Interessieren Sie sich für Fußball, haben Sie einen Lieblingsverein?
Nikita Teryoshin: Ich bin Borussia-Dortmund-Fan. Seit ich in Berlin lebe, komme ich noch seltener ins Stadion als zuvor, aber selbstverständlich fiebere ich jeden Spieltag mit. Am schönsten ist es, wenn ich den Spaß am Fußball mit der Arbeit verbinden kann, also Fotos direkt im Signal Iduna Park während eines Derbys machen kann und es Kaffee und Kuchen in der Pause im Pressezentrum gibt.
So wie bei „Inside Hoffenheim“, einer Fotoserie über den Bundesligisten für das Fußballmagazin „11 Freunde“. Sie zeigen Ex-Trainer Julian Nagelsmann oder Nationalspieler Niklas Süle völlig ungeschminkt. Wie entstehen solche Fotos?
Teryoshin: Die Fotoserie war ein Glücksfall. Ich habe mit dem legendären Sportjournalisten Christoph Biermann zusammengearbeitet, der exzellente Kontakte zur TSG Hoffenheim hatte. Zwei Tage lang durften wir im Trainingszentrum in Zuzenhausen den damaligen Trainer Julian Nagelsmann und seine Profis observieren. Wahrscheinlich haben wir alle genervt. Die Fotos sind zwischen den Trainingseinheiten entstanden. Ich musste viel improvisieren. Ein Bild zeigt Julian Nagelsmann, Niklas Süle und Sandro Wagner. Es war damals extrem kalt und Wagner kam gerade aus der Dusche. Alle drei waren schlecht gelaunt und hatten null Bock auf dieses Shooting. Dieses Foto entstand dann eher zufällig zwischendurch: Man sieht drei mies gelaunte Fußballer in der Gegend herumstehen. Aber die Intention der Geschichte war, Fußballer anders darzustellen, als man es von der „Sport Bild“ oder vom „Kicker Sportmagazin“ kennt. Ich denke, das ist uns gelungen!
„Die Kraft eines Porträts liegt in dem Bruchteil der Sekunde, in dem man etwas vom Leben der fotografierten Person versteht. Ein Porträt nimmt man nicht alleine auf. Der andere schenkt es einem.“ Teilen Sie dieses Zitat des Fotografen Sebastião Salgado?
Teryoshin: Ich glaube schon, dass man mit einer Fotografie, wenn nicht gleich die Seele der abgebildeten Person stiehlt, trotzdem einen kleinen Teil mitnimmt. Also könnte es von Vorteil sein, wenn die Person diesen Teil einem freiwillig schenkt. Es ist auf jeden Fall schön formuliert. Ich komme selbst aus der Straßenfotografie und bin glücklich, wenn ein Bild einen Augenblick festhält, der eine besondere Situation abbildet, mit der man oftmals gar nicht gerechnet hat. Da eine Fotografie darüber hinaus zweidimensional ist, ergeben sich bestimmte visuelle Zusammenhänge und Überlagerungen, die man im echten Leben nicht unbedingt bemerkt.
Vor 33 Jahren wurden Sie in Leningrad geboren, heute leben Sie in Berlin. Wie kamen Sie nach Deutschland und wie heimisch fühlen Sie sich heute?
Teryoshin: Nach Deutschland bin ich im Alter von 13 Jahren gekommen und bin in Dortmund zur Schule gegangen. In Essen und Dortmund habe ich Fotografie studiert. Das war das einzige Fach, das ich nicht in der Schule hatte. Die Schulzeit hat mir nicht gerade viel Spaß bereitet, nach dem Abitur war ich etwas desillusioniert. Ein normaler Bürojob kam für mich nicht in Frage. Obwohl ich bis dahin kaum fotografiert hatte, wollte ich Fotograf werden. Naiv wie ich war, glaubte ich, so die Welt zu bereisen. Mein Vater, selbst Maler und Bühnenbildner, hat mich zum Glück in der Wahl eines kreativen Berufes bestärkt und dann ist auch der Rest der Familie nachgezogen. Seit zweieinhalb Jahren lebe ich in Berlin und fühle mich dort wohl. In Berlin gilt man ja als Urberliner, wenn man am Stück länger als ein Jahr dort gelebt hat, habe ich mir sagen lassen. Ohnehin bin ich für meine Projekte viel unterwegs. Wenn ich wieder zu Hause bin, genieße ich es, mal nichts zu tun, Gitarre zu spielen und mich von den Strapazen zu erholen, und kriege von der Stadt selbst gar nicht so viel mit.
