Samuel Beckett, der irische Schriftsteller, soll einmal gesagt haben: „Meine Theaterstücke sind nur Spiel. Erst andere haben daraus Ernst gemacht.“ Diese Äußerung passt nicht nur gut zum Absurden Theater, sondern auch zur existenzialistischen Sichtweise des Autors. In seinen Werken erscheint der Blick auf die Welt sinnlos und die Sprache fragwürdig. Und seine Figuren wirken ihrer selbst entfremdet.
Davon hat sich die in Frankreich ansässige Choreographin Maguy Marin inspirieren lassen. Schon im Titel spielt sie mit der Sprache, dem „Kann sein“ (engl.: may be), das keine eindeutigen Rückschlüsse zulässt. Marin, die in der berühmten Mudra-Schule von Maurice Béjart studiert und in seinem Ballet du XXe siècle getanzt hat, gründet anschließend ihre eigene Kompanie. Seither hat sie ein riesiges Tanzwerk geschaffen und dafür 2016 in Venedig den Goldenen Löwen erhalten. „May B“ aber wird seit über vier Dekaden in der Welt aufgeführt. Es ist in der Zwischenzeit zum Klassiker des modernen Tanztheaters avanciert und besitzt Kultstatus.
„May B“ beginnt im Dunkeln, nur schemenhaft lassen sich die hellen Umrisse von Figuren erkennen. Dagegen werden die Ohren sensibilisiert für Franz Schuberts Lied „Der Leiermann“ aus seinem Zyklus „Winterreise“ (1827), das mit zarter und zugleich geballter Wucht den Raum akustisch ausfüllt.
Leben und Tod in den Gesichtern
„Keiner mag ihn hören – Keiner sieht ihn an – Und die Hunde knurren – Um den alten Mann“ heißt es in einer Strophe, die einstimmt und vorausschaut auf das kommende Bühnengeschehen. Zehn Tänzer bevölkern es und heben sich in ihren cremefarbenen schlichten Hemden, Hosen, Kleidern und Kappen, die wie Schlafgewänder wirken, vom schwarzen Tanzboden ab. Ihre Gesichter und Haare sind wie mit grau-weißer Kreide gebleicht und bilden einen Kontrast zu den schwarzen Augenhöhlen oder den knallroten Zungen aus ihren Mündern. Hier blicken uns der Tod und die Gebrechlichkeit ebenso an wie das Leben von Menschen als Gesellschaft mit allen Ausprägungen von Liebe und Hass, von Macht und Ohnmacht.
In den folgenden 90 Minuten bleibt dieses Ensemble konsequent aufeinander eingeschworen. Seine Körpersprache, bald spielend wie Kinder, bald obszön wie Karikaturen, bald gewaltsam, bald zärtlich wie ein gefangen gehaltenes Menschheitsgeschlecht. Marin hat Beckett ernst genommen und ihm und uns mit „May B“ ein Denkmal gesetzt.
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