Essay - Die Journalistin, Publizistin und ehemalige Politikerin Susanne Gaschke plädiert für eine sorgsamere, aktivere Haltung gegenüber den vermeintlichen Selbstverständlichkeiten der Zivilisation

Wir sollten uns das Unvorstellbare vorstellen

Von 
Susanne Gaschke
Lesedauer: 
Eines von vielen Untergangsszenarien, die im Kino und in Büchern Konjunktur haben: eine Szene aus dem Film „The Day After Tomorrow“ von Regisseur Roland Emmerich. © dpa

Den Blick schärfen für alles, was theoretisch möglich ist, mit dem Undenkbaren spielen und eine Art von aufgeklärtem Skeptizismus entwickeln – dafür spricht sich die Autorin unseres Gastbeitrags aus.

Meine Großmutter als Pessimistin zu bezeichnen, wäre eine glatte Falschaussage gewesen: Sie war fröhlich, zugewandt, die Seele der Familie, und sie machte außerirdisch gute Sahnesaucen.

Aber sie tat auch etwas, worauf ich mir als Kind in den 1970er Jahren des vergangenen Jahrhunderts keinen Reim machen konnte: Sie bewahrte Weckringe in einer eigens dafür vorgesehenen Dose auf. Ich fragte sie, warum sie alte Gummibänder sammle, und sie sagte: „Ach, Sannchen, falls die schlechte Zeit wiederkommt.“

Sie hat ihr Leben lang eine große Vorratswirtschaft betrieben und immer gekocht wie für eine Armee – weil sie erlebt hatte, was es bedeutet, wenn man gar nichts mehr hat. Sie konnte lyrisch werden, wenn sie über ein Brot mit „guter Butter“ sprach – das kleine, aber bedeutsame Gegenbild zur „schlechten Zeit“.

Wenn wir ehrlich sind, dann ist uns dieser Gedanke – dass es jemals wieder eine schlechte und keine immer nur bessere und bessere Zeit geben könnte – so dermaßen fremd geworden, dass wir eine derartige Zeit vermutlich nicht einmal erkennen würden, wenn sie nackt vor uns herumtanzte (um eine britische Redewendung zu benutzen).

Übermäßiger Optimismus irritiert

Die Deutschen schauen zwar ausweislich aktueller Umfragen (IPOS, Forsa) skeptisch zurück auf das Jahr 2017 und erwarten auch für 2018 Schwierigkeiten, aber beides betrifft die allgemeine politische Lage. Das ist, denkt man an IS-Terror, Putin, Erdogan, Trump, Brexit und die europäische Flüchtlingskrise, ja nun nicht besonders german-ängstlich oder hysterisch, sondern vermutlich einfach realistisch. Wenn es allerdings um ihr eigenes Leben geht, dann sagen laut Forsa 77 Prozent der Befragten, 2017 sei für sie persönlich ein gutes Jahr gewesen, und 88 Prozent sind sogar der Meinung, 2018 werde noch besser.

Zunächst einmal ist das ein erfreulicher Befund, denn er zeigt ja, dass die gewaltige Mehrheit unserer Mitbürger den Frieden, den Wohlstand, den im großen und ganzen funktionierenden Sozialstaat und unsere Demokratie zu schätzen wissen: Sie können gut darin leben. Überwiegend finster in die weltpolitische und in ihre persönliche Zukunft blicken nur die AfD-Anhänger.

Mit deren politischer Grundeinstellung möchte ich nichts zu tun haben. Allerdings irritiert mich, wie sehr mich gleichzeitig der fast schon überbordende Optimismus der Vielen doch beunruhigt. Unser bequemes Leben ist so unglaublich voraussetzungsreich: Für selbstverständlich nehmen wir Strom, sauberes Wasser, Telefonverbindungen in nie gekanntem Ausmaß, ärztliche Versorgung, Unterhaltungsangebote bis zum Abwinken und neuerdings sogar Leute, die uns die genau abgewogenen Zutaten ins Haus liefern, wenn wir mal die Zeit finden, für Freunde zu kochen.

