Die Herren von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig haben sich Zeit genommen. Sie ahnen wohl, dass der Laie an diesem Thema zu kauen hat. Es geht um das Kilogramm, eine der sieben sogenannten Basiseinheiten neben Sekunde, Meter, Ampere, Kelvin, Mol (Stoffmenge) und Candela (Lichtstärke), die die Welt messbar machen. Das System ist im Grunde einfach: Ein Meter ist 100 Zentimeter lang, und eine Minute hat 60 Sekunden. Dabei ist genau festgelegt, wie schwer beispielsweise ein Kilogramm ist. Trotzdem suchen spezialisierte Physiker nach neuen Definitionen für einige dieser Einheiten.
Aber der Reihe nach. Die Frage nach der Masse des Kilogramms scheint sich auf den ersten Blick zu erübrigen. Ein Kilo Mehl ist ein Kilo Mehl. Punkt. Leider ist es komplizierter. Schließlich ist das Kilogramm eine willkürlich gewählte Größe. In Paris steht, streng gesichert, das sogenannte Ur-Kilogramm, ein wenige Zentimeter großes Metallstück. Über Umwege sind alle Waagen auf dieses Unikat kalibriert.
Das Ur-Kilogramm wurde 1889 bei der 1. Generalkonferenz für Maß und Gewicht festgelegt. Die Idee von allgemeingültigen Maßeinheiten war nicht neu. "Man braucht ja eine Vergleichseinheit", sagt der Physikhistoriker Dieter Hoffmann vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Dabei ist es durchaus gewagt, ein nahezu weltweit geltendes Gewichtssystem auf einem einzelnen Stück Metall basieren zu lassen. "Stellen Sie sich vor, wenn das mal kaputt geht", sagt der Physiker Arnold Nicolaus von der PTB. Neben diesem Risiko gibt es ein weiteres Problem mit dem Ur-Kilogramm: Es wird immer leichter. Dass das passiert, ist schlichtweg Pech. Damals wurden mehrere Ur-Kilos hergestellt und eines davon zum Maßstab erhoben, wie PTB-Sprecher Jens Simon erklärt. Einige der Ur-Kilo-Vorläufer seien stabil. Doch das auserwählte Stück Metall verliert aus bislang unerfindlichen Gründen Masse - 50 Millionstel Gramm in 100 Jahren.
Na und? Was ist schon dabei, wenn sich ein Stück Metall in einem Pariser Tresor verändert? Da alle Gewichte von diesem Ur-Kilogramm abhängen, werden sie praktisch langsam schwerer. Alle Waagen würden über die Jahre hinweg nicht mehr korrekt das Gewicht anzeigen. Sie müssten in regelmäßigen Abständen neu auf das schwindsüchtige Ur-Kilogramm kalibriert werden. Spätestens im Jahr 2018 soll Schluss sein mit dem Pariser Ur-Kilogramm als Standard. Dann soll auf der 26. Generalkonferenz für Maß und Gewicht eine neue, weltweit gültige Definition des Kilogramms verabschiedet werden. Schon jetzt steht fest: Künftig wird die Gewichtseinheit nicht mehr an einem einzelnen Gegenstand hängen. Aber wie kann das gehen?
Physiker Nicolaus ist maßgeblich an den Experimenten für die Neudefinition beteiligt. In einem exakt temperierten Raum ist ein Experiment aufgebaut, in dessen Zentrum spiegelnde Kugeln aus Silizium stehen, die an ein Boule-Spiel erinnern. Die Wissenschaftler an der PTB können solche Kugeln ganz präzise herstellen und vermessen. So können sie errechnen, aus wie vielen Silizi- umatomen eine solche Kugel besteht. Davon lässt sich ableiten, wie schwer ein einzelnes Atom ist.
Siliziumatome als Größe
Diese Masse wird zu einem bestimmten Zeitpunkt - durch Schwankungen des Ur-Kilogramms ändert sie sich ständig - ein- für allemal in Stein gemeißelt. Im Umkehrschluss ist damit bekannt, wie viele Siliziumatome es für ein Kilogramm braucht. Vereinfacht gesagt, ist dadurch das Kilogramm festgelegt.
In den kommenden Monaten sollen in Braunschweig zwei besonders reine Siliziumkugeln vermessen werden. Davon erhoffen sich die Forscher noch präzisere Ergebnisse. Jedes gut ausgerüstete Labor mit dem nötigen Wissen könnte sich ein allgemeingültiges Kilogramm künftig theoretisch selbst herstellen. Mit der Neudefinition des Kilogramms schwindet die Abhängigkeit vom schwindsüchtigen Pariser Vorbild, wie PTB-Sprecher Jens Simon erklärt. Es ist von einem Paradigmenwechsel die Rede.
Probleme mit der Stabilität gibt es allerdings nicht nur beim Kilogramm. Forscher tüfteln ähnlich wie die PTB-Experten an Lösungen dafür. Beim Meter ist man dabei schon vor Jahrzehnten zu einem Ergebnis gekommen: Der Ur-Meter, eine Art Metallstab, wurde durch eine Definition ersetzt, die auf der Lichtgeschwindigkeit beruht.
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