Zeitreise

Das „Käthchen von Heilbronn" - vom Himmel erzeugt

Jeder kennt das „Käthchen von Heilbronn“. In der einstigen Freien Reichsstadt ist ihr ein Denkmal gewidmet und es gibt ein Käthchenhaus. Aber sie hat da nie gewohnt – weil es sie nie gab.

Von 
Peter W. Ragge
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Eine der heutigen Käthchen-Symbolfiguren im Erker vom Käthchenhaus. © Roland Schweizer

Die zu Zöpfen geflochtenen Haare scheinen im Wind zu wehen. Sie trägt ein dünnes Sommerkleid, in der Hand einen Sonnenhut, und sie schaut etwas nach oben. So steht die Frau, die Heilbronn weltberühmt gemacht hat, in der Innenstadt – besser gesagt: das Denkmal für sie. Aber sie steht auf einem hohen Sockel abseits der großen Passantenströme, beim nur noch gewerblich genutzten historischen Fleisch-, Gerichts- und Hochzeitshaus am Krammarkt. Aber immerhin ist sie wieder sichtbar, denn ein paar Jahre lagerte die 1965 von Künstler Dieter Läpple geschaffene 2,20 Meter hohe Bronzestatue in einem Depot. Den Brunnen, der sie anfangs ergänzte, gibt es aber seit 1989 nicht mehr.

„Die Heilbronner haben ein Problem mit ihr“, gesteht Annette Geisler, seit über vier Jahrzehnten für das Stadtarchiv tätig, „sie haben sich von Anfang an ganz arg schwer getan mit der Skulptur“. Die Aufstellung sei in den 1960er Jahren gar ein Skandal gewesen, neben verbalen Verunglimpfungen des Kunstwerkes und seines Schöpfers berichten Chroniken von tätlichen Angriffen auf die umstrittene Figur bis hin zu Versuchen, sie vom Sockel zu stürzen.

„Fußballerwaden, Hühnerbrust, viel zu große Füße“ zählt Annette Geisler auf, was das Publikum seinerzeit an der Bronzeskulptur kritisiert, ja was die Menschen der Stadt regelrecht polarisiert habe. „Ich finde sie ja eigentlich ganz nett mit ihrer Stupsnase“, sagt dagegen Geisler.

Das Problem sei nur: Einerseits nutzt Heilbronn die Titelfigur des Dramas „Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe“ von Heinrich von Kleist (1777-1811) als Symbolfigur und für die Tourismuswerbung. Seit 1970 werden alle zwei Jahre bei einem Festabend drei junge Frauen zum „Käthchen von Heilbronn“ gewählt, die dann in einem historisch anmutenden blauen Kleidchen zusammen oder einzeln Repräsentationsaufgaben wahrnehmen wie anderswo Weinköniginnen. Schon zuvor, seit 1872, gibt es Belege für so eine Repräsentationsfigur im Käthchen-Kostüm, und bei der Tourist-Info findet man allerlei Souvenirs und Käthchen-Puppen.

Tochter eines Waffenschmieds

Aber irgendwie scheint den Heilbronnern doch bewusst zu sein, dass sie sich damit auf dünnem Eis bewegen. Denn für Annette Geisler steht fest: Das Käthchen hat nie existiert. „Es gibt kein Vorbild, es gibt keine Sage, gar nichts“, es handele sich rein um eine Erfindung, eine Fantasiefigur – also anders als etwa der „Jäger aus Kurpfalz“, für den ja historische Vorbilder existieren.

Die Statue "Käthchen von Heilbronn" des Künstlers Dieter Läpple steht in der Innenstadt. © picture alliance/dpa

Beschrieben wird sie recht realistisch, freilich als „vom Himmel erzeugt“. „Ging sie, in ihrem bürgerlichen Schmuck, über die Straße, den Strohhut auf, von gelbem Lack glänzend, das schwarz-samtne Leibchen, das ihre Brust umschloß, mit feinen Silberkettlein behängt: so lief es flüsternd von allen Fenstern: das ist das Käthchen von Heilbronn, das Käthchen von Heilbronn, ihr Herren, als ob der Himmel von Schwaben sie erzeugt, und, von seinem Kuß geschwängert, die Stadt, die unter ihm liegt, sie geboren hätte,“ heißt es im ersten Auftritt des ersten von fünf Akten des berühmten Ritterschauspiels.

