Fußball ist seine Passion. Als Historiker beackerte der 67-jährige Hans Woller bislang die Historie in der amerikanischen Besatzungszone, den Faschismus und Benito Mussolini. Wie kommt ein promovierter Historiker auf die Idee, ein Buch über den Fußballer Gerd Müller, den „Bomber der Nation“ zu schreiben? Der grüne Rasen war beruflich für ihn noch ein unbeschriebenes Blatt. „Hoffentlich keine Fangfrage?“, schmunzelt Hans Woller und nippt am Kaffee, den uns seine Ehefrau in der Schwabinger Wohnung serviert hat. „Ein Kollege warnte mich, ich würde durch das Gerd-Müller-Projekt meinen Ruf als Historiker aufs Spiel setzen. Nach 42 Jahren, in denen ich mit intensiv mit Nazis, faschistischen Todesschwadronen und Holocaust beschäftigt hatte, wollte ich unbedingt eine Sozialstudie über den Fußball als schönste Nebensache der Welt schreiben.“ Eigentlich sollte es nur eine facettenreiche Biografie über den mit 365 Toren bis heute treffsichersten Bundesligakicker aller Zeiten werden. Ein Mann, eine Drehung, ein Tor. Doch schnell stieß Woller bei seinen Recherchen in Bibliotheken, Zeitungsarchiven und bei Gesprächen mit Zeitzeugen auf die dunklen Kehrseiten des Erfolgs: Steuerhinterziehungen, schwarze Kassen und eine symbiotische Beziehung zwischen Sport und Politik.
Eine heikle Situation
„Der FC Bayern München war in den 1960er und 1970er Jahren eine sehr erfolgreiche und extrem teuere Mannschaft. Die Begehrlichkeiten von Stars wie Sepp Maier, Franz Beckenbauer, Uli Hoeneß oder Gerd Müller konnten nie und nimmer aus den regulären Einnahmen aus Kartenverkauf und Mitgliederbeiträgen befriedigt werden“, erklärt der Historiker. Not machte erfinderisch: „In dieser heiklen Situation hat sich die Führung des FC Bayern München an die Bayerische Staatsregierung gewandt und um Hilfe gebeten. Der damalige Finanzminister Ludwig Huber riet dem Vereinspräsidenten Wilhelm Neudecker und dessen Geschäftsführer Walter Fembeck, alle Einnahmen aus internationalen Auswärtsspielen zum Beispiel in Südamerika nicht zu versteuern. Stattdessen wurden diese Dollars am Fiskus vorbei direkt an die Stars verteilt oder landeten auf Schweizer Schwarzgeldkonten des Klubs.“ Damit nicht genug: Der bayerische Finanzminister persönlich setzte sich dafür ein, dass ein Gerd Müller einen hoch dotierten Posten bei der Bayerischen Versicherungskammer erhalten sollte, ohne nur einen Finger dafür rühren zu müssen. Mit diesem Gesamtpaket gelang es, Weltklassespieler à la Franz Beckenbauer oder Gerd Müller langfristig beim FC Bayern München zu halten.
Ein symbiotisches Verhältnis zwischen Fußballverein und Politik mit Kalkül. „Der damalige Finanzminister Ludwig Huber hat dieses System mit aufgebaut und Verstöße allem Anschein nach gedeckt. Bis heute sind diese Vorfälle nicht sanktioniert“, betont Woller. „Insgesamt sind Steuergelder in Millionenhöhe hinterzogen worden und es hat bis heute nie ein Strafverfahren gegeben. Einige FC Bayern-Funktionäre wurden zwar zu Bußgeldern verdonnert, die aber großzügiger Weise der Verein übernommen hat. Das ist ein Skandal, was hier in den 1970er Jahren passiert ist.“ Eine Hand wusch die andere: Die Politik unterstütze den Vorzeigeklub. Und der FC Bayern revanchierte sich bei der CSU durch Wahlkampfauftritte des Vereinspräsidenten Neudecker, durch Wahlempfehlungen von Fußballprofis oder durch Presseinszenierungen, um die innige Kooperation zwischen dem FC Bayern und der Staatsregierung nach außen hin zu demonstrieren. Für Woller kein Einzelfall.
„Alle Indizien sprechen dafür, dass es ähnlich symbiotische Verhältnisse zwischen den Sozialdemokraten im Ruhrgebiet und den entsprechenden Vereinen gegeben hat, ein weiterer Skandalklub dieser Jahre war Hertha BSC Berlin. All diese Vereine standen vor demselben Problem wie der FC Bayern München. Auch dort hat man die Politik angezapft und die Politik hat sich die Vereine zunutze gemacht, um ihr Image aufzupolieren. Die Nähe zum Fußball, das weiß man von Angela Merkel, suggeriert Basisnähe oder lässt die Hoffnung aufkeimen, dass man mit Fußball Wählerstimmen gewinnen kann.“ Heute hat sich das Fußballgeschäft von solchen Abhängigkeiten emanzipiert, glaubt Woller. Die finanzstarken Vereine haben vermutlich staatliche Schützenhilfe gar nicht mehr nötig.
