Hunderte Soldaten waren in Pakistan an Weihnachten 2017 im Einsatz, um Kirchen vor Terroranschlägen zu schützen. Auch in diesem Jahr geht in der christlichen Gemeinschaft die Angst um – der Schock nach den Ausschreitungen wegen des Freispruchs der Christin Asia Bibi sitzt tief.
Peter Jacob, Direktor des „Center for Social Justice“ (Zentrum für soziale Gerechtigkeit) im pakistanischen Lahore, sagt: „Es gibt ein Klima der Angst“. Als im Oktober die Christin Asia Bibi freigesprochen wurde, war es tagelang zu Unruhen gekommen. Nachdem das Oberste Gericht entschieden hatte, die wegen Gotteslästerung angeklagte Christin freizusprechen, statt das 2010 gegen sie ergangene Todesurteil zu bestätigen, blockierten wütende Islamisten Straßen, plünderten Geschäfte und steckten Autos in Brand. Der Aufstand der Islamisten gegen das Urteil hatte weitreichende Folgen für die religiöse Minderheit der Christen, die nur etwa zwei Prozent der 200 Millionen Einwohner des islamischen Landes ausmachen.
Es habe Fälle gegeben, in denen der Mob Autos angehalten habe, um die Insassen nach ihrer Religion zu fragen. Christen seien aus ihren Fahrzeugen gezerrt und verprügelt worden, erzählt Jacob, dessen Organisation sich für die Rechte von Christen in Pakistan einsetzt. Er warnt vor bleibenden Folgen für die religiöse Gemeinschaft.
Freilassung aus Haft
„Die ganze Gemeinschaft steht jetzt unter Generalverdacht“, klagt Romana Bashir, eine Christin, in der Hauptstadt Islamabad. Wenn einzelne Christen der Blasphemie bezichtigt würden, dann seien plötzlich alle Christen Pakistans als Verbrecher und Gotteslästerer abgestempelt. „Das ist eines der größten Probleme.“
Anschläge auf Kirchen in Pakistan hat es bereits in der Vergangenheit gegeben. Im vergangenen Jahr, kurz vor Weihnachten, starben bei einem Anschlag auf einen Gottesdienst in der Stadt Quetta, im Südwesten Pakistans, neun Menschen, 57 wurden verletzt. Im April 2018, an Ostern, wurden in Quetta vier Christen vor dem Haus ihrer Verwandten erschossen.
Vor gut zwei Monaten hatte das Oberste Gericht das Blasphemie-Todesurteil gegen die 50-jährige Bibi aufgehoben hat. Die fünffache Mutter war im Jahr 2009 nach einem Dorfstreit um Wasser wegen Gotteslästerung angezeigt und im Jahr 2010 zum Tod verurteilt worden. Offiziell ist Bibi inzwischen nach über neun Jahren Haft freigelassen worden, doch ihre Zukunft ist ungewiss. Pakistans Regierung beugte sich dem Druck des islamistischen Mobs, der tagelang die Straßen des Landes unsicher gemacht hatte. Sie hat Bibi an einem „sicheren Ort“ in Pakistan untergebracht, um abzuwarten, ob das Oberste Gericht eine Petition islamischer Parteien annimmt, den Fall noch einmal aufzurollen, obwohl es juristisch gesehen nach einer Entscheidung des Obersten Gerichts keine Revision des Urteils mehr geben kann.
Anwalt beantragt Asyl
Bibis Familie lebt weiter in Angst. Religiöse Hardliner ziehen in der Nachbarschaft in Lahore, wo ihre Töchter und ihr Mann wohnen, von Haus zu Haus, um nach ihnen zu suchen und sie zu töten, erzählt Pastor Joseph Nadeem, der sich in den vergangenen acht Jahren um die Familie gekümmert hat. „Die Familie ist in großer Sorge“, sagt er. Seit Bibis Freispruch habe die Familie bereits fünfmal ihren Wohnort gewechselt.
Bibis Anwalt, Saiful Malook, hatte bereits wenige Tage nach dem Freispruch Pakistan verlassen, um in den Niederlanden Asyl zu beantragen, da er um seine Sicherheit fürchtete. Malook hofft, dass westliche Länder der Familie helfen werden. Einige Staaten, darunter auch Deutschland, haben Bibi und ihrer Familie Asyl angeboten. „Jeder, der in Pakistan der Blasphemie beschuldigt wird, kann dort nicht mehr leben“, erklärte Malook nach seiner Flucht aus Pakistan.
