Fernsehen

Abendkrimi: Tier-Doku

Schöne Bilder von Flora und Fauna, präsentiert von Heinz Sielmann – das waren Tierdokus vor rund 40 Jahren. Heute jagt eine spannende Szene die nächste. Wird dadurch die Natur verfälscht dargestellt?

Von 
Viola Schenz
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Ein Kamerateam des MDR filmt Lama Horst im Zoo in Leipzig. Die Tier-Doku „Elefant, Tiger & Co.“ sichert dem Fernsehsender ARD schon seit vielen Jahren Quoten. © dpa

Die Natur ist ein wilder Ort: jagen, fliehen, täuschen, töten, vermehren, sterben, fressen. Löwe reißt Gazelle, Orka fällt über Baby-Wal her, Spinnenweibchen vernascht Spinnenmännchen. Ohne solche Spektakel kommt keine abendliche Tier-Dokumentation im Fernsehen mehr aus – entsprechend die Titel: „Wildes Neuseeland – Kampf ums Paradies“, „Im Auge des Löwen“, „Auf Leben und Tod“, „Die große Jagd“.

Wer einschaltet, gibt sich einem Bilderrausch hin: galoppierende Gnus von oben, schwimmende Elefanten von unten, ferngesteuerte Endoskopkameras in Erdhöhlen, Felsspalten und Baumwipfel, perfekte Nahaufnahmen dank Spezialteleobjektiven, Zeitraffern, Minihelikoptern und neuerdings natürlich auch Drohnen. Moderne Naturfilme sind Krimi und Drama in einem.

Vorbei die Zeiten, als Heinz Sielmann in beigem Parka und Gummistiefeln in heimischer Au minutenlang bewegungslos in nasalem Singsang über Flussbegradigungen referierte. Der Biologe und Verhaltensforscher hat die deutsche Tierdoku geprägt wie vor ihm nur Bernhard Grzimek („Ein Platz für Tiere“), er machte Natur und Naturschutz fernsehtauglich. Seine „Expeditionen ins Tierreich“ moderierte er für ARD von 1965 bis 1991.

Weniger Tempo

Natur-Dokus waren damals: schöne Bilder von Fauna und Flora, präsentiert von einem älteren Herrn, meist Zoologe oder Biologe, der die Natur liebt und erklärt und zu ihrem Schutz aufruft. David Attenborough von der British Broadcasting Corporation (BBC) hat hier Maßstäbe gesetzt, auch für Grzimek und Sielmann, und bis heute. Doch hätte das vergleichsweise behäbige Sielmann-TV noch eine Chance bei den spannungs-verwöhnten Zuschauern?

Jörn Röver hat in gewisser Weise Sielmanns Erbe angetreten. Der Biologe, Journalist und Attenborough-Verehrer ist Geschäftsführer der Hamburger Produktionsfirma Doclights, die sich unter anderem auf Tier-Dokus spezialisiert. Die Filme sind die Grundlage der NDR-Traditionsreihe „Expeditionen ins Tierreich“ und „Erlebnis Erde“ im Ersten. „Natürlich sind viele Zuschauer begeistert von den neuen Techniken und Sichtweisen“, sagt der 51-jährige Röver.

Doch verzerren die nicht die Natur? Zeigen immer spektakulärere Drehs, immer genialere Tricks, immer mehr Tempo nicht eine Tierwelt, die so nicht existiert? Nehmen sie der Natur ihre Natürlichkeit? Die Löwen etwa. Sie schlafen bis zu 20 Stunden am Tag. Doch in einer typischen Tier-Doku jagen sie Gazellen oder Gnus, grundsätzlich, als ob sie das dauernd täten. Wird hier das Löwenleben verfälscht?

