Weihnachten

Der Star jeder Weihnacht

Vor 600 Jahren stand vermutlich in Freiburg die erste geschmückte Tanne. Bäckerknechte hatten sie mit Äpfeln, Nüssen und Lebkuchen behängt. Spätestens im 19. Jahrhundert setzt sich der Christbaum als Brauch durch. Und darf seitdem bei keinem Weihnachtsfest fehlen.

Von 
Thomas Olivier
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Der alte Riese strahlt. Eine stattliche Nordmann-Tanne, ein Nordlicht, sturmerprobt, glitzernd im Glanz von 30 Lichterketten und 4000 energiesparenden LEDs. Mehr als ein halbes Jahrhundert hatte sich der grüne Hüne auf seinen großen Auftritt im Berliner Kanzleramt vorbereitet, Klimawandel, Hitze und Dürre getrotzt, ehe er nahe der Ostsee mit Krachen und Knacken zur Erde fiel.

Der 16 Meter messende Prachtbursche für Angela Merkel stammt vom Gut Dobersdorf in der ostholsteinischen Schweiz. Auf dem barocken Anwesen unweit des Baltischen Meeres bewirtschaft Christian von Burgsdorff, 54, in dritter Generation einen der größten Weihnachtsbaum-Betriebe Norddeutschlands. Auf 600 Hektar baut der Herr der Bäume jährlich 800 000 Nordmanntannen, Nobilis und Rotfichten an. Das Weihnachts-Geschäft brummt: „Wir beladen hier 40 Lkw täglich!“

Der grüne Star auf dem Ehrenhof des Kanzleramts, eine Spende des Gutes und des Schleswig-Holsteinischen Waldbesitzerverbandes, ist nicht allein: Tausende leuchtender Teutonen-Tannen breiten derzeit in allen deutschen Städten ihre Zweige aus. Vor dem Brandenburger Tor in Berlin, vor dem Frankfurter Römer, vor den Rathäusern in Mannheim und Ludwigshafen. Überall leuchten sie um die Wette.

Ein Prachtstück überragt sie alle: Alljährlich wächst in Dortmund einer der größten Weihnachtsbäume der Welt in den Himmel. Gerüstbauer ziehen auf dem Hansa-Platz ein 45 Meter hohes Metallskelett hoch, das danach mit einem Rotfichten-Mantel aus 1700 Sauerländer Bäumen und 48 000 LED-Lämpchen bestückt wird.

Feiern unter freiem Himmel

Der Weg der Tanne vom Waldbewohner zum traditionellen „Weihnachtsbaum für alle“ beginnt kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs. Traktate und bürgerliche Familienzeitschriften preisen in pathetischen Reportagen und Gedichten die „treue deutsche Weihnacht“ und das „Fest des Friedens“. Auf unzähligen weihnachtlichen Stimmungsbildern strahlt der geschmückte Christbaum mit sentimentalem Glanz. Ein Idealbild, von dem eine ganze Bevölkerungsschicht nur träumen kann. In kaum einem Arbeiterhaushalt gehört der Baum zum selbstverständlichen Requisit der häuslichen Feier. Wochenlang müssen die Familien sparen, um ihren Kindern diese Weihnachtsfreude bereiten zu können. Das Lied „Arbeiter-Stille-Nacht“ beschreibt die Not und steigt zum Gassenhauer auf: „Stille Nacht, traurige Nacht, ringsherum Lichterpracht! In der Hütte nur Elend und Not, kalt und öde, kein Licht und kein Brot...!“

1919 ruft der Reichstag dazu auf, in allen Städten einen „Weihnachtsbaum für alle“ aufzustellen. Erstmals flammen auf öffentlichen Plätzen elektrisch beleuchtete Weihnachtsbäume auf. Als Zeichen der Nächstenliebe für all jene, die das festliche Bild in ihren Familien nicht entfalten können. Das Licht der Bäume soll vor allem jene Kinder und Witwen erreichen, deren Vater und Ehemann auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs geblieben sind. Schon bald kommen Weihnachtsfeiern unter freiem Himmel in Mode. Viele Menschen versammeln sich vor den öffentlichen Christbäumen und lauschen weihnachtlichen Gesängen und Posaunenchören.