Pakistans mächtiges Militär hat stets eine unrühmliche Rolle der Radikalisierung des Landes gespielt. Auch im Fall von Asia Bibi hatte die Militärführung von Beginn an eine abwartende Haltung gegenüber den Protesten bezogen und die Regierung unter Premierminister Imran Khan in der Luft hängen lassen. Denn die religiösen Fanatiker führen einen Stellvertreterkampf, ohne dass sich die Generäle im Hauptquartier in Rawalpindi die Hände schmutzig machen müssen: ob gegen den Erzfeind Indien oder in Afghanistan, die Islamisten sind vielfältig einsetzbar.
Zunehmende Islamisierung
Diese stille Allianz zwischen den Islamisten und dem Militär macht Pakistan zunehmend zum Schauplatz religiöser Gewalt. Die Islamisierung einer einstmals liberalen Gesellschaft und das wachsende Netz islamischer Aufständischer erzeugen ein Klima der Angst und Verfolgung. Zielscheibe sind religiöse Minderheiten, wie Schiiten und Christen, aber auch Menschen mit liberale Ansichten, die den Zorn der Islamisten auf sich ziehen.
Die Blasphemie-Gesetze sind daher besonders gut geeignet, Atheisten, Andersdenkende, Islamkritiker, Christen und andere religiöse Minderheiten zu schikanieren und zu verfolgen. Bereits der Vorwurf der Gotteslästerung bedeutet Lebensgefahr. Immer wieder kommt es in solchen Fällen zu Lynchjustiz und Rachemorden. Im April 2017 wurde der Student Mashal Khan von einem Mob aus Kommilitonen auf dem Universitätscampus der Stadt Mardan gelyncht, weil er angeblich liberale Ansichten vertrat und nicht zum traditionellen Freitagsgebet ging. Hunderte Studenten prügelten und traten den 23-jährigen Journalismus-Studenten zu Tode und warfen seine Leiche aus einem Fenster im 2. Stock des Universitätsgebäudes.
Alle Versuche, das Blasphemie-Gesetz zu ändern, scheiterten stets am Widerstand religiöser Hardliner, denen das Gesetz als Mittel dient, ihre Anhänger zu mobilisieren. Bibi, eine mittellose Feldarbeiterin, die nie eine Schule besucht hat und nicht einmal ihren Namen schreiben kann, ist Opfer dieser Politik.
Auswanderung der Gebildeten
In der Punjab-Provinz, aus der Bibi stammt, werden sie und andere Christen abwertend als „chuhra“, bezeichnet. Das Wort bedeutet so viel wie dunkle Haut und beschreibt einen niedrigen sozialen Status, wie man ihn in Indien für die Kaste der Unberührbaren oder Dalits gebraucht. Nach der Unabhängigkeit Pakistans 1947 gab es zwei Gruppen von Christen im Land: arme, mittellose Landarbeiter, die in Dörfern lebten, und eine Gruppe gebildeter Christen in den Metropolen wie Lahore und Karachi, die zu Zeiten der britischen Kolonialherrschaft einen privilegierten Status innehatten.
Während die gut gebildeten Christen aufgrund ihrer besseren Chancen mehrheitlich schon in den frühen 1960er Jahren in die USA oder nach Europa auswanderten, hatten die armen Christen auf dem Land kaum Möglichkeiten, der zunehmenden Diskriminierung zu entkommen: Sie verließen ihre Dörfer, um sich in christlichen Vierteln in größeren Städten wie France Colony in Islamabad oder Joseph Colony in Lahore, oder in christlichen Siedlungen auf dem Land niederzulassen. Die Mehrheit arbeitet bis heute als Feldarbeiter, Straßen- oder Latrinenreiniger, bei der städtischen Müllabfuhr oder in Ziegeleien. Der Fall Asia Bibi zeigt, wie sehr soziale Vorteile und das indische Kastenwesen weiterhin den Alltag der armen Christen in Pakistan prägen.
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