Zagreb. Am späten Dienstagabend stand er plötzlich im Zagreber Hotel „Panorama“: Finn Lemke kehrte zurück in den Kader der Handball-Nationalmannschaft, aus dem er kurz vor Beginn der EM überraschend gestrichen worden war. Hinter ihm lag eine lange Reise, denn am Tag zuvor hatte er sich noch mit dem Bundesligisten MT Melsungen auf den Weg ins Trainingslager auf der Ferieninsel Fuerteventura gemacht. Die EM war weit weg, nun ist er mittendrin in diesem Turnier, bei dem er dringend gebraucht wird. Der 25-Jährige soll schon heute gegen Mazedonien (18.15 Uhr) die deutsche Abwehr als Chef organisieren – so wie er es beim EM-Sieg und Olympia-Bronze 2016 getan hatte.
„Ich freue mich“, sagte der 25-Jährige, der bei Christian Prokop zunächst durchs Raster gefallen war – und zwar aus taktischen Gründen. Der Bundestrainer bevorzugt ein Defensivspiel mit schnellen und herausrückenden Leuten, die den Gegner jagen. Lemke ist weder flink noch beweglich. Er kann es als 2,10-Meter-Hüne auch gar nicht sein. Doch dafür bringt der Rechtshänder andere Qualitäten ein.
Mannschaft freut sich
Am blonden Riesen prallen die gegnerischen Würfe ab, er ist dank seiner Größe und seiner Präsenz eine nur schwer zu überwindende Mauer – und noch dazu der unumstrittene Anführer der deutschen Mannschaft, weil er stets für einen ganz besonderen Geist innerhalb des Teams sorgt. Leidenschaft, Hingabe, Glaube und Wille. All das lebt Lemke immer vor. Mit seinem Verzicht auf den Melsunger nahm der Bundestrainer dem deutschen Team deshalb nicht nur den Abwehrchef, sondern auch die Seele.
Es war eine gewagte und in der Mannschaft häufig thematisierte Entscheidung, die nach dem schmeichelhaften 25:25 gegen Slowenien noch intensiver diskutiert wurde. Als „unabdingbar“ und „logische Konsequenz“ bezeichnete Bob Hanning die Nachnominierung von Lemke, der für Bastian Roscheck ins Aufgebot rückt. Gleichwohl war der DHB-Vizepräsident bemüht, den Bundestrainer sofort aus der Schusslinie zu nehmen: „Es ist ein Zeichen von Größe. Schlimm wäre es, wenn Christian diesen Wechsel nicht vollzogen hätte. Er hat eine zu 100 Prozent richtige Entscheidung fernab jeglicher Eitelkeiten getroffen.“
Auch der Bundestrainer wollte seinen vorherigen Verzicht auf Lemke und dessen jetzige Nachnominierung nicht als Schuldeingeständnis verstanden wissen. „Es war kein Fehler. Ich habe in der Vorbereitung ein Konzept trainieren lassen, das alle umgesetzt haben. Auch Finn Lemke. Danach habe ich entschieden, wer für die Mannschaft aktuell am stärksten ist“, sagte Prokop, der Lemke in der Nacht auf Dienstag informierte und für den der zuvor Aussortierte zum Retter werden könnte.
Mit fünf verschiedenen Innenblöcken versuchte der Bundestrainer, gegen Slowenien zum Erfolg zu kommen. Doch so richtig funktionierte nichts – auch wenn Prokop in der Gesamtbetrachtung am Tag danach mehrfach betonte, dass man die „zweite Halbzeit nicht unter den Teppich kehren sollte“. Immer wieder verwies er darauf, dass sein Team nach der Pause besser verteidigt und einen Fünf-Tore-Rückstand aufgeholt habe. Es wirkte ein wenig so, als wolle sich der 39-Jährige rechtfertigen. Für seine Taktik – und seine Personalauswahl, die er nun mit der Rückkehr des Schlachtrosses Lemke korrigierte. Verstanden hatten den ursprünglichen Verzicht auf den 25-Jährigen ohnehin nur wenige.
Es sei ein Wagnis, eine funktionierende Abwehr auseinanderzubrechen, hatte Hendrik Pekeler, Lemkes jahrelanger Partner im Mittelblock, noch vor Turnierbeginn gesagt. Als der Mann von den Rhein-Neckar Löwen dann gestern erfuhr, dass sein Kumpel aus Fuerteventura kommt, schrieb er ihm sofort eine Nachricht. Pekeler weiß, dass die Deutschen Lemke brauchen – und dass die Erfolgsaussichten mit dem Melsunger größer sind. „Finn ist unglaublich wichtig für uns – auch mit seiner Größe. Er hat einen ganz anderen Stellenwert beim Gegner, er hinterlässt einen gewaltigen Eindruck“, sagte der Kreisläufer, der sich mit Lemke blind auf dem Feld versteht und um die Bedeutung einer funktionierenden Abwehr weiß. Harmoniert das Duo im Innenblock, dem defensiven Herzstück jedes Teams, sorgt das für Vertrauen und Verlässlichkeit beim Rest. Funktioniert das Zusammenwirken aber nicht, sieht es wie in der ersten Halbzeit gegen Slowenien aus: Unorganisiert, überfordert. Einfach vogelwild.
Blocken, führen, böse sein
Vorkommen soll dieses desolate Defensiv-Debakel kein zweites Mal – deswegen darf nun Lemke ran, um das zu machen, was er am besten kann: blocken, führen, böse sein. „Er bringt Stabilität. Bei den Leuten, mit denen man häufig zusammengespielt hat, kennt man auch die Abläufe einfach besser“, sagte der Kieler Patrick Wiencek, der wie viele andere Spieler die Nachnominierung des langjährigen Abwehrchefs mit einer Mischung aus Freude und Erleichterung aufnahm. Denn einen Mann wie Lemke habe man immer gerne im Team, sagte Rechtsaußen Patrick Groetzki von den Löwen: „Da weiß man, was man hat.“
Info: Video und Fotostrecke unter morgenweb.de/sport
Protest abgewiesen
- Die Europäische Handball-Föderation (EHF) hat den Protest Sloweniens gegen die Wertung des Spiels gegen Deutschland (25:25) abgewiesen.
- Die DHB-Auswahl hatte am Montagabend beim Remis gegen den WM-Dritten nach dem Einsatz des Videobeweises wegen einer Regelwidrigkeit der Slowenen in letzter Sekunde einen Siebenmeter zugesprochen bekommen, den Tobias Reichmann zum Ausgleich verwandelte. Gegen die Entscheidung der litauischen Schiedsrichter legte Slowenien Protest ein, der letztlich erfolglos blieb.
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