Amsterdam

Der Streit um die Stadt

Zu volle Straßen, zu wenig Wohnraum – Amsterdam wächst der Tourismus über den Kopf. Bewohner, Verwaltung und Marketingexperten fragen sich: Wie können wir Gastfreundschaft und Lebensqualität gleichermaßen erhalten? Eindrücke aus einer gestressten Metropole.

Von 
Anne-Kathrin Jeschke
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Der „I amsterdam“-Schriftzug vor dem Rijksmuseum: ein Wortspiel mit dem englischen „I am“ – Ich bin Amsterdam. Sind wir noch Amsterdam? Das fragen sich die Stadtbewohner immer häufiger. © Jeschke

Ein schwarzer Mercedes mit deutschem Kennzeichen schiebt sich über die enge Grachtenbrücke. Zentimeter um Zentimeter, vorbei an zahllosen Menschen. Ein Betrunkener klopft gegen die Scheiben des SUV. Es riecht nach Gras. Es riecht nach Urin. Und wie so oft riecht es auch nach Ärger. Ein früher Samstagabend in den Wallen, wie die Amsterdamer ihr berühmtes Rotlichtviertel nennen. Die Straßen rund um die Oude Kerk, die Alte Kirche, verwandeln sich in eine Partymeile.

Nicht nur das Rotlichtviertel ist in der niederländischen Hauptstadt längst fest in Touristenhand. Amsterdamer beklagen immer heftiger, dass ihre Stadt zu voll wird und mehr und mehr an Lebensqualität einbüßt. Sie stehen nicht allein da mit dem Problem, das auf Neudeutsch Overtourism heißt, ein Zuviel an Tourismus: Im spanischen Barcelona gingen Stadtbewohner schon vor Jahren gegen Touristen auf die Straße, im kroatischen Dubrovnik drohte die Unesco, der Stadt ihren Kulturerbestatus abzuerkennen, wenn sie weiterhin so überrannt wird. Venedig in Norditalien ist längst mehr Freilichtmuseum als Lebensraum.

„Stoppt den Ausverkauf“

Gründe für den Boom im Städtetourismus liegen auf der Hand: Da sind die Billigflüge, da ist der wachsende Wohlstand. Immer mehr Menschen können sich das Reisen leisten, etwa aus den wirtschaftlich aufstrebenden BRIC-Staaten: Brasilien, Russland, Indien und China. Hinzu kommt die Angst vor Terroranschlägen, die den Tourismus auf Länder konzentriert, die sicher erscheinen – zumindest sicherer als andere.

Im Amsterdamer Stadtbild sind die Zeichen des Aufstands noch unauffällig. Ein schlichtes DIN-A4-Schild im Fenster eines Antiquariats nahe des bei Besuchern beliebten Nieuwmarkts: „Stoppt den Ausverkauf unserer Stadt.“ Das Graffiti auf einem Stromkasten an der Amstel: „No bike for Tourist“ – keine Fahrräder für Touristen. Das improvisierte Verbotsschild an der beschaulichen Bickersgracht, das sagt: Menschen mit Rollkoffern sind hier nicht erwünscht. Der Reisekoffer auf Rollen ist zum Symbol geworden, für manchen zum Feindbild.

In den Schaufenstern der Buchhandlungen liegt seit einigen Wochen ein Buch aus, dessen Titel deshalb einen Nerv trifft: „Van wie is de stad?“ Wem gehört die Stadt? – Diese Frage stellt die Sozialgeografin und Journalistin Floor Milikowski. Und sie sucht selbst noch nach Antworten. Als Treffpunkt wählt sie ein ruhiges Café im Osten der Stadt, einem Viertel, in das sich Touristen noch nicht allzu oft verirren. Die 37-Jährige ist in Amsterdam geboren und aufgewachsen. Wie sich ihre Stadt entwickelt, beschäftigt sie daher nicht nur beruflich, sondern auch emotional. „Wenn immer mehr klassische Touristenläden öffnen, wenn die Mieten immer weiter steigen, dann wirkt sich das zweifelsohne auf die Lebensqualität aus“, findet sie. Denn auch weil Wohnungen lukrativ an Touristen vermietet werden, fehlt es an bezahlbarem Raum.

