Warum Kinder und Jugendliche so anders sind als früher

Von 
Klaus Hurrelmann
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Weil junge Menschen immer selbstbewusster werden, kommen auch auf Schule und Lehrer neue Herausforderungen zu. Das Verhältnis zu den Eltern ist eng und bietet Sicherheit.

Jede Generation wird von der Welt geprägt, in der sie aufwächst, und muss ihre eigenen Antworten auf diese Welt finden. In der frühkindlichen Entwicklung werden die Weichen für grundlegende Kompetenzen und Eigenschaften eines Menschen gelegt. Entscheidend ist die Zeit von der Pubertät bis zu dem Zeitpunkt, an dem ein Mensch vollständig im Erwachsenenleben angekommen ist, also grob der Lebensabschnitt zwischen 15 und 30 Jahren. Das, was ein junger Mensch in dieser Phase erlebt - historische Ereignisse, politische, wirtschaftliche, kulturelle und technische Gegebenheiten -, prägt mehrere aufeinanderfolgende Alterskohorten und schreibt ihnen gewissermaßen bestimmte Muster in ihre Persönlichkeit.

In der Nachkriegszeit hat Helmut Schelsky die Generation der 1925 bis 1940 Geborenen analysiert. Diese fand ein zerstörtes Land vor, das kulturell und politisch demoralisiert war. Wichtiger als die Aufarbeitung der Geschichte war in den Augen dieser Generation die Bewältigung der aktuellen Verhältnisse. Die katastrophalen Verhältnisse schweißten sie zu einer pragmatischen und zupackenden Handlungsgemeinschaft zusammen. Schelsky nannte sie die "skeptische Generation". Sie blickte nach vorn und tat mit der nötigen Nüchternheit und Skepsis das, was nötig und möglich war.

Generation mit "Sozialcharakter"

In der Folge haben viele Sozialisationsforscher diesen Ansatz aufgenommen. Es hat sich eine Definition von Generationen durchgesetzt, die jeweils Alterskohorten von 15 aufeinander folgenden Jahren zusammenfasst. Jede dieser Generationen ist durch kollektiv erlebte soziale, politische, technische und kulturelle Ereignisse geprägt, die Spuren in ihrem "Sozialcharakter" hinterlassen haben:

Die 1968er (1940 bis 1955 geboren) konnten sich nach den Aufbauerfolgen der skeptischen Generation an die fällige Auseinandersetzung mit der Generation ihrer Eltern machen, die in den Nationalsozialismus verwickelt war und die für sie die Ewiggestrigen verkörperten. Bereits in wirtschaftlich stabileren Verhältnissen aufgewachsen, rebellierten sie und prägten damit das Bild einer "politischen Revolution".

Die Babyboomer (1955 bis 1970) fanden eine wirtschaftlich deutlich verbesserte Ausgangslage vor. Sie bilden die bisher zahlenmäßig stärksten Jahrgänge in Deutschland, sind Kinder optimistischer Eltern. Sie wuchsen in einem geschützten Umfeld auf und erlebten zum ersten Mal nicht-autoritäre Familienverhältnisse. Sie sind die heute in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik dominierende Generation. Dort fallen sie durch großen Einsatz, hohe Betriebstreue und konzentriertes und effektives Arbeiten auf.

Irritierte Jugend

Die Generation X, zwischen 1970 und 1985 geboren, konnte ebenfalls in Sicherheit groß werden, obwohl sich erhebliche Krisenwolken am wirtschaftlichen Horizont zusammenzogen. Ihre Eltern schirmten sie aber erfolgreich von Unsicherheiten ab. Sie erfahren eine gute Ausbildung, können ihre Individualität voll entfalten, genießen die sichere Wohlstandsgesellschaft, zeigen aber wenig öffentliches und politisches Engagement, dafür Engagement für Lebensqualität und Umwelt. Sie haben einen hohen Leistungswillen und ein großes Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit.

Die zwischen 1985 und 2000 Geborenen bilden nach diesem Verständnis die gegenwärtige junge Generation. Sie sind die erste Generation, die in der Wissensgesellschaft aufwächst und die Digitalisierung aller Lebensbereiche erfährt. Sie haben in der formativen Jugendphase starke Unsicherheitserfahrungen machen müssen. Politisch waren für sie die Terroranschläge vom 11. September 2001 eines der ersten einschneidenden Ereignisse. Es folgte eine Reihe von Kriegen von Afghanistan und Irak bis zu Libyen, Syrien und der Ukraine. Hinzu kamen Umweltkrisen als Vorboten des Klimawandels, der Atom-GAU von Fukushima und nicht zuletzt die Finanz- und Wirtschaftskrise nach dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehmann Brothers 2008.