„Das ganze Fernsehen basiert auf diesem Effekt“, erklärt Röver, „Krimis vermitteln den Eindruck, der Kommissar hat einen Schusswechsel nach dem anderen, in Wirklichkeit verbringen sie viel Zeit mit Schreibtischarbeit. Auch Tierfilme sind eine Konzentration auf die spannenden Momente.“

Die technische Perfektion macht es möglich, und manche greifen zu weiteren Tricks. Es werde immer wieder mit dressierten oder zahmen Tieren gearbeitet, „und dann mit dem Computer poliert“, kritisiert der Tierfilmer Hans Schweiger die Branche. Andreas Kieling etwa geriet in die Kritik, als herauskam, dass er in der ZDF-Dokumentation Kielings wildes Deutschland, Wolfshunde als Wölfe ausgab. Darf es solche redaktionellen Eingriffe geben? „Durch den Technik-Wandel tendieren Redakteure zu High-End-Filmen mit Hochglanzbildern. Wir haben das abgelehnt und gelten deswegen als Saurier“, sagt Schweiger. „Aber auch das wird sich abnutzen. Nur schöne Bilder zeigen, reicht nicht, man braucht eine gute Story.“

Schweiger, 67 Jahre alt, war mit seinem gleichaltrigen Kollegen Ernst Arendt schon zu Zeiten von Grzimeks „Ein Platz für Tiere“ als Filmer aktiv. 40 Jahre lang drehten sie für die ARD die Reihe „Tiere vor der Kamera“. Sie gelten als Traditionalisten, Kritiker warfen ihnen vor, man sehe sie die Hälfte der Filme nur rumfahren oder campen. Vergangenes Jahr war Schluss. Der Bayerische Rundfunk (BR) dürfe keine Filme mehr von Personen kaufen, die älter als 65 sind. Der 91-jährige und noch aktive Sir David Attenborough würde ob dieses Verbots wohl das Haupt schütteln. Bis auf die öffentlich-rechtliche Altersbeschränkung scheint im Tier-TV allerdings alles erlaubt zu sein. Das norwegische Slow TV, also langsames Fernsehen, zum Beispiel zeigt tagelang Rentiere bei ihrer Migration durch Lappland, Millionen schalten ein – Natur als Meditation. Für die Niedlichkeitsfraktion laufen die Zoo-Soaps: „Elefant, Tiger & Co.“ oder „Nashorn, Zebra & Co.“ nachmittags in den ARD-Programmen rauf und runter. Da wird weder gejagt noch getötet, sondern es kümmern sich Pfleger rührend um ihre Lieblinge.

Auf der Suche nach Gefahr

Und dann gibt’s eben die spektakulären Sachen am Abend, auch mit einem gefahrensuchenden „Presenter“ wie Andreas Kieling (ZDF), der mit Haien taucht oder Gorilla-Weibchen umarmt. Manche finden das faszinierend, manche tun es als eitle Wichtigtuerei ab. Die sieben Millionen Zuschauer (Erstsendung 1965) oder fast 13 Millionen (November 1985) aus Sielmann-Zeiten sind passé, inzwischen schwankt die Zahl bei den Abendsendungen von ARD und ZDF zwischen knapp drei und fünf Millionen. Das liegt natürlich auch daran, dass es mehr Wettbewerb gibt. Die Zuschauer verteilen sich über mehr Programm.

Tier-Dokus haben einen großen Vorteil: Sie sind auf keine Sprache angewiesen. Das erleichtert ihre Finanzierung. Ohne internationale Partner und Weiterverkauf in andere Länder wären Drehs, bei denen ein Kamerateam locker 200 Tage unterwegs ist, unmöglich. So besteht ein Gutteil von Jörn Rövers Arbeit darin, Koproduktionen einzufädeln, den Österreichischen Rundfunk, Arte, japanische und russische Sender ins Boot zu holen, oder eben die BBC und National Geographic.

Warum haben Tier-Dokus überhaupt nach wie vor Konjunktur? Wurde „Gepard jagt Gazelle“ oder „Pinguin watschelt übers Eis“ nicht schon x-mal gesehen? „Tiere beobachten ist sicherlich die älteste Form der menschlichen Unterhaltung“, sagt Hans Schweiger, „das haben schon unsere Vorfahren in der Steinzeit gemacht: beobachten und jagen. Nur so überlebten sie.“ Heute tun sie das eben vom Sofa aus.

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