Biblischer Beruf in Not

Sie waren die ersten, die von der Geburt des Christkindes erfuhren. Heute, mehr als 2000 Jahre später, hätten die Engel Schwierigkeiten, Gehör zu finden: Der Beruf des Hirten stirbt aus.

Von 
Thomas Olivier
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Hat ihren Beruf als Wanderschäferin aufgegeben: Ruth Häckh, 57, von der Schwäbischen Alb. © Sabine Braun

Ein Novembermorgen vor den Toren Berlins im Märkisch-Oderland. Kaum ist die Mondsichel verschwunden, kratzen die ersten Schafe unter der knirschenden Raureifschicht nach Gräsern. Ein archaisches Bild, wie aus biblischer Erzählung: Gestützt auf seinen Hirtenstock und umtänzelt von einem altdeutschen Schäferhund, begrüßt Knut Kucznik die ersten Sonnenstrahlen. Ein Mann von mächtiger Gestalt in robuster Lederhose und derber Jacke, die sich über den Bauch spannt. Mit prüfendem Blick beobachtet Kucznik seine „Mädels“ beim Fressen. Leise rupfend und mampfend schiebt sich die weiße Front Büschel für Büschel vorwärts. Kucznik genießt diese vertrauten Geräusche, die Zuneigung und Dankbarkeit seiner Tiere. „Nichts ist schöner, als die Freiheit, über frisch verschneite Wiesen zu ziehen.“ Sein Atem legt sich wie ein Wattebausch in die kalte Morgenluft: „Das ist Glück pur!“

Zwischen Frost und Frust

Die Idylle trügt. Knut Kucznik, ein freundlicher, engagierter Naturbursche von 53 Jahren, ist einer von nur noch 989 hauptberuflichen Schäfern in Deutschland. Unter seinem grünen Filzhut lugt ein geflochtener Zopf hervor. Der „Hirte im Herzen“ liebt seinen Beruf und seine Tiere. Kuczniks 600 Mutterschafe sind stets draußen an der frischen Luft. Jeden Tag, von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang, Sommer wie Winter, bei Wind und Wetter, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr, oft bis zu 15 Stunden lang – auch an Weihnachten. „Ich kenne hier jeden Baum beim Namen!“ Als Schäfer führt er ein selbstbestimmtes, aber hartes Leben zwischen Frost und Frust, Bürokratie, Geldsorgen und glücklichen Stunden in der Natur. Urlaub? Feiertag? „Denken Sie nicht, das ist hier romantisch!“

Um 70 Prozent ist die Zahl der Betriebe in den letzten 20 Jahren zurückgegangen. Das mache ihn „verrückt im Kopf“, sagt Kucznik. Weniger als 600 000 Schafe blöken noch auf deutschen Wiesen. Vielleicht noch ein paar Dutzend Wanderschäfer – wenn überhaupt – ziehen mit ihren Herden wie vor Jahrhunderten über deutsche Weiden. Genaue aktuelle Zahlen existieren nicht. Die Nomaden der Neuzeit sind eine aussterbende Spezies. Zu ihnen gehört auch Knut Kucznik: Von September bis März ist er „einer der letzten Wanderschäfer Deutschlands“. Aber: „Bald sind alle tot! Und alles ist ein Mythos!“

Zu viele Hindernisse

Die wenigen Kollegen, die noch zwischen Nord- und Bodensee umherziehen, sind Idealisten, Schäfer aus Leidenschaft, die bei allen Klagen mit Herzblut bei der Sache sind. Das Geschäft lohne sich kaum noch, sagen sie. Weil der Beruf unrentabel geworden, das Land zersiedelt ist. Weil es zu viele Hindernisse für die Herden gibt, Industrieanlagen, Straßen- und Siedlungsbau die Grünflächen fressen.

Jahrzehntelang war Ruth Häckh, 57, als Wanderschäferin im Sommer über die raue Schwäbische Alb und im Winter zurück zum milden Bodensee gezogen. So hat es schon der Vater gemacht, der Großvater und alle Männer der Generationen zuvor. Hunderte Kilometer zog die Hirtin regelmäßig durch Wacholder-Haine und von Weide zu Weide. Nie fühlte sie sich draußen bei der Herde einsam. Hier war sie zuhause, im Duft von wildem Majoran und Thymian. „Ein schöner Tag in der Natur entschädigte für alle Entbehrungen.“ Nicht selten war zur Heiligen Nacht Lammzeit. Kein Problem: „Schafe sind ja gut isoliert!“ Inzwischen beendete Häckh ihre jahrhundertealte Familien-Tradition: Die Mutter zweier erwachsener Söhne legte ihren Wanderstab beiseite und reduzierte ihre Herde auf die Hälfte von 200 Tieren. „Irgendwann war alles ausgereizt.“

Günther Czerkus, oberster Hirte der deutschen Berufsschäfer, malt ein düsteres Bild seines Berufsstandes: „Wir kämpfen überall mit den gleichen Problemen.“ Das Lammfleisch ist zu billig, Schafswolle out. „Das ist praktisch Sondermüll!“ Die letzten Wollkämmereien in Leipzig und Bremen sind verschwunden. Die Zukunft des Schäfers zeichnet sich schon in der Gegenwart ab: Jeder zweite deutsche Hirte – Durchschnittsalter 58 Jahre – geht in den nächsten zehn Jahren in Rente. Wenn nicht bald etwas geschieht, müssen bis zu 90 Prozent der Schäfereien aufgeben. Das Interesse an dem Beruf, vor allem bei jungen Frauen, steigt. „Aber“, so Czerkus, „die können sich nicht vorstellen, was es heißt, eine Familie unter Mindestlohn zu ernähren.“