Als „Heiligtum der Familie“ propagieren nach 1933 die Nazis den „heidnisch-germanischen Weihnachtsbaum“. Im ganzen Reich, in jedem Ort, zentral und öffentlich, seien „Julbäume“ mit Lichtern zu schmücken, von dem sich die Familien „ihr Licht mit nach Hause nehmen“ können. Jedes Jahr leuchten vor dem Reichpropagandaministerium und anderswo riesige Tannen. Nicht selten inszenieren die braunen Machthaber ihre Propaganda-Aktivitäten direkt vor den „kollektiven Lichterbäumen“: Hier werden die Bedürftigen beschert. Hitlerjungen sammeln Spenden für das „Winterhilfswerk des Deutschen Volkes“. Einen „Weihnachtsbaum für alle“ einzurichten sei doch ein „schöner Brauch“, lobt das „Heimatwerk Sachsen“.

Der Brauch, die dunkle Winterzeit mit immergrünen Pflanzen aufzuhellen, war nichts Neues. Schon in frühesten Kulturen symbolisierte der Baum das Leben. Haine bargen heilige Orte. Die Römer schmückten ihre Villen mit Lorbeerzweigen. Die Germanen verehrten den Baum als Göttersitz. Der Baum wuchs zur Gerichtslinde. Das Mysterium um die Macht und Magie des Immergrüns beherrschte das gesamte Mittelalter. Heidnische Zauberbesen aus Reisig baumelten in den Rauhnächten um Weihnachten von den Stubendecken. Ganze Büsche und Bäume schleppten die Menschen in ihre Häuser, um die Schutzgeister gnädig zu stimmen: Misteln und Stechpalmen, Tannen, Buchsbäume und Wacholder.

Wann unsere Vorfahren entdeckten, dass bunter Schmuck die Zweige viel flotter machen kann, ist weitgehend unbekannt. Bis zum 16. Jahrhundert weisen nur spärliche Notizen, vergilbte Schmähschriften und Verbote in Inkunabeln auf die Existenz von Christbäumen hin. Vieles spricht dafür, dass der Christbaum heutiger Prägung seine Premiere am Oberrhein erlebte. Demnach war der erste geschmückte Weihnachtsbaum vermutlich ein Breisgauer: 1419 sollen Freiburger Bäcker im dortigen Heilig-Geist-Spital einen Baum mit Lebkuchen, Nüssen, Äpfeln und Flittergold behängt haben. Doch die Sache ist verzwickt: So reklamierte 2010 das lettische Riga das 500. Jubiläum des ersten geschmückten Baums für sich. Anderen Quellen zufolge wurde schon 1539 in Straßburg mit Weihnachtsbäumen gehandelt. Wenige Jahrzehnte später tauchte der Brauch auch im Norden auf: Eine Zunftchronik von 1570 verrät, dass Bremer Handwerker in ihrem Zunfthaus ein mit Nüssen, Äpfeln, Brezeln und Papierblumen bestecktes Dattelbäumchen aufgestellt hatten, das zu Neujahr Kinder „abschütteln“ durften.

Gegen die „nieuwe Unsitte“ hagelt es Kritik: „Eyn gar teuflisch Brauch!“ wettert der Elsässer Stadtsyndikus Sebastian Brant (1457 bis 1521). „Eine Lappalie!“ geißelt der Straßburger Münsterprediger Dannhauer die mit Puppen und Zucker geschmückten Tannen. 1693 untersagt Preußen das „Aufrichten von Bäumen mit Kränzen, um welche das junge Volk tanzet und viel Unfug dabey treibet“.

Lichterglanz für den Adel

An all diesen Bäumen brannten noch keine Lichter. Es geschah wohl in der ersten Hälfte 18. Jahrhunderts, dass jemand erstmals Kerzen an den Baum steckte. So schwelgt 1708 Liselotte von der Pfalz in ihren Kindheitserinnerungen von den Weihnachtsfesten am Hof von Hannover: „Auf die Tische stellt man Buchsbäume und befestigt an jedem Zweig ein Kerzchen. Das sieht allerliebst aus.“ Doch dieser Lichterglanz war nur dem Adel vorbehalten. Erst mit der Erfindung des Stearins (1818) und des Paraffins (1833) eroberte die Kerze die Stuben breiter Bevölkerungsschichten. Zu der Zeit hatte Goethe den Weihnachtsbaum längst in seinen epochalen „Werther“ (1774) aufgenommen. Sein Bruder im Genius, Schiller, forderte von seiner Braut Lotte von Lengsfeld, sie werde ihm „hoffentlich einen grünen Baum im Zimmer aufrichten!“

