Eine Zahl mit 14 Nullen: Etwa 100 Billionen Bakterien leben im menschlichen Darm. Sie helfen nicht nur bei der Verdauung, sondern produzieren auch Vitamine, trainieren das Immunsystem und fördern sogar die Hirnentwicklung. Weltweit greifen daher Millionen Menschen zu probiotischen Drinks, Joghurts und Präparaten, um ihrer Darmflora Gutes zu tun. Dabei zeigen aktuelle Studien, dass sie damit ihrem Gehirn sogar schaden können.
Die 22 Patienten aus dem Bundesstaat Georgia waren dankbar, dass man sie an der University of Augusta für eine Studie ausgewählt hatte. Denn sie litten schon seit Monaten unter Konzentrationsschwäche und Verwirrtheit, einige von ihnen hatten deswegen sogar schon ihren Job aufgeben müssen. Hinzu kamen Aufstoßen, Bauchkrämpfe und Durchfall, wenn sie etwas gegessen hatten. Kein ärztlicher Therapieversuch hatte bislang wirklich etwas gebracht, und deswegen hofften die Patienten jetzt, dass den Forschern etwas zu ihrem entnervenden Müdigkeits-Verdauungs-Problem einfallen würde.
Viel zu viele Laktobazillen
Im ersten Teil der Studie befragte man die Teilnehmer zu ihren Ernährungsgewohnheiten, und man untersuchte deren Blut, Urin und Darmflora. Außerdem ließ man sie in ein Gerät ausatmen, mit dem man nachweisen konnte, ob im Dünndarm eine bakterielle Zersetzung von Zucker erfolgte. Bei einem gesunden Menschen sollte das nicht der Fall sein, weil sein Dünndarm den Zucker eigentlich so perfekt absorbieren kann, dass für zuckerzersetzende Laktobazillen kaum noch etwas übrig bleibt.
Als Ergebnis der Untersuchungen zeigte sich aber genau das: Der Dünndarm der Patienten war massiv mit Laktobazillen besiedelt. Diese Mikroben zersetzen Zucker und geben dabei D-Milchsäure ab, und die konnte man gleichfalls massenweise im Blut und Urin der Patienten nachweisen. Womit dann auch eine Erklärung für ihre kognitiven Funktionsstörungen gefunden war. Denn D-Milchsäure wirkt giftig auf die Hirnneurone und beeinträchtigt dadurch Gedächtnis, Zeitgefühl und viele andere grundlegende Denk- und Wahrnehmungsprozesse.
Ein Abgleich mit den Ernährungsgewohnheiten der Patienten erbrachte, dass sie – im Unterschied zu einer Vergleichsgruppe mit gesunden Teilnehmern ohne auffälligem D-Milchsäure-Befund – fleißig Probiotika konsumierten. Einige von ihnen verzehrten täglich gleich mehrere davon, mit unterschiedlichen Zusammensetzungen, und dazu noch Joghurt, der bekanntermaßen ebenfalls Laktobazillen enthält.
Im Speiseplan der gesunden Probanden spielte das keine Rolle. Was laut Studienleiter Satish Rao dafür spricht, dass die Hirn- und Verdauungsprobleme der Patienten durch ihren hohen bis exzessiven Konsum der probiotischen Kulturen ausgelöst wurden. „Sie ebneten den Laktobazillen offenbar den Weg, um sich im Dünndarm und teilweise sogar im Magen auszubreiten“, erläutert der Gastroenterologe.
Den Patienten wurde geraten, keine Probiotika mehr zu konsumieren. Außerdem verabreichte man ihnen ein spezielles Antibiotikum, um den Laktobazillen im Dünndarm den Garaus zu machen. Man machte also genau das Gegenteil zur üblichen Empfehlung, wonach einer Antibiotika-Behandlung eine Probiotika-Kur folgen sollte, um die Darmflora wieder in Schuss zu bringen.
Doch dieses Wagnis zahlte sich aus: Drei Monate später waren 85 Prozent der Patienten kognitiv wieder voll auf der Höhe, ihr Gehirn hatte sich von der Milchsäure-Flut erholt. Das ist tröstlich, doch für Satish Rao steht trotzdem fest: „Probiotika sollten nicht als Nahrungsergänzung, sondern als Arzneimittel betrachtet werden.“
Die als Darmflora-Support zugeführten Bakterienstämme sind also nicht so harmlos, wie sie weithin dargestellt werden. Und damit nicht genug: Laut einer Studie aus Israel sollte man auch ihre positiven Effekte nicht überschätzen. Das Forscherteam um Erin Elinav vom Weizmann Institut südlich von Tel Aviv verabreichte seinen 15 Testpersonen entweder täglich ein Probiotikum mit elf verschiedenen Bakterienstämmen oder ein wirkungsloses Placebo.