Leben aus der Substanz

Irgendjemand wird schon irgendwie dafür sorgen, dass die Integration der Einwanderer klappt und dass das, was die Kinder in der Schule lernen, noch für das Leben in diesen komplizierten Zeiten reicht. Irgendjemand wird die Armee schon so ausrüsten und trainieren, dass sie uns im Notfall verteidigen kann, obwohl wir davon bitte nicht allzu viel hören und sehen wollen. Irgendjemand wird sich hoffentlich darum kümmern, dass unsere Kraftwerke nicht von Hackern lahmgelegt werden, so dass wir in ein stromloses Mittelalter zurückstürzen. Und irgendjemand wird sicher auch weiter bei den blöden und langweiligen politischen Parteien mitmachen, die den Laden ja doch irgendwie am Laufen halten.

Ich glaube, dass viele von uns in Wahrheit zumindest ahnen, dass wir aus der Substanz leben. Ich glaube, dass uns das unterschwellig beunruhigt, auch wenn wir es nicht zugeben mögen. Wenn wir aber das daraus resultierende Gefühl der Lähmung abschütteln wollen, dann dürfen wir mit den vermeintlichen Selbstverständlichkeiten der Zivilisation nicht einfach nur zufrieden sein. Dann müssen wir eine sorgsamere, aktivere Haltung zu ihnen entwickeln. Um diese Haltung zu finden, wäre es vielleicht doch ganz gut, sich vorsichtshalber manchmal vom Unvorstellbaren erschrecken zu lassen oder mit Gedanken an das Undenkbare zu spielen.

Vorbeugung statt Verzweiflung

Das ist in Deutschland gar nicht so leicht, denn der „Kulturpessimismus“ der „Konservativen Revolution“ (vertreten durch Autoren wie Paul de Lagarde, Julius Langbehn oder Arthur Moeller van den Bruck) gilt als Wegbereiter des Nationalsozialismus und ist deshalb als Weltsicht geächtet: ein „pathologisches Syndrom“ nannte ihn Ralf Dahrendorf Anfang der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts.

Diese Wahrnehmung erscheint aus heutiger Perspektive ein wenig einseitig: War es nicht auch ein Mangel an Pessimismus in Bezug auf die Dinge, zu denen Menschen offenbar fähig sind, die einen rechtzeitigen, effektiven Widerstand gegen die Nationalsozialisten verhinderte? Und ließe sich nicht auch ohne Rekurs auf die verbohrte Modernitätsfeindlichkeit der Konservativen Revolution (die Alexander Dobrindt/CSU wahrhaftig nicht als Überschrift für seine politischen Überlegungen hätte wählen sollen) eine Art von aufgeklärtem Skeptizismus entwickeln, der eben nicht düster vom Untergang raunt, sondern dem Untergang mutig und mit demokratischen Mitteln vorzubeugen versucht?

Es gibt ein gewisses Risiko

Fritz Sterns großes Werk „Kulturpessimismus als Gefahr“ (1961) heißt im Original „The Politics of Cultural Despair“. Es ist aber etwas wesentlich anderes, vor Verzweiflung zu warnen statt vor Pessimismus. Ist es nicht klüger, wenigstens darüber nachzudenken, was alles schiefgehen könnte, als sich dieses Nachdenken zu verbieten, nur um das Etikett „kulturpessimistisch“ zu vermeiden? Kluge Menschen wie der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Münchner-Rückversicherungs-Gesellschaft, Nikolaus von Bomhardt, haben wiederholt darauf hingewiesen, dass ein Auseinanderbrechen der EU, eine erneute militärische Konfrontation des Westens mit Russland oder eine weltweite Pandemie noch nicht einmal zu den unwahrscheinlichsten Risikoszenarien gehören. Sind wir darauf ansatzweise vorbereitet? Tun wir, angesichts der politischen Entwicklung in Amerika, wirklich genug für die Vitalität unserer Demokratie?