Hinzu kommt der ständige Druck auf die mit rund 850 000 Einwohnern verhältnismäßig kleine Metropole. 82 000 Menschen leben in der Innenstadt, 80 000 arbeiten dort – und zuletzt zählte Amsterdam jährlich mehr als 18 Millionen Besucher. Gerade die besonders beliebten Plätze – etwa die Gegend um Bahnhof und den zentralen Platz Dam – leiden unter den Menschenmassen, der Museumsplatz, die Gracht am Anne-Frank-Haus. Oder der Blumenmarkt: Frische Pflanzen, dicke Tulpenzwiebeln und Tüten voller Samen von Frühlingsblühern füllen die Stände dort an der Singel-Gracht. Auch Plastiktulpen und allerlei andere kitschige Souvenirs gehören ins Sortiment. Hendrik Petersen und Johanna Papke haben sich eben noch durch das dichte Gedränge geschoben. Den Betrieb nehmen die beiden Usedomer aber mit norddeutscher Gelassenheit: „Hier ballt es sich eben“, sagt der 35-Jährige schulterzuckend. Vor zehn Jahren sei es in Amsterdam auch schon voll gewesen, findet er. Untergekommen sind die beiden in Edam, nordöstlich der Hauptstadt – schon, weil man dort besser parken könne.

44 Millionen Übernachtungen ausländischer Gäste zählten die Niederlande im vergangenen Jahr, 37 Prozent davon entfielen allein auf Amsterdam. Noch nicht eingerechnet sind Pensionen mit weniger als fünf Schlafplätzen und Gäste, die ihre Unterkunft über Online-Dienste wie Airbnb gebucht haben – was gerade bei vielen jungen Reisenden, die oft Städtetouren machen, längst beliebter ist als Hotels. Inzwischen dürfen Airbnb-Nutzer ihre Wohnung in Amsterdam allerdings nur noch maximal 60, ab 2019 nur noch 30 Tage im Jahr vermieten – ein Instrument der Stadtregierung, um sowohl dem Tourismus als auch der Wohnungsknappheit entgegenzuwirken. Doch die Amsterdamer werden ihre Zimmer auch unter der Hand an Touristen los.

Offene Einheimische

Auf den Buchstaben des „I amsterdam“-Schriftzugs vor dem Rijksmuseum im Südwesten der Stadt posieren Touristen vor Smartphones und Kameras. Es ist ein Sprachwirrwarr, ein Schieben, gar Rempeln fürs beste Instagram-Motiv. Am Wasserbecken sonnen sich drei Pariserinnen, Mitte 20. „Wenn die Amsterdamer finden, dass hier viele Touristen sind, dann sollten sie mal nach Paris kommen“, sagt Erika, eine der jungen Frauen. Cassandra und Yvanna nicken. Amsterdam sei so schön und so sauber, schwärmen sie. Und die Menschen so offen. Denn dass sie genervt sind, lassen Einheimische ihre Gäste äußerst selten spüren.

Auch Marion, 84, aus Niedersachsen, die ihren Nachnamen nicht verraten will, lässt sich von den Menschenmassen nicht stressen. „An der Binnenalster in Hamburg ist es doch genauso voll“, findet die Seniorin, die gerade mit ihrer Reisegruppe über den Museumsplatz läuft. „Damit müssen die Amsterdamer schon klarkommen.“ Sie könne die Stadt nur weiterempfehlen. „Wir übernachten aber auch außerhalb“, ruft eine der Frauen, bevor die Reiseleiterin weiterspricht.

Amsterdam versucht, den Touristenansturm mit drastischen Entscheidungen einzudämmen: Die Verwaltung hat den Neubau von Hotels eingeschränkt und es dürfen keine neuen Geschäfte in der Innenstadt öffnen, die sich speziell an Touristen richten: keine Souvenirshops etwa, keine typischen Käseläden. Eine Entscheidung, die viele zwar begrüßen, die aber auch heikel ist, weil sie die Freiheit von Geschäftsleuten beschneidet. Einer der ersten, die das zu spüren bekamen, war Quirijn Kolff, Geschäftsführer der Amsterdam Cheese Company. Einer der Ketten, die den Käse vakuumverpackt – also flugfertig – im Regal liegen haben. Die Filiale, um die nun gestritten wird, liegt am Damrak, der großen Straße, die vom Hauptbahnhof zum Dam führt. Der Laden öffnete im Herbst, fast zeitgleich trat die städtische Neuregelung in Kraft. Deshalb will die Verwaltung ihn – wie andere Geschäftsinhaber auch – zum Schließen zwingen.