Im Mittelpunkt des 1807 begonnenen und 1810 in Wien uraufgeführten Stücks steht die Tochter des Heilbronner Waffenschmieds Theobald Friedeborn. Sie wird als liebreizend und begütert beschrieben. In dem Grafen Wetter vom Strahl – ansässig auf der Schriesheimer Strahlenburg – glaubt sie, den Mann ihrer Träume gefunden zu haben. Als sie ihn entdeckt, während er ihren Vater besucht, stürzt sie sich verwirrt aus dem Haus. Kaum von ihren Knochenbrüchen genesen, will das Bürgermädchen ihrem Ritter „in rätselhafter Ergebenheit“, wie Annette Geisler es formuliert, überall hin folgen. Ihr Vater klagt daher vor dem Femegericht und beschuldigt den Ritter, sie verführt, ja verzaubert zu haben. Schließlich stehen Standesunterschiede stehen zwischen Graf und Käthchen.

Der Adelige will ohnehin erst mal gar nichts von der Bürgerstochter wissen und lieber die standesgemäße Kunigunde von Thurneck ehelichen, denn ihm sei im Traum als Braut eine Kaisertochter geweissagt worden. Die hat es aber eher auf seine Güter als auf ihn abgesehen. Doch auch dem Käthchen erscheint zu gleicher Zeit ein Engel und verkündet ihr eine Hochzeit mit dem Grafen. Schließlich gibt es ein Happy End. Es stellt sich heraus, dass Käthchen in Wahrheit eine Tochter des Kaisers ist, die dieser bei einem Seitensprung mit der Frau des Waffenschmieds gezeugt hat. Er erkennt sie als Tochter an, und nun wird sie – da jetzt standesgemäß – vom Grafen zum Traualtar geführt.

Kleists unruhiger Geist

Johann Wolfgang Goethe hat das alles als „ein wunderbares Gemisch von Sinn und Unsinn“ bezeichnet –aber der mochte Kleist nie. Viel positiver sieht das der Theologe und Germanist Anton Philipp Knittel, Leiter vom Literaturhaus der Stadt Heilbronn. „Kleist hat mit seinem herausragendsten Stück den Namen von Heilbronn in der Weltliteratur verewigt“, sagt er, wenngleich die Stadt lediglich ein „fiktiver Schauplatz“ sei. „Schließlich war Kleist nie in Heilbronn – es gibt jedenfalls keinen Beleg dafür“, so Knittel.

Besucher-Tipps

Anschrift: Käthchenhaus, Rathausgasse 5/Marktplatz 1, 74072 Heilbronn, direkt am Marktplatz/Rathaus gelegen, mit Restaurant/Cafe „Vinum“, spezialisiert auf Wein und schwäbische Küche.

Auskünfte: Tourist-Information Heilbronn, Kaiserstraße 17, 74072 Heilbronn, Tel.: 07131 56-2270 Ausgangspunkt für Stadtführungen, etwa samstags um 11.30 Uhr die „Citytour am Samstag“.

Feste: Heilbronner Lichterfest am Neckar, 24. bis 26. Juni.

Literaturhaus: Ort für Lesungen, Vorträge, Diskussionsrunde, Workshops, Tagungenund Wechselausstellungen, elf Originalgrafiken des Leipziger Künstlers Rolf Kuhrt zum „Käthchen von Heilbronn“ sowie Ausstellung „Heilbronn-erlesen – Eine literarische Spurensuche“, Hörstation zum „Käthchen aus Heilbronn“ und zu Heinrich von Kleist.

Anschrift: Trappenseeschlösschen, Trappensee 1, 74074 Heilbronn, Montag bis Donnerstag 10 bis 12 Uhr und 14 bis 16 Uhr, Freitag 10 bis 12 Uhr

Rundgang: Virtueller Rundgang zu literarischen Orten in Heilbronn, zu Straßen und Plätzen mit Bezug zur Literatur vom Förderkreis „Freunde des Literaturhauses Heilbronn“ im Internet unter www.literaturhaus-heilbronn.de.