Überspitzt kann man sagen, diese junge Generation ist strukturell traumatisiert. Die tägliche Erfahrung zeigt ihr, dass es alles andere als selbstverständlich ist, einen Ausbildungsplatz und nach Ausbildung oder Studium eine entsprechende, manchmal überhaupt eine Arbeit zu finden. Die Angehörigen dieser Generation spüren, dass sie wirtschaftlich nicht mehr so gesichert leben wie frühere Generationen. Sie ahnen auch, wie unsicher die Planung ihrer gesamten Berufslaufbahn und damit auch ihre Alterssicherung geworden ist. Sie wissen: Jeder junge Mensch heute muss innerlich bereit sein, zu akzeptieren, dass sich wichtige Parameter der Lebensgestaltung von heute auf morgen verschieben können, ohne selbst den geringsten Einfluss darauf zu haben.

Charakteristisch ist der starke Selbstbezug, der Rückgriff auf die eigenen Bedürfnisse. Das macht diese Generation Y zu Ego-Taktikern. Das permanente Abwägen von Alternativen, der ständige Aufschub von Entscheidungen, das Kosten-Nutzen-Denken, das zeitweilige Spielen mit den tausend Möglichkeiten, die man hat und von denen man weiß, dass sie unter unglücklichen Umständen auch ins Nichts führen können, kennzeichnen ihre Lebensstrategie. Ihr Lebenslauf verliert die Gradlinigkeit im Festhalten an Grundsätzen, die noch für die Eltern, die überwiegend der Generation der Babyboomer angehören, typisch war.

Verlässliches Elternhaus

Abgefedert wird diese Erfahrung allerdings durch eine Rückversicherung: Denn zu den prägenden Erfahrungen der Generation Y gehört auch, sich immer auf das Elternhaus verlassen zu können und in einer Gesellschaft zu leben, die eine relativ sichere Wohlstandsdecke bietet. Dieser Aspekt hat sich gegenüber der vorangegangenen Generation X nicht verändert: Auch die "Xer" hatten einen engen Draht zu Mutter und Vater und konnten sich auf deren Hilfe verlassen. Die Beziehung der Ypsiloner zu ihren Eltern - in der Mehrzahl Babyboomer - ist noch um einige Grade konstruktiver und verbindlicher. Beide Generationen schmieden, wie die jüngste Shell-Jugendstudie wieder zeigte, ein Bündnis mit ihren Eltern, um sich in der unsicher gewordenen Welt zumindest ansatzweise abzusichern. So entsteht eine strategische Allianz zwischen zwei Generationen. Den Kindern bietet sie Sicherheit und Rückzugsmöglichkeiten, den Eltern Anschluss an die moderne Welt und die neuen Medien.

Wenig ist berechenbar, aber die Angehörigen der Generation Y sind überzeugt, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen zu können. Sie setzen auf ihre eigenen Kräfte des Organisierens und Managens. Die Organisation ihrer Bildung steht an erster Stelle - Bildung ist die wichtigste Variable, die die Generation Y selbst beeinflussen kann, um sich Optionen auf die Zukunft zu eröffnen.

Die Konsequenz: Niemals zuvor haben so viele junge Leute das Abitur angestrebt. Der Mittlere Abschluss, den heute rund 40 Prozent eines Jahrgangs erwerben, gilt immer mehr als Mindeststandard. Der Hauptschulabschluss hat kaum noch Wert. Nach aktuellen Erhebungen wollen fast 70 Prozent der Eltern, dass ihre Kinder Abitur machen. Schon über 50 Prozent schaffen derzeit diesen Abschluss tatsächlich. Niemals zuvor auch haben so viele junge Menschen studiert. 2011 überstieg die Zahl der Studierenden erstmals die derjenigen, die eine duale Ausbildung antreten. Die Generation Y setzt damit den Trend fort, der von der vorangegangenen Generation vorgezeichnet war.

Vor allem die jungen Frauen nehmen die Entwicklungsaufgabe Bildung und Qualifizierung sehr ernst. Sie punkten mit immer höheren und immer besseren Abschlüssen, überholen die jungen Männer und fallen durch ihren Ehrgeiz in der Lebensplanung auf. Sie wollen Beruf und Karriere ebenso wie Familie, Partner und Kinder miteinander verbinden. Die jungen Männer ziehen erst zögerlich mit. Sie tradieren teilweise noch alte Geschlechterrollen und schwenken nur allmählich auf eine flexiblere Männerrolle um.