Kühe aus Plastik stehen dort im Schaufenster, Probierhäppchen und Zahnstocher liegen bereit. Zwei junge Männer beraten die Kunden, natürlich auf Englisch. Über die Zukunft der Filiale entscheiden nun Gerichte. Einem ersten Urteil zufolge muss sie tatsächlich wieder schließen. Kolff hat Berufung eingelegt, das Verfahren läuft. Generell habe er nichts gegen die Maßnahmen der Stadt, sagt der Geschäftsmann. Jedoch solle die Gemeinde diese nicht rückwirkend anwenden. „Das widerspricht den Grundsätzen der freien Niederlassung, wie wir sie in Westeuropa gewöhnt sind.“

Die offene Kritik am touristischen (Über-)Erfolg ist auch deshalb ein Drahtseilakt, weil er viel Geld in die Stadt bringt. Ein Aspekt, den Floor Milikowski so jedoch nicht stehen lassen will. Lange Zeit habe das Stadtmarketing mit viel zu hohen Einnahmen argumentiert, um die Überlast zu rechtfertigen. In ihrem Buch widmet sie diesem Thema ein ganzes Kapitel, kritisiert, dass teilweise Menschen von außerhalb, die in Amsterdam arbeiten, in die Statistik fielen – und dass nicht ausreichend beachtet werde, was die Touristen die Stadt wiederum kosten.

Einfache Lösungen für das Dilemma hat auch Milikowski nicht: „Obergrenzen für Touristen, das ist doch ein beängstigender Gedanke“, findet sie. Aber man könne Billigflüge begrenzen, weniger Kreuzfahrtschiffe zulassen oder stärker zeigen, dass auch andere niederländische Ziele eine Reise wert sind. „Städte müssen sich fragen, welche Besucher sie anziehen wollen“, findet sie: „Es ist für Leute aus Großbritannien billiger, hierher zu fliegen und ein Wochenende zu saufen, als zu Hause zu bleiben und dort zu saufen.“

Berna Meijer weiß sehr genau, wovon die Autorin spricht. Die offenherzige Frau sitzt am frühen Abend im Infozentrum, das an der Oude Kerk über Prostitution aufklärt. Meijer kennt die Gegend, kennt die Frauen, die schon vormittags leicht bekleidet in den Schaufenstern sitzen, kennt die Menschen, die in den Stockwerken über den Clubs, Sexshops und Bordellen leben. Touristen seien schon immer viele gekommen. „Aber die Zusammensetzung ist jetzt anders: Immer mehr Feestganger, party people sind darunter.“ Junge Leute, Meijer zufolge vor allem aus England und Deutschland, die Party machen. „Die Anwohner hassen es so sehr.“ Manchmal kämen sie nicht durch zu ihren Haustüren, bekämen freche Antworten, wenn sie um Durchlass bitten. Die Feiernden sind laut, pinkeln vor die Häuser. „Es war lange populär, hier zu leben. Es ist noch immer ein Status-Symbol, wenn man sich das leisten kann. Aber das Umfeld, das ist nicht mehr beliebt.“

Hausgemachtes Problem?

Vor einem Fast-Food-Geschäft in der Nähe lehnt eine Gruppe junger Männer an der Wand. Eine Stärkung vor dem nächsten Bier. Die einheitlichen T-Shirts verraten: ein Junggesellenabschied aus Deutschland. Einer von vielen an diesem Aprilwochenende. Die zehn Männer zwischen 20 und 31 kommen aus der Nähe von Dortmund, sind mit dem Auto ins Nachbarland gefahren. Sie haben ein Paket gebucht, erst eine Stadtführung mit Rätseln, dann Quadfahren, abends Party. Sie bringen den Amsterdamern doch Geld, finden sie. „Aber zum Teil ist es verständlich, dass es den Bewohnern zu viel wird“, sagt Sebastian Aperdannier aus Ahlen. Dennoch sei es doch auch ein „hausgemachtes Problem“. Das sieht auch Berna Meijer so: Amsterdam sei lange beworben worden als Stadt, in der alles gehe. „Viele wissen nicht, dass man hier nicht einmal Bier auf der Straße trinken darf.“

Die Arbeit des Stadtmarketings, zu dessen Aufgaben es ja eigentlich gehört, im In- und Ausland für Amsterdam zu werben, hat sich verändert. Der Fokus liegt nicht mehr darauf, noch mehr Touristen in die Stadt zu holen, betont eine Sprecherin. Hauptziel sei es stattdessen, Image und Ruf zu schützen: „Eine Stadt voll mit enttäuschten Bewohnern, ist kein attraktiver Ort für Besucher.“ Trotz des nervenaufreibenden Rummels geht Floor Milikowski gerne mit ihrer Familie ins Zentrum. Ihre Kinder sollen lernen, dass sie auch ihnen gehört: die Innenstadt von Amsterdam.

Freie Autorin Seit 2014 freie Journalistin in Mannheim. Davor: Journalistik-Studium in Leipzig, Volontariat beim "Mannheimer Morgen", Redakteurin beim "MM" und beim "Öko-Test-Verlag" in Frankfurt.

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