Ihr Motto lautet: „Straße, Dokumentation und alltäglicher Horror“. Sie zeigen zum Beispiel Hochzeitspaare mit unkenntlich gemachten Gesichtern, vergleichen die Hackordnung im Hühnerstall mit der menschlichen Gesellschaft, oder machen skurrile Schnappschüsse vom Goldstrand in Bulgarien. Wie entstehen Ihre Ideen?
Teryoshin: Das Motto „Street, Documentary & Everyday Horror“ stammt aus der Dortmunder Zeit, als ich in der Nordstadt gewohnt habe. Dort lebte ich in einer nicht so feinen Gegend am Puls der Zeit. Meine Hood war unperfekt und bodenständig. So entstand die Idee, Fotos vom „Alltagshorror“ zu schießen. Diese sind unter anderem in meiner Serie „Space Time Discountinuum“ zu sehen. Heute entstehen meine Themenideen auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Seit 2016 fotografiere ich regelmäßig auf internationalen Waffenmessen. Durch ein Stipendium von der Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst konnte ich Waffenmessen in zwölf Ländern fotografieren. Diese Fotos sind ganz bewusst nicht auf meiner Website, weil ich noch nicht ganz fertig bin und nicht will, dass die Leute sehen, welchen Schabernack ich mir bei Messen mit meinen Fotos erlaube. Meine Fotos sind ganz anders, als sich die Waffenlobby das vorstellt. (lacht).
Und die boxenden Großmütter in Johannesburg?
Teryoshin: Die Fotoserie von den boxenden Omas entstand zufällig. Ich verbrachte ein paar Tage beruflich in Südafrika. Als ich mir über eine Buchungswebsite ein Apartment suchte, wurde mir als Aktivität in der Umgebung ein Boxtraining mit Großmüttern empfohlen. Das klang gut. Also habe ich mich angemeldet und angekündigt, dass ich das Training fotografieren möchte. Vor Ort stellte sich heraus, dass sich viele Fernsehteams aus der ganzen Welt für das Boxtraining mit den Omas interessierten. Aber ich vertraute darauf, dass meine Fotos ganz anders aussehen werden. Für mich steht der Spaß im Vordergrund. Nur Fotos von traurigen, weinenden oder depressiven Menschen könnte ich nicht machen. Mein Metier sind lustige und skurrile Situationen, da geht mein Fotografenherz auf.
Von der „Aktion Mensch“ bis zum „Zeit Magazin“ fotografieren Sie für sehr unterschiedliche Medien. Stimmt es, wie Helmut Newton sagt, dass man als Fotograf eine „sehr teure Nutte“ ist?
Teryoshin: (Lacht) Zum Glück glaube ich, frei entscheiden zu können, was ich fotografiere und was nicht. Ich habe schon gut dotierte Aufträge für alkoholische Getränke oder Tabakprodukte abgesagt, weil ich dabei kein gutes Gefühl gehabt hätte. Ich verstehe mich als journalistischen Fotografen, der sich seine Themen selbst aussucht. Während meines Studiums habe ich bei einem Internetshop für Kleidung gejobbt. Da kam ich mir wirklich blöd vor. Dort sollte ich ein Kleidungsstück mit Pelz fotografieren, was mir sehr zuwider war. Aber damals brauchte ich das Geld. Umso glücklicher bin ich, heute nicht mehr alles annehmen zu müssen, sondern jederzeit absagen zu können.
Für die Fotoserie „Game of Chairs“ haben Sie Bundesparteitage fotografiert und die mediale Inszenierung solcher Veranstaltungen demaskiert. Haben Sie beim Fotografieren immer schon einen Masterplan im Kopf?
Teryoshin: Zum ersten Parteitag im Dezember 2016 bin ich spontan gegangen. Völlig planlos bin ich mit meinem Fotoapparat losgezogen. Mit meiner bunten Mütze auf dem Kopf fühlte ich mich als Fremdkörper auf dem Parteitag und an meine Schulzeit auf dem Gymnasium erinnert, als ich zum Beispiel in den ersten vier Jahren nie auf Geburtstage von Klassenkameraden eingeladen wurde. Das alles hat mich motiviert, genau hinzusehen und Bilder zu machen, die diese mediale Inszenierung enttarnen. Auf Parteitagen sehen die meisten Menschen in ihren Anzügen und glatten Frisuren zum Verwechseln ähnlich aus. Mein Lieblingsbild handelt von einer fast leeren Zuschauertribüne mit zwei Schildern „Gäste“ und „Besondere Gäste“, oben sieht man noch die Buchstaben D und E. Da fängt man automatisch an zu vergleichen, was an den Gästen links so besonders ist. Das war eine unglaubliche Erfahrung, die ich mit meinen Fotos dokumentieren konnte. Die Arbeit wurde im Netz kontrovers diskutiert und kam schließlich bis ins Finale beim Nannen-Preis. Wenige Monate später durfte ich dann den Wahlkampf im gleichen Stil für den „Spiegel“ begleiten.