Dabei leisten die wetterfesten Hüterinnen und Hüter ökologisch einen von der Gesellschaft gewünschten wertvollen Beitrag für die Artenvielfalt in der Natur. Ihre Tiere beweiden mit mehr als 400 000 Hektar fast zehn Prozent der deutschen Dauergrünflächen. Ganze Kulturlandschaften haben Schafe erschaffen. Heidschnuckenherden pflegen die baumlosen Flächen der Lüneburger Heide. Auf den Deichen der Nord- und Ostseeküste treten die Paarhufer die Grasnarbe fest und sorgen für den Sturmflutschutz. Die Wiederkäuer pflegen empfindliche Biotope, seltene Tier- und Pflanzenarten. Als einzige Weidetiere transportieren Schafe in ihrem Fell und mit ihrem Kot Samen und Insekten von Biotop zu Biotop. „Mehr als jedes Wildtier“, versichert Ober-Schäfer Czerkus.

Der große Streit ums Land

Nicht nur in Deutschland, allerorten kämpft der 9000 Jahre alte Berufsstand ums Überleben. Von Indien bis Spanien, von Tibet bis zu den Anden, von Pakistan bis Ägypten. Ob Wasserbüffel-Nomaden im Himalaya, Kamel-Hirten in Indien, die Tuareg in Marokko, die Massai in Kenia – überall auf der Welt leiden die umherziehenden Tierhalter unter den gleichen, mannigfaltigen Problemen, die da heißen: Klimawandel, Dürre, wachsende Städte, Intensivlandwirtschaft auf monotonen Ackerschlägen. Der Streit um Land und Boden, um Weiden und Tränken, mündet mancherorts sogar in blutige Kriege.

Mehr als 200 Millionen Schäfer hängen derzeit laut Welternährungsorganisation FAO von ihrem Vieh ab. Hunderte Hirtenvölker sind unterwegs. Nomaden, die mit ihren Schafen, Ziegen, Rindern, Lamas oder Kamelen umherziehen. Die Frauen und Männer in der Natur ernähren Dreiviertel der Weltbevölkerung. Vor allem die Menschen „in jenen Gebieten, in denen kein Ackerbau betrieben wird“, weiß die deutsche Tierärztin Ilse Köhler-Rollefson aus dem südhessischen Ober-Ramstadt. Die Vorsitzende der Liga für Hirtenvölker setzt sich seit 1992 weltweit für die Rechte von Hirtenvölkern ein. Für die Kamelforscherin gehören „Tiere in die Landschaft, nicht in den Stall“.

Es ging auch schon anders: Spanische Schäfer standen im zwölften Jahrhundert unter dem besonderen Schutz ihrer Könige. Als Leuchtgestalten fanden Hirten Eingang in die Mystik der Antike und in die Dichtung des Mittelalters. Unzählige Maler und Bildhauer, Poeten und Musiker haben den Schäfer bis heute glorifiziert. Auf Gemälden und Kupferstichen, auf Glasmalereien in Kathedralen, mit Holzschnitzereien und alten Meisterwerken von Murillo bis Rubens. Und jedes Mal zu Weihnachten mischen sich Hirten auf Milliarden von Abbildungen unter das Krippen-Personal.

Ob Abraham und Abel, Moses und König David – schon die legendären Gestalten der Bibel sollen Hirten gewesen sein. Käme das Jesuskind dieses Jahr auf die Welt, die Stars der Weihnachtsgeschichte gelangten gar nicht erst zur Krippe in Bethlehem. Spätestens im fünf Autominuten entfernten Dorf Beit Sahour würden die letzten Schäfer Palästinas an einem der Checkpoints abgewiesen werden.

Dann ist da noch der Wolf

Die deutschen Hirten kann keiner aufhalten. Auch nicht der Wolf. Verbandschef Günther Czerkus hat den struppigen Räuber nicht gerade gerufen. „Aber der Wolf gehört zur Natur und nicht abgeschossen!“ Schäfer hätten viel wichtigere Probleme zu lösen.

Im Kampf für eine gerechte „Weidetierprämie“ zogen sie letztes Jahr lärmend zu Hunderten mit Glocken und Böcken vor die Landtage von zwölf Bundesländern und vor das Landwirtschaftsministerium in Berlin. Auch Kucznik schwang seinen Hirtenstab und demonstrierte für die Zukunft seines Berufes. „Wir standen mit den Böcken schon vorm Schloss Bellevue.“ Immerhin: Seit Juli unterstützt das Bundesagrarministerium jetzt wenigstens jene Schäfer, die mit ihren Herden durch Wolf- und Wolfspräventionsgebiete ziehen. Kaum mehr als ein Trostpflaster für Knut Kucznik. „Wir Hirten setzen uns ein bis zur Selbstaufgabe.“ 150 Wasserbüffel grasen mittlerweile auf seiner Weide. „Ich muss mich an diese Welt anpassen.“ Glaubt er an Gott? Kucznik klopft die Reste von Erdklumpen und Schnee von seinen Stiefeln. „Nicht doll, aber ein bisschen!“