USA - Ein Bericht vom sparsamen Selbstversorgerleben in einem Holzhaus am See begründete den zivilisationskritischen Mythos der Möglichkeit von Weltflucht

Wahre Amerikaner und ihre Sehnsucht nach Natur

Von 
Dieter Schulz
Lesedauer: 

Der Traum von Freiheit und einem Leben in Selbstbestimmtheit bewegt jeden US-Amerikaner, wie nicht zuletzt Jon Krakauers erfolgreich verfilmter Roman "Into the Wild" bewies. Die Grundlagen dieses Traums formulierte der Autor Henry David Thoreau einst in seinem Buch "Walden". Am 12. Juli wird bereits sein 200. Geburtstag gefeiert - aber er ist aktueller denn je.

Neue Welt - Alte Welt. Der Ruhm Henry David Thoreaus beruht zum einen auf "Walden" (1854), dem Bericht über das Experiment eines einfachen, naturnahen Lebens, der maßgeblich zur Entwicklung der ökologischen Bewegung und des Naturschutzes beigetragen hat; zum anderen auf dem Essay "Civil Disobedience" (1849), dessen Schlagwort vom "zivilen Ungehorsam" Bürgerrechtler und Protestbewegungen in aller Welt inspiriert hat, von Gandhi und Martin Luther King bis zu den AKW-Gegnern und Occupy Wall Street.

1817 in der Kleinstadt Concord, Massachusetts, geboren und fast sein ganzes Leben dort ansässig, gehörte Thoreau zum engsten Kreis der Transzendentalisten - einer Gruppe von Intellektuellen, die sich um den Ex-Pfarrer Ralph Waldo Emerson geschart hatten und in den 1840er Jahren Concord zum 'Weimar der USA' machten. Thoreau starb 44-jährig mitten in der Arbeit an Manuskripten, die neben Reisebüchern und Natur-Essays die größten Materialsammlungen seiner Zeit zu den nordamerikanischen Indianern, zu Flora und Klima seiner Heimat und nicht zuletzt ein Tagebuch von über 7000 Seiten umfassten.

Abneigung gegenüber Europa

In seinem Nachruf würdigt Emerson den einstigen Schüler Thoreau als Amerikaner reinsten Wassers: "Es hat nie einen wahreren Amerikaner gegeben als Thoreau." Dabei verweist Emerson auf Thoreaus Abneigung gegenüber Europa, einen Chauvinismus, der an Verachtung grenzte für eine in Traditionen und Konventionen erstarrte Kultur. Das Selbstverständnis, das sich in solchen Zeilen ausdrückt, entspricht einem der ältesten und bekanntesten Amerika-Stereotypen: dem von Amerika als der Neuen Welt, die gegenüber der unter der Last von Geschichte und Tradition erdrückten Alten Welt Europas die Chance eines Neuanfangs bietet. In Goethes Worten:

"Amerika, du hast es besser / Als unser Kontinent, das alte,

Hast keine verfallene Schlösser / Und keine Basalte."

In der Tat war Thoreau in seiner Einstellung zu Europa ein Chauvinist. Aber die Chance, die sich mit der Überlegenheit der Neuen gegenüber der Alten Welt bietet, ist in seinen Augen nicht nur weitgehend ungenutzt geblieben, man ist seines Erachtens dabei, sie systematisch zu verspielen: Drei Jahrhunderte nach der Landung der Pilgerväter sind unsere Kirchen in Dogmen und Ritualen erstarrt; 70 Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung der 13 Kolonien von England führen wir einen Kolonialkrieg gegen Mexiko und machen uns für die Sklaverei stark, die inzwischen selbst im Britischen Empire abgeschafft ist; und unser größter Trumpf, die riesigen Landstriche unberührter Natur, verkommt im Zeichen von Kommerz und Konsum zum Privatbesitz und damit zur Ware.