Die Leidenschaft siegt
Woller traf den Mann persönlich, dem sein Buch gewidmet ist. Der 74-jährige Gerd Müller ist an Alzheimer erkrankt, seit vier Jahren lebt er in einem Pflegeheim in der Nähe von München. Er ist nicht mehr in der Lage, zu sprechen. „Ob er wirklich noch jemanden erkennt, weiß man nicht. Als ich ihn eine Stunde lang sehen durfte, hat er ein paar Mal gelächelt, ein Gespräch mit ihm war leider nicht mehr möglich.“ Müllers Ehefrau Uschi, mit der er seit mehr als 50 Jahren verheiratet ist, kümmert sich rührend um ihn. „Manchmal versucht er, ein Wort zu bilden, aber nur in ganz glücklichen Momenten gelingt es ihm, mit einer Silbe oder einem Halbsatz zu kommunizieren. Bei mir war das nicht der Fall, aber seine Frau hat mir geschildert, dass es solche Highlights manchmal gibt. Ansonsten lebt Gerd Müller in seiner eigenen Welt.“
Wollers Faible für den Fußball ist auch nach den dunklen Flecken, die die Recherchen zum Gerd-Müller-Buch hinterlassen haben, fast ungebrochen. „Selbst wenn das Fußballgeschäft noch so korrupt ist, bleibe ich ein Fußballjunkie. Ich liebe die blitzschnellen Drehungen und Tore eines Gerd Müllers, die Dribblings eines Mehmet Scholl oder die Finten eines Robert Lewandowski im Strafraum“ schwärmt Woller. „Diese Leidenschaft lässt alles andere in den Hintergrund treten, was ich über den Fußball weiß und mir nicht so gut gefällt. Ich trage ja einen riesigen Rucksack an positiven Erinnerungen über den Fußball mit mir herum. Schon als Sechsjähriger hat mich Fußball bewegt und das ist bis heute so geblieben.“ Ein weiteres Buch über Fußball will er nicht schreiben, als nächstes plant er eine historische Kriminalstudie über den archaischen Umgang in der oberbayerischen Provinz mit den Sinti und Roma.
Mehr Leute erreichen
Allerdings wünscht sich Woller dringend mehr seriöse Zeitstudien über den Fußball. „Die Fußballbücher, die wir derzeit haben, sind zu 95 Prozent moderne Märchenbücher, die der Legenden- und Mythenbildung von Idolen dienen. Viele Journalisten und Fußballer leben in einer Art Seifenblase und nichts ist schöner, als alte Anekdoten zum hundertsten Mal wiederzukäuen.“
Doch Fußball sei viel mehr. Die Gerd-Müller-Biografie habe in Ansätzen gezeigt, welches Potential Sozialstudien in diesem Bereich haben können. „Wir erfahren mehr darüber, inwieweit sich Parteien und Regierungen in alle möglichen Bereiche der Gesellschaft hineinfressen und dort mitbestimmen. Mit gut gemachten Fußballbüchern erreicht man mehr Leute, als wenn man eine Studie über einen Landespolitiker oder ein bestimmtes Reformvorhaben schreibt“, glaubt Woller. Sein Wunsch: Die Popularität des Millionengeschäfts Fußball zu nutzen, um auf soziale und gesellschaftliche Fehlentwicklungen aufmerksam zu machen.
Hans Woller
- Hans Woller, geboren am 22. Februar 1952, wuchs in Aldersbach in der Nähe von Passau auf. Nach dem Abitur in Pfarrkirchen studierte er in München, 1975 bekam er eine Hilfskraftstelle im Institut für Zeitgeschichte.
- Nach der Promotion als Historiker war er drei Jahre lang am Deutschen Historischen Institut in Rom, danach von 1988 bis 2017 beim Institut für Zeitgeschichte, wo er als Chefredakteur die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte betreute.
- Neben historischen Büchern über Gesellschaft und Politik in der amerikanischen Besatzungszone, den Faschismus oder Benito Mussolini hat er 2019 mit „Gerd Müller oder Wie das große Geld in den Fußball kam“ (C.H. Beck Verlag) eine Biografie über den „Bomber der Nation“ und die politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen des Fußballs veröffentlicht.
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