Schauspiel

Theater Heidelberg feiert sein Widerstandsfestival Remmidemmi

Drei Tage, sechs Routen, neun Uraufführungen: In Inbis zu sechsstündigen Erlebnisparcours marodierten am Wochenende Heidelberger Bürger kunstvoll protestierend durch ihre Stadt...

Von 
Ralf-Carl Langhals
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Proben im Stück „Das Licht der Welt“ den Aufstand im Aktivistencamp („von links“): Anna Lena Bucher, Leon Maria Spiegelberg und Vladlena Sviatash. © Susanne Reichardt

„Was ist denn da los?“ Mehrfach sprechen einen beim Gruppenmarsch durch die Altstadt Passanten an. Dass alles nur Theater sei, ein Parcours für „Boykotteur*innen“ und andere anständige Aufständische, eine Illusion des Aufmupfs sozusagen, vom Theater konzertiert in Auftrag gegeben, von Dramatisierenden (haha) in Worte gefasst und an zehn Orten der Stadt als umstürzlerische Kunstmomente ebenda in Szene gesetzt. So oder so ähnlich äußert sich da, wer angesprochen, um Auskunft, Empfehlungen oder Einschätzungen gebeten wird.

Später, wenn alle sechs Gruppen nach jeweils zwei unterschiedlichen Aufführungen zur dritten gemeinsamen zurück an den Theaterplatz kommen, wird es heftiger: „Njet Yok! We say no! Wir sagen nein!“ skandieren Heidelbergs akademische Wohlstandsaktivisten, – wenn freilich standesgemäß ein wenig zaghaft – in Heidelbergs romantisch glotzenden Nachthimmel, unter dem sich der Deutsche Herbst und der Heidelberger Herbst seit langem gänzlich ungeniert beim Rotwein begegnen.

Auf Bäumen und unter Wasser

Man mag das von Holger Schultze und Jürgen Popig im Hauruckverfahren als Remmidemmi-Widerstandsfestival angelegte Uraufführungsfest als ein wenig albern belächeln, doch es gilt festzustellen: Es läuft, macht jede Minute Spaß, ist vom Garderobenhaken bis zum veganen Pausenbrot bestens organisiert und zeigt gute Stücke, die nicht nur auf der Höhe der Zeit, sondern mit Blick auf das politische Weltgeschehen quasi tagesaktuell sind.

„Das Licht der Welt“ leuchtet im Marguerre-Saal im finstern Tann irgendwo ganz nah am Hambacher Forst in einem Aktivistencamp, wo sich auf Bäumen, Gleisen und Positionen Raphaela Bardutzkys gut gebautes Stück abspielt. Im Lageralltag zwischen Komposttoiletten, Baumhaus und flatternden Bannern („Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht“) findet sich, man glaubt es kaum, kein einseitiger Agitprop-Salat, sondern doch auch Raum für Selbstreflexion und die Position schlagfertiger Polizisten: „Watt? Disagree – hamwa nich!“

Dahinein noch eine Abtreibungs- und Liebesgeschichte zu stricken, ist gewagt, lässt aber zu einem echten Theaterstück werden, was sonst doch irgendwie doch wieder nur Thesenfläche geblieben wäre. Selbst das permanente Bemühen um politische Korrektheit kommt dabei, ein echtes Kunststück, recht unverkrampft über die Rampe – sofern es einem gelingt, über Wortschöpfungen wie „mensch“ (statt „man“) und „jemensch“ (statt jemand) hinwegzuhören... Analog zur internationalen Klientel solcher Camps, Autorin Raphaela Bardutzky hatte zu Recherchezwecken eines besucht, bilden Sheila Eckhardt, Henry Morales, Esra Schreier, Anna Lena Bucher, Vladlena Sviatash und Leon Maria Spiegelberg ein munteres zweisprachiges Ensemble, das deutsch und englisch mit Wort und Tat zu unterhalten mag. Lebhaft und doch sensibel inszeniert von Daniela Löffner, werden die 90 Minuten zum klugen wie kurzweiligen Theaterereignis.

