Paradiesische Früchte aus dem Garten Eden? Auf den ersten Blick wirkt die verwinkelte Siedlungsanlage mit den kleinen Einfamilienhäuschen wie eine Schrebergartenanlage, nur in groß. Hier soll also vor mehr als 125 Jahren die vegetarische Bewegung in Norddeutschland ihren Anfang genommen haben? „Sind wir wirklich überzeugte Vegetarier, so wissen wir, dass die vegetarische Kultur sehr viel einbringt, nicht nur Gesundheit und frohen Mut, nein, auch Wohlstand, Geld und Gut“, schrieb der Vorstand der Kolonie Eden in einem Werbebrief 1894. Das waren fromme Wünsche. Heute ist man in der Kolonie Eden etwas nüchterner: „Stets hat sich Eden in einem Spannungsfeld zwischen Idealismus und wirtschaftlicher Rentabilität bewahren müssen“, heißt es in einem Jahresbericht.
Rainer Gödde wurde in der Kolonie Eden geboren und lebt heute noch hier. „Es waren 18 Menschen, hauptsächlich aus Berlin, die damals die Kolonie gründeten“, berichtet er. Der Vorsitzende war der Lebensreformer Bruno Wilhelmi. Den Namen Eden wählten die Gründer bewusst als Anspielung auf den biblischen Garten Eden. Die Illusion eines großstadtfernen, natürlichen Lebens lag in der Luft. Eine Genossenschaft sollte allen Mitgliedern ein Auskommen ermöglichen.
1893 war Berlin gerade dabei, zu einer riesigen Industriemetropole zu wachsen. Da kam ein alternatives Lebensmodell, das nicht nur gesunde Ernährung umfasste, sondern auch neue, selbstbestimmte Formen des Arbeitens, gerade recht.
Überschaubare Gründerszene
Den Boden bereitete, im doppelten Sinne, in den 1860er Jahren ein gewisser Eduard Baltzer, einer der Gründerväter des Vegetarismus in Deutschland. Er gründete 1867 den Verein für natürliche Lebensweise. So entstanden erste vegetarische Kochbücher, die in ganz Deutschland vertrieben wurden. Ein Renner war das „Vegetarische Kochbuch“ von Anna Springer, das bis 1914 in sechs Auflagen im Berliner Verlag Lebensreform erschien.
Die Gründerszene von Eden war überschaubar: Es waren einige wenige Großstadtflüchtlinge aus dem bürgerlichen Milieu, darunter Ärzte, Rechtsanwälte und Publizisten. Man traf sich in der Speisestätte „Ceres“ in Moabit, dem ersten vegetarischen Restaurant Berlins und plante das „Projekt“.
Laut Gödde gab der Kaufpreis des Landes bei Oranienburg den Ausschlag für die Wahl des Standortes – das Land wurde sehr günstig angeboten. Das Stammkapital der Gemeinschaft mit beschränkter Haftung betrug 100 000 Mark. Die ersten Siedler waren fleißig: Bereits im Jahr 1900 zählte man in Eden rund 15 000 Obstbäume und 50 000 Beerensträucher.
Neben dem Obstanbau widmete man sich dem Bau einer Schule, eines Kindergartens, einer Entbindungsstätte, einer Bücherei und eines Speisehauses – natürlich mit vegetarischer Kost. Doch schon bald musste das Paradies-Start-up erkennen, dass die vegetarische Kolonie nicht den gewünschten Widerhall in der Großstadt Berlin fand. Es gab nicht genug Vegetarier. Und so öffnete man 1901 das Gemeinwesen – vielleicht etwas widerwillig – auch für Fleisch essende Menschen. Der Name wurde geändert von „Vegetarische Obstbaukolonie Eden“ in „Obstbau-Siedlung Eden“.
Anfang des 20. Jahrhunderts gab es einen Gründungsboom von Vegetariervereinen, mehr als zwei Dutzend Vereine in Deutschland hatten mehr als 5000 Mitglieder. Im ersten Weltkrieg warb sogar der Kaiser für die vegetarische Ernährung – allerdings wohl eher, weil Fleisch in Kriegstagen Mangelware war.
In der Weimarer Republik hatten wieder die Fleischkonsumenten Rückenwind – pflanzliche Ernährung wurde jetzt mit Armut gleichgesetzt. In den 1930er Jahren war die Kolonie Eden voll ausgelastet. Etwa 1000 Menschen lebten dort, davon rund 450 Genossen, in etwa so viel wie heute. Stolz war man auf die geringe Kindersterblichkeit – sie lag bei nur 3,8 Prozent, in Deutschland bei rund 20 Prozent.
Während sich in der NS-Zeit viele Vegetariervereine auflösten, weil sie fürchteten, gleichgeschaltet zu werden, verhielten sich die Eden-Bewohner opportunistisch. Man bemühte sich, das Gemeinschaftsgefühl über politische Differenzen zu stellen, dennoch wurden jüdische Mitglieder ausgeschlossen.
Eden rühmt sich, Erfinder der vegetarischen Pasten zu sein, die schon früh in verschiedenen Geschmacksrichtungen als Brotaufstrich produziert wurden. Daneben gab es das berühmte Eden-Sauerkraut und Margarine – die erste rein pflanzliche Margarine in Deutschland, die unter dem Begriff „Eden Reformbutter“ auf den Markt kam.
Ein Konsum-Geschäft wurde auf dem Koloniegelände eingerichtet, in dem die Siedler alles kaufen konnten, was sie brauchten, aber nicht selbst herstellen konnten.
1972 wurde der Betrieb durch die DDR enteignet und in die VEB Gemüseverarbeitung Beelitz eingegliedert. Säfte und Marmeladen wurden weiterhin produziert, aber keine vegetarischen Brotaufstriche mehr. Nach dem Mauerfall kam es dann, so erzählt Gödde, durch die Treuhand zur endgültigen Schließung der Mosterei. Der Betrieb ging als GmbH in die Insolvenz, da er mit seinem planwirtschaftlich heruntergewirtschaftetem Maschinenpark nicht mehr wettbewerbsfähig war.
Musikschule und Museum
„Nach der Zeit der DDR gab es viele Bestrebungen, die ursprünglichen Edener Ziele der Boden-, Wirtschafts- und Lebensreform zeitgemäß wieder zu beleben“, verlautet es von Eden. Arbeitsgruppen wie die Kochgruppe, die sich Anfang der 1990er Jahre bildeten, sind auch heute noch aktiv.
Aus der GmbH ist nun eine Genossenschaft geworden, und die angejahrten Fabrikgebäude im Zentrum der Kolonie werden als Musikschule und als Museum genutzt. Im Presshaus der ehemaligen Mosterei gibt es ein Café, in dem sich die Senioren der Siedlung treffen.
In der verstaubten Werkstatt daneben ist die Zeit stehengeblieben – von der Wand blicken noch die Porträts von Honecker und Genossen. Während die meisten Wohnhäuser der Genossenschaft mittlerweile renoviert wurden, darbt die Fabrik, die leer steht, in alten grau-braunen DDR-Tönen. Es gibt also auch in Zukunft noch einiges zu tun in der Kolonie. Ans Aufgeben denkt jedenfalls keiner.
Für Besucher
In der Kolonie Eden können Interessierte das Eden-Café besuchen, dort werden auch Kochbücher mit vegetarischen Rezepten verkauft. Der Kulturverein Alte Mosterei betreibt eine Ausstellung und organisiert Traditionsfeste, wo sich – wie vor 100 Jahren – Edener mit Brotkorb und Obst auf dem Festplatz treffen.
Mehr unter www.eden-eg.de
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