Botschaften vom Ende der Welt

Die Schriftsteller lassen sich das Nachdenken ja Gott sei Dank sowieso nicht verbieten – und die seriöse Zukunftsforschung nimmt ihre Welt-entwürfe seit einigen Jahren durchaus ernst. Besonders die amerikanische Literatur ist von Endzeitszenarien geprägt. Aktuelle Beispiele sind etwa „American War“ von Omar el Akkad: Die Klimakatastrophe und im Labor erzeugte Seuchen stürzen Amerika 2074 in seinen zweiten Bürgerkrieg. Oder „Future Home of the Living God“ von Louise Erdrich: Die Evolution läuft rückwärts, Frauen gebären Wesen, die keine Menschen sind; der Staat wird totalitär.

Etwas älter ist „The Year of the Flood“ von Margaret Atwood: Es gibt gar keinen Staat mehr, sondern nur noch Gewalt, genetisch veränderte Monstertiere und das Recht des Stärksten. Das härteste Buch von allen, „The Road“, stammt von Cormac McCarthy: Vater und Sohn wandern durch eine leere, dunkle und gottverlassene Landschaft. Das Einzige, was die beiden in dieser Un-Welt menschlich bleiben lässt, ist der feste Wille, unter keinen Umständen andere Menschen zu essen. Auch zahllose Jugendbücher mit ähnlichen Szenarien sind in den vergangenen Jahren erschienen. Aus der US-Literatur schreit uns geradezu die Botschaft an: Dies ist das Ende der Welt, die wir kannten!

Verlorene Zivilisation

Die Dänin Janne Teller entwickelt in „Krieg – Stell Dir vor, er wäre hier“ eine Vorstellung von der Zukunft Europas, die einem heutigen Leser weniger fantastisch vorkommt als noch im Erscheinungsjahr 2004. Und in Meg Rosoffs Roman „So lebe ich jetzt“ irren Kinder nach einem kaum verstehbaren Krieg durch ein von fremden Soldaten besetztes England; niemand weiß, was eigentlich los ist.

Deutsche Autoren sind ein wenig zurückhaltender mit ihren dystopischen Zukunftsentwürfen, aber in diesem Winter stehen mit Julie Zehs „Leeren Herzen“ und Marc-Uwe Klings „Quality Land“ auch bei uns beharrlich zwei Titel auf den Bestsellerlisten, die, wenn schon nicht über eine post-apokalyptische, so doch über eine postdemokratische Zeit spekulieren. Fast allen Romanen ist gemeinsam, dass sie die irrwitzige Geschwindigkeit thematisieren, mit der die Zivilisation ihre Selbstverständlichkeit einbüßt. Schnell geht es nur noch um Grundsätzliches: Essen, Wärme, Schuhe für die Flucht.

Ich finde es wichtig, dass wir unseren Blick dafür, was immer auch möglich ist, schärfen. Gern mit literarischer Hilfe. Nicht, um in Schockstarre, Depressionen oder Verzweiflung zu verfallen. Aber damit es nie wieder wahre Geschichten wie die meiner anderen Großmutter zu erzählen gibt. Sie sprach oft von den Minuten vor dem Beginn der Flucht, als sie die silberne Querflöte ihres Mannes in den Händen hielt und sie dann weglegte, weil natürlich Schuhe für die Kinder im Gepäck so unendlich viel wichtiger waren.

Susanne Gaschke

  • Geboren wurde sie 1967 in Kiel.
  • Nach dem Abitur hat sie Anglistik, Öffentliches Recht und Pädagogik studiert.
  • Nach einer journalistischen Ausbildung bei den „Kieler Nachrichten“ arbeitete Gaschke 15 Jahre als Politikredakteurin für „Die Zeit“.
  • 2012/2013 war sie knapp ein Jahr lang Oberbürgermeisterin von Kiel (SPD), ehe sie nach einer Kontroverse um einen Steuerfall ihren Rücktritt erklärte.
  • Gaschke ist verheiratet und hat eine erwachsene Tochter.

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen