarten und verschickt sie über das Internet-Portal postcrossing.com. Unerreichte 10 000 Mal bis heute. Umgekehrt landen täglich bis zu 20 Grüße in seinem Briefkasten. "Zu Ostern noch mehr", erzählt Janssen.

Die Idee eines portugiesischen Informatikers, über das Internet Adressen zu vermitteln und die ganze Welt mit einem Stück Pappe zu verknüpfen, hat eingeschlagen. Mittlerweile schicken sich wildfremde Menschen aus allen Ecken der Erde fast täglich Postkarten zu. In diesen Wochen wird der 17 millionste Gruß seinen Empfänger erreichen. Was ist für Janssen das größte Glück? "Karten mit Leuchtturm-Motiven."

Der Ostfriese ist nicht allein: "Du alte Kichererbse", schrieb der tschechische Bestseller-Autor Jurek Becker Ostern 1994 seinem Sohn Jonathan, "in meinem Hotelzimmer ist eine Fliege, die hat mich die ganze Nacht geärgert ... Ich habe den Kühlschrank so lange aufgemacht, bis sie reingeflogen ist. Jetzt friert sie drin wie blöde. Das hat sie nun davon. Dein Papa."

Prominente Schreiber

Nicht nur der Schöpfer des Kult-Romans "Jakob, der Lügner" liebte es, Karten-Grüße zu versenden. Auch andere Prominente spielten gern mit dem Medium: Franz Kafka, Karl Valentin, Egon Schiele, Joseph Beuys, Horst Janssen und Albert Einstein waren passionierte Kartenschreiber. Künstler des Blauen Reiters und der Brücke nutzten die bunten Kartons als Spielwiese für Festtagsgrüße, manche verschickten sogar Originale.

Schon vor 110 Jahren gehörte ein gewitzter Ostergruß an Freunde und Verwandte zum guten Ton. Mit Gold- und Silberfarben, Handkolorierungen und Prägungen wurden die Kartons prächtig in den Lithographie-Anstalten aufgehübscht. Der Hunger nach Bildern war gewaltig. Zu Ostern wurde vor allem der Aufbruch der Natur aus dem Winterschlaf thematisiert: Hasen tanzen um gigantische Eier. Hübsche Damen schlüpfen aus Gelegen. Kinder in Hasenkostümen lugen aus dem Gebüsch. Vor Biedermeier-Dorfkulissen recken Hähne ihre Kämme. Engel bringen Eier, Putten läuten Glocken. Millionenfach versammeln sich die Jünger um den Wiederauferstandenen. Und immer wieder zieren Palmkätzchen und Frühlingsblumen die papiernen Osterträume. Während des Ersten Weltkriegs vertreibt die schwarz-weiß-rote Kriegsflagge Hasen und Lämmer.

Niemand prägte die Postkarten-Welt so nachhaltig wie die Deutschen. Kein Land auf dem Globus produzierte so viele Karten wie die Heimat von Heine und Goethe. 50 Prozent gingen in den Export. Und der Hase als österlicher Eierverstecker verdrängte Störche, Kuckuck und Hennen, die bis dahin die bunten Ovale gebracht hatten. Die Druck-Qualität wurde weltweit gerühmt. Tausende - vornehmlich weibliche - Arbeiter pressten, stanzten, klebten, bronzierten und sortierten in Hunderten von Luxuspapier-Fabriken die begehrten Exportartikel. In Berlin und Dresden, Leipzig, Köln, München, Nürnberg und anderswo. Vor allem "Printed in Saxony" - gedruckt in Sachsen - stand für allerhöchste Qualität.

Ein einträgliches Geschäft, wie eine soziale Studie über "die Lage der Arbeiterinnen in der Papierwaren-Industrie" (1896) verrät: "Ein eben mündig gewordener Fabrikant, noch vor drei Jahren Arbeiter, nimmt so viel ein, dass er sich eine Equipage halten kann. Der Berliner Karten-König Wolf Hagelberg (1825-1896), dekoriert mit zahllosen Medaillen, bringt es schnell vom einfachen Steindrucker zum Millionär: 1250 Mitarbeiter schwitzen in der Firma des weltberühmten Lithographen, damals die größte Luxuspapierfabrik der Erde.

Ein deutscher Generalpostmeister aus Pommern hatte den Vorläufer der SMS ins Rollen gebracht: Heinrich von Stephan (1831 - 1897), Mitbegründer des Weltpostvereins, entwickelt 1865 die Idee einer preiswerten und schnellen Alternative zum Brief. 1870 führt der Norddeutsche Bund die Postkarte offiziell ein. Gleich am ersten Tag gehen in Berlin fast 50 000 Stück über den Tisch. 30 Jahre später quellen die Briefkästen zu Ostern oder Weihnachten über.

Für den Boom gab es mehrere Gründe: Die Aufbruchstimmung im Fin de Siècle, die Karte als neues Werbe-Medium für Künstler und Firmen, das vereinfachte Reisen durch die Eisenbahn und vor allem der Erste Weltkrieg - in dem besonders zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten Millionen Feldpostgrüße in Richtung Heimat und Front fluteten.

Bis zu einer Milliarde Karten befördert die Reichspost in diesen schweren Jahren. Der Operettenkomponist Paul Lincke schreibt den "Marsch der Ansichtskartensammler". Beim Pariser Karneval von 1905 rollt ein Motivwagen zum Thema Postkartenfieber über die Champs-Elysée. Der britische "Standard" kann 1899 über die Liebe der Deutschen zum Postkarten-Schreiben nur lachen: Der "Teutone" betrachte es als seine feierliche Pflicht, ... eine Postkarte zu schicken, als befände er sich "auf einer Schnitzeljagd".

Bevölkerung wird schreibfaul

In den 1990er Jahren sind hierzulande noch 900 Millionen Gruß- und Glückwunschkarten unterwegs. 2011 zeigt sich die Bevölkerung schon wesentlich schreibfauler: Nur noch 160 Millionen Grußkarten finden ihren Weg in deutsche Briefkästen. Vor allem bei Jugendlichen sind SMS, Mails, Facebook und Co. inzwischen beliebter. Laszive Häschenwitze, Oster-Clips und Oster-Bunnys kursieren in den Smart-Phones: "Da hüpft ein kleines Osterei nun schnell mal in dein Handy rein."

Dennoch bleiben Post-Karten allgegenwärtig: In Andenken-Läden und Buchhandlungen, Kaufhäusern und Museen, als Gratispostkarten in Kneipen und Kinos - und zu Hause als Trophäe hinterm Spiegel oder an der Pinnwand in der Küche. Erstaunlich auch, dass das Sammelfieber bis heute nicht nachgelassen hat. Im Gegenteil. Das Geschäft brummt: An die 150 Karten-Börsen finden jährlich in 25 deutschen Städten statt. Geschätzte 500 Profihändler und unzählige Internet-Portale buhlen um Abnehmer. "Die Nachfrage steigt", bestätigt Wolfgang Minnich vom Berliner Internet-Händler "Bartko und Reher", mit einem Katalog von 1,1 Millionen antiken Karten und 20 000 Kunden einer der Branchen-Riesen.

Die Postkarte im Briefkasten hat auch im Zeitalter von W-Lan und Skype nicht ausgedient: Laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag des IT-Verbands Bitkom greifen immerhin noch 53 Prozent der Bundesbürger zum Stift. Ostdeutsche (66 Prozent) schreiben häufiger als Westdeutsche (50 Prozent). Und Frauen verschicken lieber Postkarten-Grüße als Männer (63 zu 43 Prozent).

Für all jene, die weder auf die neue Technik noch auf die gute alte Oster-Postkarte verzichten wollen, gibt es mittlerweile Apps und praktische Online-Portale. Der Schreiber spart sich die Mühe, Karte und Marke zu kaufen und sie zu versenden. Ein paar Klicks - und die Ostergrüße landen nach wenigen Tagen im Briefkasten des Empfängers - als Karte zum Anfassen. Für den Ostfriesen Janssen keine vernünftige Alternative: "Die Druckqualität lässt doch sehr zu wünschen übrig."

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