Musiktheater

"Eugen Onegin" in Heidelberg: Immer im Blick der anderen

Ein gelungener Spielzeitauftakt an der Oper in Heidelberg: Regisseurin Sonja Tebes inszeniert PeterTschaikowskis "Eugen Onegin" akzentreich. Wohltönend ist das Ganze ohnehin

Von 
Dr. Hans-Guenter Fischer
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Szene aus der Heidelberger Inszenierung der Tschaikowsi-Oper „Eugen Onegin“. © Susanne Reichardt

Heidelberg. Eine attraktive Frau in der Vitrine. Schwer behängt mit einem Pelzmantel. Sie ist das Schmuckstück ihres reichen, angejahrten Ehemannes und bei öffentlichen Anlässen wirklich gut vorzeigbar. Sie heißt Tatjana, und sie ist im Schlussakt von „Eugen Onegin“ im großbürgerlichen Leben angekommen. Sie bevorzugt nun geordnete Verhältnisse. Selbst ihre früher so geliebten und zerzausten Bücher sind jetzt (allzu) ordentlich sortiert. Und werden kaum noch in die Hand genommen.

Dass das nicht das große Glück bedeuten kann, wird in der neuen Heidelberger Inszenierung - sie markiert den Spielzeitstart - hinreichend deutlich. Die Figuren leiden schließlich an der Volkskrankheit des bürgerlichen Zeitalters: Melancholie. Die Regisseurin Sonja Trebes konzentriert sich dabei zwar ein Stück weit auf die Frauenrollen, doch vergisst nicht, dass es neben dem Tatjana- auch den Lenski- und Onegin-Akt in dieser Oper gibt. Und stets dabei, oft nur als stummer Gast, ist außerdem Tatjanas Mutter Larina (Vera Semieniuk). Sie wirkt wie der Geist, der stets das Gute will, aber das Schlechte nicht verhindern kann. Sie kennt das alles schon und sieht das Unheil kommen. (Frauen-) Schicksale pflegen sich leider oft zu wiederholen. Und so sieht Tatjana wie das junge Ebenbild der Mutter aus.

Da hilft das Weihwasser der alten Kinderfrau Filipjewna, in Heidelberg von Ariana Lucas als der Prototyp der „guten“, mütterlichen Amme angelegt, nicht sehr viel weiter. Für die vielen Bücher, die sich auf dem Boden ausbreiten, gilt Ähnliches. Nach der Begegnung mit Onegin, diesem arroganten, manchmal sogar provokanten Großstadtschnösel, kann sich die Provinzpflanze Tatjana, zu Beginn der Oper noch kein Schaustück, sondern ein bebrillter Bücherwurm, nicht mehr beruhigen. Und so kommt es schon im ersten Akt zu der berühmten „Briefszene“, mithin zu einem Höhepunkt im russischen Musikdrama des 19. Jahrhunderts. Einem großen Monolog, knapp eine Viertelstunde lang, der der Gefühlsverwirrung der Tatjana allen Raum und Nachdruck gibt („Mir fehlt die Kraft, mich zu beherrschen“). Einer wahren Achterbahnfahrt der Gefühle. Die Indre Pelakauskaite souverän gelingt. Emotional enthemmt, doch stimmlich kontrolliert. Die junge litauische Sopranistin tritt als Rollendebütantin auf und singt in ihrer ersten Spielzeit am Theater der Stadt Heidelberg. Es klingt nach einem Glücksgriff.

Duell mit Suizidabsicht

Auch der Koreaner Jaesung Kim, zum Teil an der Musikhochschule Mannheim ausgebildet, ist ein Neuling im Ensemble. Und auch er erntet an diesem Abend Ovationen - für die Darstellung des Lenski. Kim führt vor, dass dieser Möchtegern-Poet vom flachen Land eine enorme Tiefe hat und das ganz große Drama kennt, verzehrend intensiv „Wohin seid ihr entschwunden?“ fragt. Auch Regisseurin Sonja Trebes unterstreicht im eher unnötig heraufbeschworenen Duell mit seinem alten Freund Onegin den geheimen Todeswunsch von Lenski. Es ist letztlich Selbstmord.

Und Onegin selbst? Ipca Ramanovic, sein Heidelberger Sängerdarsteller, lässt sich vorsorglich krankmelden. Eine Erkältung habe ihn ereilt, die Diagnose laute „Nase zu, doch Stimme offen“. Das lässt Raum für Hoffnung. Und tatsächlich singt Ramanovic meist in Normalform. Dass es auch bei der eine gewisse Luft nach oben gibt, soll nicht als Spott verstanden werden. In einer der Schlüsselszenen, der Zurückweisung Tatjanas, macht er keinen üblen Eindruck. Bleibt bei aller Schnörkellosigkeit und Schnöselhaftigkeit Onegins fast charmant.

Doch es ist höchste Zeit, auch das von Roland Kluttig neu belebte und beatmete Orchester zu erwähnen. Seine Streicher-Aufwallungen sind von echtem, edlem Sentiment gekennzeichnet, das Schmalz bleibt außen vor. Die (Holz-) Bläser mit den Tschaikowski-typisch eher dunklen Farben sind agil und springen manchmal förmlich aus dem Graben. Kluttig schärft auch die Dramatik, zeigt die Nähe dieser Oper zu der vierten Sinfonie, der „Schicksalssinfonie“ des Komponisten. Die benutzten Tempi hat der Dirigent noch einmal mit der Urfassung der Partitur verglichen. Also häufig eher zugeschärft.

Apropos Erstfassung: Sie wird an diesem Abend ohnehin verwendet und betont den Kammerspiel-Charakter dieses Stücks. Nachkomponierte Opulenz entfällt. Dafür enthält besagte Erstfassung einen nicht immer aufgeführten „Flüsterchor“ (von Virginie Déjos präzise einstudiert), der zu Beginn des dritten Akts Onegin zusetzt und Gerüchte über ihn in Umlauf bringt. Das Kollektiv mag letztlich keine Außenseiter, und es ist wohl besser, sich zu arrangieren und sich in der Grauzone des bürgerlichen Alltags einzurichten. Daher heißt es schon im ersten Akt: „Die Liebe lässt oft für das Glück / Gewöhnung als Ersatz zurück.“

Freier Autor In Heidelberg geboren. Studium (unter anderem) der Germanistik. Promotion über Rainer Maria Rilke. Texte zu Literatur, Musik und Film.

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