Junge Männer, die diesen Wandel in ihrer Geschlechtsrolle nicht vollziehen, geraten im Vergleich dazu ins Hintertreffen. Sie gehören anteilmäßig besonders häufig zu den etwa 20 Prozent eines Jahrgangs, die weder einen guten Schul- noch einen guten Ausbildungsabschluss geschafft haben. Damit sind sie von vielen gesellschaftlichen und beruflichen Chancen abgeschnitten.

Gewachsenes Selbstbewusstsein

Die nächsten 15 Alterskohorten wachsen heran. Wie sind sie, oft als "Generation Z" tituliert, geprägt? Die seit 2000 Geborenen sind noch selbstverständlicher mit digitalen Erfahrungen groß geworden. Und sie spüren, ihre Zukunftschancen haben sich deutlich verbessert. In Ausbildung und Beruf wird um junge Leute bereits geworben, der viel beschworene Mangel an Fachkräften mit Berufs- und Studienabschluss macht sich bemerkbar. Sie dürfen entspannter sein als die Ypsiloner, weshalb man sie auch als "Generation R" für "relaxed" bezeichnen könnte. Noch ist schwer vorauszusagen, wie es weitergeht mit diesen Jugendlichen und welche Bezeichnung für sie angemessen ist. Die jüngste Shell-Jugendstudie zeigt aber bereits: Sie werden wieder politischer sein, kommen selbstbewusst daher und werden sich noch direkter und offensiver in ihre Alltagswelt in Familie und Schule einmischen als ihre Vorgänger, die Ypsiloner.

Diese jungen Leute kommen mit hohen Erwartungen in die Schulen: Das Bildungssystem soll ihnen, die als Digital Natives gewohnt sind, Wissen jederzeit online abzurufen, die gleichen Freiheiten bieten wie andere Lebensbereiche. Sie sind durch ihre permanente Arbeit am Computer und insbesondere durch intensive Spieltätigkeit gewohnt, regelmäßiges Feedback zu erhalten.

Das bedeutet für den Alltag des Unterrichts, dass Lehrer, Ausbilder und Dozenten viel größere Spielräume für Frei- und Eigenarbeit einräumen müssen als bisher. Ähnlich den Chefs in der Arbeitswelt verändert sich ihre Rolle vom Pauker zum Trainer, der bestimmte Aufgaben und Ziele vorgibt. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten diese Aufgaben dann in ihrem eigenen Rhythmus ab, mit selbstgewählten Methoden und Medien, und erhalten nach jedem größeren Lernabschnitt eine Rückmeldung.

Starke Individualisierung

Bereits die Generation Y, deren ältere Mitglieder jetzt im Berufsleben ankommen, demonstrieren, worum es geht: Sie unterminiert starre Hierarchien, wünscht Team- und Projektarbeit, fordert Rückmeldungen ein und möchte Beruf und Privates miteinander verbinden.

Meine These ist, dass es auch im Bildungssystem zu einer Verstärkung der Selbstständigkeit und der Individualisierung kommt. Die jungen Leute legen Wert darauf, aus der Passivität von Lernempfängern herauszutreten. Schon in der Schule wollen sie Produkte und Dienstleistungen erstellen, die für ihre Bildung nützlich sind, aber auch für die Nachbarschaft und das Gemeinwesen. Fazit: Es ist ein großer Gewinn für das Bildungssystem, dass die jungen Leute von heute so anders sind als früher. Sie stoßen einen Reformprozess an, der ohnehin fällig wird.

(Gekürzte Version des Vortrags

beim Lehrer-Bildungskongress

des in Weinheim) Beltz-Forums

Klaus Hurrelmann

  • Klaus Hurrelmann (Bild, Jahrgang 1944) ist ein deutscher Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler.
  • Nach langjähriger Tätigkeit an der Universität Bielefeld arbeitet er seit 2009 als Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin.
  • Außerdem führt Hurrelmann vergleichende Studien zu Einstellungen, Wertorientierungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen durch, die von verschiedenen zivilen Organisationen, Unternehmen und Stiftungen unterstützt werden.
  • Dazu gehören die Shell-Jugendstudie und Jugendstudien, die durch die Friedrich-Ebert-Stiftung gefördert werden, in 15 osteuropäischen und zentralasiatischen Ländern. (BILD: dpa)

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