Etwas so anrührend Schönes haben wir lange nicht gesehen: Drei Frauen und vier Männer tanzen – dem Gefühl nach völlig frei und ganz bei sich – zu den fließenden Taktimpulsen elektronischer Musik, die in Transistorradio-Qualität aus einem Lautsprecher dringt. Sie tragen leuchtend orangefarbene Warnschutzmontur und tanzen an der Fahrzeugwaage, unmittelbar hinter der Einfahrt zur Deponie Friesenheimer Insel. Bald synchronisieren sie ihre Bewegungen, bald scheinen sie in Schlummer zu fallen, bald bringen sie hier eine Phalanx von 40 schwarzen Restmülltonnen in Stellung: Es ist ein wunderbar wundersames Ballett, mit dem die Teilnehmer von „Deponia“ – eine Produktion unter dem Dach des Live-Art-Festivals Wunder der Prärie – auf dem Gelände der Mannheimer Deponie begrüßt werden.
Klassenfahrt-Gefühl
Dorthin aber geht es erst einmal vom Startpunkt, dem Künstlerhaus Zeitraumexit im Mannheimer Jungbusch, mit dem Reisebus – und begleitet von einem veritablen Klassenfahrt-Gefühl („Sollen wir uns nebeneinandersetzen?“, fragt eine Teilnehmerin eine andere). Es erwartet uns „Ein Ausflug mit Input, eine Reise zu unseren Resten“, wie die Durchsage im Bus den Passagieren eröffnet.
„Deponia – Eine Hinwendung“ ist eine performative Exkursion von Wolfgang Sautermeister (Künstlerische Leitung) und Ricarda Walter (Dramaturgie und Produktionsleitung), eine Produktion von Zeitraumexit in Kooperation mit dem Stadtraumservice Mannheim (Bereich Abfallwirtschaft), die von der ABG Abfallbeseitigungsgesellschaft mbH Mannheim unterstützt wird; die Performer, die einem dabei begegnen, sind Mitarbeitende des Stadtraumservice sowie Bürgerinnen und Bürger aus Mannheim und Umgebung.
Die Deponie
Die Deponie Friesenheimer Insel wird seit 1963 betrieben und besteht aus drei Teilen: Ur-, Alt- und die aktuell betriebene Deponie, mit noch 2,7 Hektar Ausbaureserve.
Auf der Deponie werden „Inertstoffe“, vor allem Bauschutt, Gleisschotter, Bodenaushub und Straßenaufbruch abgelagert, aber auch Gießerei-Altsande und andere mineralische Abfälle.
Das Live-Art-Festival „Wunder der Prärie“ steht unter dem Motto „Care City“ und wird von 30. September bis 10. Oktober vom Künstlerhaus Zeitraumexit veranstaltet.
„Auf der Deponie sind Reste unserer Infrastruktur, unserer Häuser, unserer Straßen, unserer selbstgebauten Umwelt“, sagt die Stimme aus dem Buslautsprecher, die einem während der rund zehnminütigen Fahrt vieles über die Deponie und ihre Geschichte erzählt. „Betrachtet man den Berg der Altdeponie, den Resteberg, könnte man meinen, dass er uns – optimal geschichtet und abgedichtet, begrünt und mit verschiedenen Tierarten besiedelt, darunter Störche und Eidechsen – die Reste nicht mehr sehen lassen möchte. Was ist das für ein Umgang mit unseren Resten?“
Hinauf auf jenen Berg – 156 Meter erhebt er sich über den Meeresspiegel und ist damit der höchste Punkt Mannheims – führt die Weiterfahrt, vorbei an den Schlackebergen, zu zwei Aussichtspunkten. Der erste (er ist im zum Schluss verteilten Programmblatt mit der Überschrift „Wahrnehmen und Zurückblicken“ gekennzeichnet) liefert einen atemberaubenden Blick auf die zum Greifen nah erscheinenden Industrieanlagen der BASF. Ein Mann mit Megafon tritt auf ein Plateau und kaskadiert eine universelle Würdigung aller Existenz („Für die Passionsblume, für das Zittergras, für das Butterkraut, die Nelke“/„Für diese, für jene, für die, die ich ausgelassen habe.“). Der zweite Aussichtspunkt („Ausblick und Hingabe“) liegt nur wenige Meter entfernt.
Kunstvoll komponierte Ästhetik
Von dort ist auszumachen, wie ein Trompeter oberhalb auf dem Hügel Stellung bezieht und zu spielen beginnt. Bald tritt ein zweiter Performer hinzu, er wird mit einem Spaten graben, eine Decke ausbreiten und sich darauf legen, schließlich mit einem (Plüsch-)Schaf auf der Schulter und Kuhglocken, die in seiner Hand läuten, hinter der Hügelkuppe verschwinden: Almromantik über Mannheim.
Schließlich kommen acht Akteure (darunter die Festival-Leiter Gabriele Oßwald und Jan-Philipp Possmann) die Anhöhe herunter, wenden sich der Erhebung zu, heben die Arme, und es wirkt wie die Anbetung eines mythischen, heiligen Berges. Auch das ist eine grandiose Bildkomposition, wie überhaupt „Deponia“ kunstvoll komponierte Ästhetik mit substanziellem Erkenntnisgewinn und hintergründigem Humor vereint – eine so ungewöhnliche wie starke Produktion.
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