Es ist nicht das einzige an diesem Abend. Im Zwinger etwa hat Marcel Kohler das „sehr frei nach Hans Christian Andersen“ entstandene „Märchen von der kleinen Meerjungfrau“ Roland Schimmelpfennigs eingerichtet. Maren Kraus, Timo Jander und Leon Wieferich vom Jungen Theater Heidelberg springen darin buchstäblich kopfüber ins kalte Wasser. Nicht die Meerjungfrau will an Land, sondern die drei Erdenbürger zu den immernassen „Meerjungmenschen“.

Schimmelpfennig beweist sich einmal mal mehr als hochpoetische Sonderbegabung, versteigt sich diesmal aber meerblau im hypothetischen Konjunktiv. Die dramatische Sache ist zwar hübsch, geht aber zum einen nicht ganz auf, zum anderen will sie nicht so recht in den Uraufführungsreigen passen. Ein Eindruck, den man (oder meinetwegen heute auch mal „mensch“) zunächst auch von der Produktion „Das Stillleben“ haben könnte, die im Blauen Salon des Kurpfälzischen Museums zur Uraufführung kam.

Flucht ins Private

Auf dem Weg dahin, und der ist ja bekanntlich das Ziel, muss nicht nur das Protestlied geprobt werden. Nach einem etymologischen Exkurs in Sachen des griesgrämigen Namensgebers und Menschenschinders Charles Cunningham Boycott gibt es unterwegs eine Station, an der man Boykott-Empfehlungen loswerden kann. RWE, Google, Amazon und Meta finden sich ebenso auf der Pinnwand wieder wie (meistgenannt) die Fußball-WM in Katar oder auch „die Verhunzung der deutschen Sprache“. Gerade da gehe ja das Theater ganz buchstäblich voran ... Sei’s drum.

Im Kurpfälzischen Museum wird dann unter der gelungenen Regie von Tugsal Mogul ein Biedermeier-Gemälde zur Folie für die Flucht ins Private, die die Menschen als Folge auf die stürmischen Entwicklungen des frühen 19. Jahrhundert antraten. Caren Jeß’ Stück ist brillant, ein messerscharfer Parforceritt durch die Geistesgeschichte bürgerlicher Fluchtversuche vor zu viel Remmidemmi da draußen. Henrik Richter spielt, ein Kunststück, regungslos wie gemalt, Isabell Giebeler wissenschaftelt selbstironisch und Anne Rieckhof fungiert laut Rollenverzeichnis als spannende „Fußnote“.

Am Ende kann man dem Widerstand aus schierer Theaterbegeisterung dann nicht widerstehen, raus aus der Komfortszene und auf zum kollektiven Protestsong! Applaus!

Die Stücke

Das Theater Heidelberg lud bis Sonntagabend Zuschauer in sechs Routen „als Boykotteur*innen, Dissident*innen, Tortenwerfer*innen, Aktivist*innen, Guerillas, Whistleblower*innen“ zum Remmidemmi- Festival ein. Pro Route gab es je drei Stücke an verschiedenen Orten im Stadtgebiet zu sehen.

Die Auftragsarbeiten stehen ab sofort einzeln im Spielplan des Theaters. Es sind: Roland Schimmelpfennigs „Die kleine Meerjungfrau“, Caren Jeß’ „Stillleben“, Raphaela Bardutzkys „Das Licht der Welt“, Oksana Sawtschenkos „Die Nacht verdeckt den Morgen“, Özlem Dündars „Abschuss“, Peter Thiers’ „Zähne und Krallen“, Philipp LöhlesHeidelberg 72 ff.“, Rebekka Kricheldorfs „Die Guten“, Michael Bijnens’ „La Linea“ und Konstantin Küsperts „Die Leere. Die Lehre“.

Karten: 06221/582 00 00 oder tickets@theater.heidelberg.de rcl

Redaktion Seit 2006 ist er Kulturredakteur beim Mannheimer Morgen, zuständig für die Bereiche Schauspiel, Tanz und Performance.

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