Viele Fotografen suchen nach dem schönen, perfekten Moment. Sie suchen eher das Ungewöhnliche. Brechen Sie bewusst mit einer inszenierten Fotoästhetik?
Teryoshin: Ich strebe nach einer Reinszenierung der inszenierten Dinge. Vielleicht suche ich mit meinen Fotos nach dem unperfekten Moment. Das Unperfekte ist für mich perfekt, wenn das auch für die Fotografierten nicht immer der günstigste Moment ist. Ich liebe es, unperfekte Momente zu zeigen und mit der Inszenierung zu brechen. Denn sonst hätten wir nur die immergleichen, aalglatten Fotos von inszenierten Personen oder Momenten. Mir ist es wichtig, dass ein Freiraum entsteht, in dem sich der Betrachter Gedanken macht und die jeweiligen Systeme hinterfragt. Oder zumindest einen Einblick bekommt, wie etwas funktioniert. Das ist in meinen Augen die Aufgabe von Fotojournalismus.
Wen fotografieren Sie am liebsten?
Teryoshin: Ich bevorzuge, mit wenigen Ausnahmen, Menschen und Motive, die nicht so prominent sind. Bei Prominenten habe ich als Fotograf meist nur ein enges Zeitfenster zur Verfügung. Promis haben oft keine Lust darauf, fotografiert zu werden, und machen nur deshalb mit, um ihre neue Veröffentlichung zu bewerben, oder weil ihr Kontrakt es so vorsieht. Da macht es mit mehr Spaß „Medienamateure“ zu fotografieren wie gerade für die „Zeit“, Obdachlose in Berlin. Nicht unbedingt hilflos und depressiv, sondern in erster Linie als spannende Persönlichkeiten. Einen der Obdachlosen, der im Rollstuhl sitzt, kannte ich schon vom Sehen von der Berliner S-Bahn. Als ich ihn zufällig am Ostbahnhof getroffen habe, hatte er sofort Lust, dass ich Fotos von ihm mache und wollte dafür nicht einmal Geld. Er hat einen Wheelie gemacht, das heißt, er ist mit seinem Rollstuhl auf dem Hinterrad gefahren. Dabei sind tolle Bilder entstanden. Ich denke, es wichtig, Außenseiter oder Randgruppen der Gesellschaft zu zeigen anstatt wegzugucken.
Wie wichtig sind Onlinedienste wie Instagram oder Facebook für Ihre fotografische Arbeit?
Teryoshin: Für mich ist Instagram sehr wichtig geworden über die Jahre. Ich veröffentliche dort recht häufig meine aktuellen Arbeiten und Einblicke in meinen Arbeitsalltag. Auf diesem Weg habe ich Aufträge von „GQ“ aus New York oder „AFAR“, einem Reise-Magazin aus San Francisco bekommen. Ich wäre nie im Traum darauf gekommen, mich dort zu bewerben, und wüsste auch nicht wie. Es ist super, wenn die Auftraggeber mich dank Instagram kontaktieren. Aber es sind nicht nur die Jobs. Ich merke, wie die Bilder über Ländergrenzen und Sprachbarrieren hinweg Völkerverständigung betreiben und kulturellen Austausch ankurbeln, der damit einhergeht. Es ist total genial, Fotografierende aus allen möglichen Ecken der Welt kennenzulernen und ihre Entwicklung zu verfolgen. Im besten Fall trifft man sich dann auch noch persönlich, wie dieses Jahr in Moskau, Lima und Bangkok, um dann auf eine Fototour zu gehen und die Städte von Einheimischen gezeigt zu bekommen.
Nikita Teryoshin
Nikita Teryoshin wurde am 12. März 1986 in Leningrad geboren.
Mit 13 Jahren kam er nach Dortmund, nach dem Abitur studierte er dort und in Essen Fotografie. Heute lebt er in Berlin.
Teryoshin fotografiert für Medien wie „SZ Magazin“, „11 Freunde“, „Spiegel“ oder „Die Zeit“.
Mit der Fotoserie „Nothing Personal“, die den globalen Waffenhandel zeigt, bekam er 2018 ein Stipendium von der Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst.
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