Verkehr: Heilbronn ist von Mannheim aus mit dem Auto über die A 6 oder mit dem Zug schnell zu erreichen. Vom Hauptbahnhof Heilbronn kommt man leicht zu Fuß ins Stadtzentrum, zum Kätchenhaus und zum Marktplatz. Von dort fährt die S 4 Öhringen-Karlsruhe bis zur Haltestelle Trappensee, die S-Bahn hält hier aber nur bei Bedarf. pwr

Wenn es einen gäbe, würde er ihn sicher kennen. Knittel, der sich durch umfangreiche literaturwissenschaftliche Forschungen einen Namen gemacht hat, residiert im Trappenseeschlösschen. 1575/76 von einem Kaufmann und ehemaligen Bürgermeister inmitten eines Sees im Renaissance-Stil errichtet, gehörte es lange der Brauerei Cluss und seit 1977 der Stadt Heilbronn. Sie das hübsche Kleinod außen herrlich restauriert und innen hochmodern mit Medienstationen eingerichtet und zum multifunktionalen, im Sommer 2020 eröffneten Literaturhaus umgebaut. Von hier betreut Knittel auch die Sammlung des Kleist-Forschers und Herausgebers Helmut Sembdner (1914-1997).

Wer durch die Ausstellung geht, kann sich der schwierigen Persönlichkeit des Heinrich von Kleist langsam nähern. Er habe „ein unstetes, oft rätselhaftes Leben“ geführt, so Knittel. „Ein Rastloser, ein unruhiger Geist“ sei er gewesen. Als ältester Sohn eines Offiziers in Frankfurt/Oder 1777 geboren, wird er früh Vollwaise – Vater und Mutter sterben, als er erst elf beziehungsweise 15 Jahre alt ist. In der Familientradition des preußischen Adelsgeschlechts, aus dem er stammt, geht er zum Militär und bezeichnet die sieben Jahre in Uniform später als „unwiederbringlich verlorene“ Zeit.

Er studiert, bricht das Studium ab, findet keinen Beruf („Ich passe mich für kein Amt“), hat Geldprobleme und reist immer wieder, mal dahin und mal dorthin. Erst will er Bauer in der Schweiz werden, dann beginnt er in Berlin eine Ausbildung bei der Finanzverwaltung – wieder ohne sie abzuschließen. Er wird sogar als französischer Spion verhaftet und landet in einer Festung. Seinem Leben setzt er selbst ein Ende, indem er erst eine an Krebs erkrankte Freundin (auf deren Verlangen) und dann sich selbst erschießt.

Seine Werke sind Teil der Ausstellung im Literaturhaus. Es gibt Filmbeiträge, Anekdoten und Auszüge aus Briefen. Der Oberbürgermeister von Heilbronn, Harry Mergel, und weitere Prominente lesen „Das Käthchen“ in der Kinderbuchfassung – es ist als Video in der Ausstellung abrufbar. Nur eine Erklärung, warum der brandenburgische Dichter sein Werk in Heilbronn angesiedelt hat, die findet man in dem Museum nicht. „Es gibt unterschiedliche Theorien“, sagt Knittel dazu nur.

Ein Bekannter Kleists behauptet 1819, dieser habe „die ganze Legende vom Käthchen als einer Volkssage“ gefunden und „das gedruckte Flugblatt auf einem Jahrmarkte gekauft“. Bis heute sei dieses Flugblatt jedoch nie gefunden worden, so Stadtarchiv-Expertin Annette Geisler. Sie favorisiert die „Eberhard-Gmelin-Mesmerismus-These“, wie sie es nennt. Die geht zurück auf Eberhard Gmelin, von 1778 bis 1809 Stadtarzt in Heilbronn. Er gehörte zu den ersten, die sich wissenschaftlich mit dem Mesmerismus befassten – also dem Phänomen einer doppelten Persönlichkeit und der Frage, ob die dem Menschen innewohnenden magnetischen Kräfte eine heilende Wirkung auf Nervenkranke haben können. Die Suche nach dem Unterbewusstsein habe in der Romantik viele Dichter und womöglich Heinrich von Kleist inspiriert, so Geisler.