Im 19. Jahrhundert rückt Weihnachten zum zentralen deutschen Familienfest auf. Ein romantischer, schwärmerischer, zuweilen sentimentaler Lebensstil spiegelt sich in den Christbäumen des Biedermeiers wider. Feen und Zauberer, Drachen und Zwerge hängen an den Zweigen, ebenso Spielzeugtuten und kleine Trommeln, Pfefferkuchen und Nürnberger Rauschgoldengel. Das Bäumchen thront auf Tischen, eine Baumspitze gibt es noch nicht. Der Zeitgeist schmückt stets mit. Mit einer fantastischen Vielfalt von Zierobjekten erobern die Thüringer Glasbläser in den optimistischen Gründerjahren die Weihnachtswelt: Vögel und Früchte, Wagen und Sterne, bunte Häuschen, Trompeten und Lampions aus Glas schimmern aus den Zweigen.

Ausgerechnet der Krieg gegen die Franzosen 1870/71 forciert die Produktion von Weihnachtsbäumen. Seine Majestät Wilhelm I. feiert die Heilige Nacht in Versailles unter dem „Kaiserbaum“ – der Siegeszug des Weihnachtsbaums ist weltweit nicht mehr aufzuhalten: Im 19. Jahrhundert diniert Queen Victoria erstmals vor einem geschmückten Nadelholz. Ihr Ehemann, Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, hatte die deutsche Tradition im Palast hoffähig gemacht. 1891 leuchtet erstmals ein „öffentlicher“ Christbaum vor dem Weißen Haus des US-Präsidenten.

Nostalgie pur

Im Ersten und Zweiten Weltkrieg gerät die Tanne wieder in den Sog der Politik. In Zeppelinen fliegt Hindenburg durch das Geäst. Pickelhauben, Gewehre, sogar Schokobomben baumeln im Grün. Während des Dritten Reichs schleichen sich Hakenkreuz, Sonnenrad und Rune in die Bäume.

Wo nach dem Krieg nostalgischer Schmuck die Bombennächte überstanden hat, wird er wieder hervorgekramt. Der Weihnachtsbaum soll so aussehen wie die Welt, als sie noch nicht zerstört war – harmonisch, bunt, märchenhaft.

Ende der 1960er Jahre gerät die Tanne ins Wanken. Aufmüpfige Studenten, in den Adenauer-Jahren noch autoritätsgläubig und angepasst, kritisieren die „geheuchelten Gefühle“. Sie fordern die Abschaffung des Weihnachtsbaums. Doch der Star jeder Weihnacht, aus voller Kehle besungen, bleibt standhaft: Geschätzte 29 Millionen Christbäume ziehen heutzutage vom Wald in die Städte und in die warmen Stuben. Ob auf dem Londoner Trafalgar Square, vor dem Rockefeller Center in New York oder vor dem Petersdom in Rom – die grünen, leuchtenden Inseln sind weltweit aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken.

Doch kein Ort kann es mit einer kleinen bayerischen Gemeinde aufnehmen: In Mittelsinn, Deutschlands einzigem Christbaumdorf, säumen Hunderte Weihnachtsbäume die Straßen. Unter den 800 Einwohnern befinden sich 30 familiengeführte Christbaumbetriebe. Ulrich Sachs, Mittelsinns Ober-Baumbauer frohlockt: „Wir haben den Weihnachtsbaum-Virus!“

Ein Millionen-Umsatz

  • Die Weihnachtsbaumproduktion in Deutschland sichert etwa 8200 Dauer- und 7500 Saisonarbeitsplätze. Jährlicher Umsatz der Branche: knapp 700 Millionen Euro. Anbaufläche insgesamt: 50 000 Hektar.
  • Zwei Drittel der Bäume werden in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein produziert.
  • Zwölf Prozent der Tannen sind künstlich. Elf Prozent der Deutschen bestellten 2018 ihren Baum im Internet.
  • Fortschritte gibt es bei der Weihnachsbaumentsorgung: In Berlin liefern sie in Biomasse-Kraftwerken Strom und Fernwärme. In Leipzig werden sie kompostiert, in München teilweise in Spannplatten verwendet. Nicht verkaufte Restbestände werden immer häufiger als Tierfutter in Zoos abgegeben.

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