Ohrwurm

Drehrumbum im Kopf

Ein Lied kann vieles sein: eine Brücke, ein Revolutionsaufruf oder ein Betthupferl. Aber auch eine musikalische Endlosschleife im Gehirn, die einen zeitweise irre macht. Der Ohrwurm ist von der Wissenschaft nicht nur gut untersucht, es gibt auch einen Trick, um ihn wieder loszuwerden.

Von 
Gunnar Leue
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Auf direktem Weg ins Gehirn: Manche Melodie ist so eingängig, dass sie sich als Ohrwurm einnistet. © dpa

German Angst, Waldsterben, Sauerkraut – es sind nicht eben Wörter, die die schönen Dinge des Lebens beschreiben, aber tief in den englischen Sprachgebrauch eingedrungen sind. Umso erstaunlicher, dass es auch der Earworm schaffte, beruhend auf dem Ohrwurm, dessen Namensgeber der Berliner Operettenkomponist Paul Lincke sein soll. Denn eigentlich ist der musikalische Ohrwurm ja keine deutsche Erfindung, da die meisten Ohrwürmer aus dem englischen Sprachgebiet kommen dürften.

So egal es letztlich ist, wo die semantischen Ursprünge des Ohrwurms liegen, so bedeutend scheint die Entschlüsselung seines Wirkens für die Menschheit. Offenbar handelt es sich bei ihm um ein riesiges Zivilisationsproblem, jedenfalls wird der Ohrwurm erforscht, als würde er zu den schlimmsten Geißeln der Menschheit gehören. Alle Facetten wurden schon beleuchtet: Wie kommt er zustande? Wie ist er aufgebaut? Welche Arten gibt es? Welche sind die gefährlichsten: die langsamen oder die schnellen, die Dur- oder die Moll-Viecher? Reagiert der Wirt unterschiedlich je nach Geschlecht? Und natürlich: Wie kriegt man den Ohrwurm wieder los?

Ewige Körperplage

Um es kurz zu machen: Ja, er wird ewig leben. Er ist quasi der Holzmichl unter den Körperplagen, unausrottbar durch den medizinischen Fortschritt. Er wird zumindest so lange leben, wie uns Menschen eingängige Melodien irgendwie zu Ohren gelangen. Je simpler sie daherkommen, desto schwerer ist man vor ihnen gefeit. Was jeder instinktiv weiß, haben diverse Forscher wissenschaftlich bestätigt. Einfacher Melodieaufbau, wechselnde Tonhöhen wie beim Kinderlied, dazu paar überraschende Sprünge, alles eher schneller als langsamer intoniert –schon hat man den Drehrumbum im Kopf. Ganz wichtig natürlich auch: Wiederholung, Wiederholung, Wiederholung. „Live is life“ und so.

Auf diese Art haben sich die flachsten Stücke unter die Schädeldecken von Milliarden Menschen geschoben – oft gegen deren ausdrücklichen Willen. Wahrscheinlich könnte selbst der größte Fan der Zwölftonmusik nachts geweckt werden und auf Kommando „Looking for Freedom“ (David Hasselhoff) oder „Final Countdown“ (Europe) anstimmen. Womit Beispiele für das zentrale Dilemma der Ohrwurmproblematik benannt sind: Es gibt die Guten und die Bösen, wie überall. Wobei derselbe Ohrwurm nur für die einen ein guter ist und für die anderen ein böser.

Der amerikanische Ohrwurmexperte Ira Hyman hat die Dialektik in seinem Aufsatz „Going Gaga“ erklärt: Wer dauernd seinen Lieblingssong im Kopf hat, ist davon kaum genervt, wogegen der lästige Gast im Oberstübchen besonders auffällt. Die Hartnäckigkeit unerwünschter Eindringlinge hält er deshalb schlicht für einen Fall verzerrter Wahrnehmung. Warum ein Song immer und immer wieder zurückkehrt, weiß der Psychologe übrigens auch zu begründen. Es liegt am sogenannte Zeigarnik-Effekt, demzufolge man sich an unvollendete Gedanken und Aufgaben besser als an abgeschlossene erinnert. Da von einem Song in der Regel nur ein Teil im Kopf spukt, ist es halt wahrscheinlich, dass er irgendwann noch mal auftaucht. Pfiffig. Im Gegensatz zum Tipp von Dr. Oberschlau: „Hör Musik, die du magst, dann suchst du dir deine Ohrwürmer selbst aus.“

Als wenn man sich die immer aussuchen könnte in unserem Beschallungsland. Überall wird Liedgut ausgeschüttet, um gute Laune zu erzeugen, vor allem Kauflaune, selbstverständlich unter Berücksichtigung der Ohrwurmforschung. Laut Studie der Durham University lässt sich nämlich gut vorhersagen, ob sich eine Melodie in den Köpfen verfängt. Wenn der Ohrwurmcode entschlüsselt ist, wird er natürlich für Werbejingles und sonstigen Reklametrallala genutzt.