Die geradezu manische Anhänglichkeit des Käthchens, ihre Träume an Silvester oder in der Holunderstrauchszene, ihre schlafwandlerische Hörigkeit – all das erinnert sie an die Bewusstseinsstörung, für deren Behandlung die Reichsstadt Heilbronn in den 1790er Jahren vorübergehend als Zentrum gilt. Gmelin entwickelt den von Franz Anton Mesmer begründeten Heilmagnetismus weiter und publiziert die Krankengeschichte einer dreizehnjährigen Heilbronner Kaufmannstochter, die ein bisschen an das Mädchen von Kleist erinnert – auch wenn diese Parallelen nicht erwiesen sind.

„Kleist schildert die Suche nach der wahren, der idealen Liebe, den Gleichklang zweier Seelen“, was zudem zum damaligen Zeitalter der Aufklärung gepasst habe und zugleich ein – wohl bewusster – Affront gegen die damals vorherrschende Schulmedizin gewesen sei, die von einer Beeinflussung des Unterbewusstseins nichts wissen wollte.

Und dann wäre da noch, ergänzt Annette Geisler, die Gegnerschaft zwischen Kleist und Goethe. In Weimar fällt 1808 eine Aufführung von Kleists „Zerbrochenem Krug“ durch, wofür Kleist Goethe verantwortlich macht. „Vielleicht wollte Kleist nun Goethe eins auswischen“, vermutet Geisler, denn bis zur Veröffentlichung vom „Käthchen“ wird in Heilbronn der 1773 von Goethe literarisch verewigte „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand“ hochgehalten und ein Bauwerk der 1392 erbauten Stadtbefestigung zum „Götzenturm“ erklärt. Dabei ist der Ritter tatsächlich in einem anderen Turm 1512 mal eine Nacht inhaftiert gewesen. Wenn Kleist dieses Ziel gehabt haben soll – das hat er geschafft, denn bei Heilbronn denkt man inzwischen doch viel eher an Kleists „Käthchen“ als an Goethes Götz.

Aus dem Erker gestürzt

Freilich hat das brave Mädchen nie in dem Haus am Rathaus gelebt, das Touristen heute als „Käthchenhaus“ besuchen. „Man hat sich halt schön vorstellen können, dass sie sich aus diesem Erker herabgestürzt hat – dieses schöne mittelalterliche Haus passte einfach, wenn Touristen fragten“, sagt Literaturwissenschaftler Knittel „Zudem ist es ein repräsentatives Haus, eine zentrale Lage“, so Knittel.

Lange wird das gotische Patrizierhaus, das auf das 14. Jahrhundert zurückgeht, einfach als „Steinhaus“ bezeichnet – weil es wohl das einzige Bürgerhaus aus Stein ist. Den schönen Renaissance-Erker mit Brustbildern der Propheten Jesaja, Jeremias, Hosea und Habakuk auf der Ecke, Dacherker und Dachgauben lässt erst im 16. Jahrhundert der hier wohnende Reformator Johannes Lachmann anbringen.

Nach dem Erfolg des Ritterschauspiels ist plötzlich im Volksmund von Käthchenhaus“ die Rede. „Die Idee stammt vermutlich von Mörike-Freund Ernst Friedrich Kauffmann, der damals – um 1840 – in Heilbronn lebte“, weiß Stadtarchiv-Expertin Annette Geisler. In der Freien Reichsstadt habe es seinerzeit eine „romantische Blase“ von Literaten gegeben, zu der auch Kauffmann gestoßen ist – weil der 1803 bis 1856 lebende Komponist, Lehrer und Mathematiker als Demokrat der 1830er Jahre zu Festungshaft auf dem Hohenasperg und Berufsverbot verurteilt worden war, da er demokratische Schriften verbreitet hatte.

1843 bezeichnetet sein Reiseführer das mittelalterlich aussehende Gebäude am Marktplatz erstmals als Käthchenhaus. Im Zweiten Weltkrieg stark zerstört, ist es danach wieder aufgebaut worden und gehört heute der Heilbronner Bürgerstiftung.

Redaktion Chefreporter

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