Die Studie dauerte vier Wochen, und vorher und nachher wurde die Darmbesiedlung der Probanden untersucht. Es zeigte sich: Die Darmflora war nur bei ungefähr der Hälfte der behandelten Probanden mehr oder weniger bereit, das zugeführte Probioten-Heer in ihren Reihen aufzunehmen. Sie wurden von den Forschern als „Persisters“ – auf deutsch: Bewahrende – bezeichnet. Die Darmflora der übrigen Testpersonen akzeptierte hingegen wenig bis gar keine Bakteriengäste, weswegen man sie als „Resisters“ – übersetzt: sich Sträubende – betitelte.
Forscher Elinav kam zu dem Schluss: „Die derzeitige Praxis, dass Millionen unterschiedlicher Menschen die gleichen probiotischen Kulturen einnehmen, bedarf einer Korrektur.“ Denn viele Konsumenten würden nur wenig oder gar nicht davon profitieren. „Probiotische Behandlungen müssten vielmehr auf den einzelnen Anwender abgestimmt sein“, empfiehlt der israelische Immunologe.
In einem zweiten Versuch verabreichten Forscher 21 Probanden erst ein Breitbandantibiotikum, bevor man sie und ihren Darm entweder sich selbst überließ oder mit einer probiotischen Kultur nachbehandelte. Man erwartete, dass die Darmflora, weil sie ja durch das Medikament geschwächt war, nun die zugeführten Bakterien besser akzeptieren würde. Tat sie aber nicht! Die probiotischen Gäste schafften es nicht, sich neben den bakteriellen Hausherren im unteren Verdauungstrakt zu etablieren.
Darüber hinaus zeigte sich: Wer als Patient keine Probioten erhalten hatte, dessen Darmflora erholte sich deutlich schneller von dem vorher eingenommenen Antibiotikum. Vermutlich, weil diese sich nicht um die Integration anderer Keime kümmern musste und ihre Kräfte auf die eigene Regeneration bündeln konnte.
Besser: abwarten
Die Taktik „Beobachten und warten“ scheint also nach einer Antibiotika-Behandlung besser zu greifen, als der geschwächten Darmflora probiotisch auf die Sprünge zu helfen. Es gibt aber auch, wie die israelischen Forscher ermittelt haben, noch etwas Besseres: Die autologe Stuhltransplantation.
Dabei wird dem Patienten vor der Antibiotika-Behandlung etwas Kot – inklusive der darin enthaltenen Mikroben – entnommen und anschließend wieder zurückimplantiert. Das Ziel: Die geschwächte Darmflora soll sich schneller wieder erholen, wenn sie dabei von Bakterienkulturen unterstützt wird, die ihrer Ursprungsbesetzung entsprechen. Die klinischen Daten unterstützen diese Strategie. Auch wenn sich eine Stuhltransplantation nicht gerade appetitlich anhört. Doch der Darmflora selbst ist egal, woher ihre Unterstützung kommt.
Der Mensch und die Mikroben
Eigentlich sind wir gar nicht wir. Denn gerade mal ein Zehntel der Zellen unserer Körpers sind menschlich. Die anderen 90 Prozent bestehen aus dem so genannten Mikrobiom – einer bunten Bakterienhorde, die jedoch in der Regel ihrem Wirt nicht schaden will, sondern mit ihm zusammen am Strang des Überlebens zieht.
In unserer Mundhöhle befinden sich bis zu eine Milliarde Einzeller, die hauptsächlich von Essensresten und dem Schleim aus den Nasenhöhlen leben. Mikrobiologisch besonders fruchtbar ist der Zungenrücken, weil er nur wenig vom Speichel gespült wird. Fast 8000 Bakterienarten haben Forscher dort mittlerweile entdeckt.
Die meisten Mikroben leben jedoch im Darm. Sie rekrutieren sich aus 600 bis 700 Arten, und ihre Gesamtzahl wird auf bis zu 100 Billionen geschätzt. Sie wiegen in der Summe ein halbes Kilogramm.
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