Nervpotenzial garantiert

Der Mensch wäre natürlich nicht der Mensch, wenn er nicht auch das Nervpotenzial des Ohrwurms bewusst einsetzen würde. Womit nicht die ÖPNV-Musikanten gemeint sind, die die Fahrgäste malträtieren, sondern dass in den USA Ohrwürmer bereits in den Dienst der Justiz gelangten. Vor Jahren bestrafte ein US-Richter Jugendliche, die ihre Nachbarn wiederholt mit Lärm belästigt hatten, mit stundenlangem Hören von nervigen Kinderliedern. Angeblich war es wirksam.

Von den Ohrwurmschöpfern sollte man Schuldgefühle freilich kaum erwarten. Zunächst sind natürlich alle froh über ihre Hits, denn die bringen Ruhm und Geld. Während manche Musiker sie auch live immer wieder gern singen (insbesondere One-Hit-Wonder), können andere ihre ollen Kamellen nicht mehr hören. Zu ihnen gehört der frühere Led-Zeppelin-Sänger Robert Plant, der keine Lust verspürt, den Altrocker zu geben, „der immer dieselben Nummern runterrasselt“. Wenn er in seinen heutigen Konzerten doch Zeppelin-Ohrwürmer spielt, dann gern verfremdet bis fast zur Unkenntlichkeit.

Was natürlich keine Option für die ist, die vom Nachspielen leben wie jene Tanz- und Hochzeitsband aus dem Eisfeld, die sich Ohrwurm („Unser Name ist Programm“) nennt. Die Acapella-Gruppe Wise Guys gab dem Ohrwurm eine Stimme: „Hallo, hallo, ich bin dein Ohrwurm / Ich bin zwar nicht grad virtuos, doch du wirst mich nie mehr los/ Ich bin ziemlich penetrant, sonst wär ich nicht so bekannt“.

Mit dem Text können alle Hörer etwas anfangen – auch gehörlose Menschen. Die junge deutsche Schauspielerin, Tänzerin und Hip-Hop-Tanztrainerin verlor mit knapp vier Jahren nach einem Autounfall ihr Gehör. Selbst wenn sie Songs nicht höre, könnten Reim und Rhythmus des Textes einen Ohrwurm in ihr auslösen, sagt sie.

Dauerschleife, tagelang

So artikuliert sich der Ohrwurm in den Köpfen tauber Menschen nur etwas anders, denn von Musik sind sie ja auch oft umgeben, selbst in Konzerten. Gerade die, sagt Gebärdendolmetscherin Laura Schwengber, böten viel mehr als nur Musik: Licht, Stimmung, Erlebnis, den Bass spüren, die Musiker tatsächlich sehen. Was an Melodie und Lyrics verloren gehe, könne durch Gebärdensprache ergänzt werden, so die Lausitzerin, die schon bei Peter Maffay als Gebärdendolmetscherin mit auf der Bühne stand.

Laura Schwengber hat durch ihre Tätigkeit natürlich selbst ständig Ohrwürmer im Kopf. „Ich höre ein und dasselbe Lied oft in Dauerschleife, mehrere Tage lang. Bis ich das nächste entdecke und eine Weile an diesem klebe.“ In ihrem beruflichen Tun fällt es ihr generell leichter, Ohrwürmer zu dolmetschen als komplizierte Musikstücke. „Wenn ich das Lied schon vorher kenne, hilft mir das in der Vorbereitung enorm, weil das Lernen von Texten und Abläufen entfällt. Blöd ist nur, wenn ich das Lied kenne – und eigentlich doof finde. Dann muss ich es gedanklich erst auf null setzen und es dann nochmal neu kennenlernen.“

Ansonsten kann sie nur den Rat beherzigen, den Forscher allen Menschen geben, die einen Ohrwurm wieder aus dem Kopf kriegen wollen. Was hilft, sagen sie, ist leichtes Sudoku, bei dem der Kopf gefordert wird und vom Song abgelenkt.

Freier Autor

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