Verweigerung von Steuern

Thoreaus Chauvinismus versteht amerikanische Identität als Chance und Verpflichtung zugleich, und zwar im Sinne eines Regenerationsvorgangs, einer Wiedergeburt. In dem Maße, wie Thoreau dieses Ereignis, diesen Prozess, an sich selbst erfährt und uns anschaulich zu vermitteln versteht, wirken auch seine Texte als Energieträger, als Ladungen, die auf uns überspringen, oft als Irritation, aber selbst als Irritation stimulierend und in einem emphatischen Sinne belebend.

"Civil Disobedience" verarbeitet eine biografische Episode. Thoreau hatte sich geweigert, Steuern zu zahlen, und war für eine Nacht ins Gefängnis gesperrt worden. Seine Begründung: Ein Unrechtstaat wie Massachusetts habe jeden Anspruch auf Loyalität verwirkt. Dahinter steht der Fugitive Slave Act von 1850, ein Gesetz, mit dem sich die sogenannten freien Staaten im Norden verpflichteten, entlaufene Sklaven den Eigentümern im Süden zurückzugeben. Indem Massachusetts dieses Gesetz ausführt, verrät ausgerechnet der Staat, der sich am Unabhängigkeitstag, dem 4. Juli, als Wiege der Amerikanischen Revolution feiert, die Prinzipien der damaligen Rebellen. Aber auch unabhängig vom konkreten Anlass erzeugt die "Maschinerie" von Staat und Gesellschaft tagtäglich eine Starre, ein Erkalten des Herzens, das nicht nur die unmittelbaren Opfer des Systems schädigt, sondern auch seinen scheinbaren Nutznießern eine gespenstische Existenz aufzwingt und sie zu einem Tod im Leben verdammt. Als Ganzes ein Pamphlet, enthält "Civil Disobedience" eine typographisch hervorgehobene erzählerische Passage über den nächtlichen Gefängnisaufenthalt, der nicht als Einkerkerung, sondern als Befreiung aus dieser Maschinerie und zugleich als Geburt eines neuen Selbst erlebt wird.

Hoffnung auf Heilung

Die Instanz, an die Thoreau dabei in erster Linie appelliert, ist das Gewissen. Dabei versteht er das Gewissen nicht als Über-Ich im Sinn verinnerlichter sozialer Normen, sondern als lebenswichtiges Organ, ja als unser Herz; nur solange es unser Blut pulsieren lässt, sind wir am Leben. Damit schlägt er es dem Bereich zu, von dem er Heilung für sich selbst und die Gesellschaft erhofft: der Natur.

Nach der Entlassung aus dem Gefängnis eilt er auf einen der umliegenden Hügel zum Heidelbeersammeln. Wenn Natur hier einerseits als Fluchtraum und Gegenwelt zu den Institutionen von Staat und Regierung projiziert wird, so bildet andererseits die organizistische Bildlichkeit, mit der Thoreau das Gewissen zum Herzen des Einzelnen macht und als natürlichen Motor der Erneuerung in Dienst nimmt, eine Brücke zwischen beiden Bereichen.

In seinem posthum erschienenen Essay "Huckleberries" behauptet Thoreau nicht mehr und nicht weniger, als dass wir an der Heidelbeere genesen könnten. Und in dem Maße, wie sich Heidelbeeren und andere Wildfrüchte besonders reichhaltig in Amerika finden, ist Amerika ein in besonderer Weise ausgezeichnetes, gesegnetes Land. Ein mit Heidelbeeren bedeckter Hügel stellt wenigstens vorübergehend den paradiesischen Urzustand her; indem wir uns an den Beeren erfreuen und sie genießen, setzen wir die Geschichte außer Kraft und tauchen in das Paradies, die Zeit vor dem Sündenfall, ein. Dieses "Sakrament" kennt kein Tabu und keine Schlange.

Indem er das Beerensammeln mit der Eucharistie vergleicht, gibt Thoreau die atemberaubende Reichweite seines Projekts zu erkennen. Wir können an der Natur - und an Amerika als in besonderer Weise von der Natur gesegneter Region - genesen, wenn wir sie nicht noch mehr in die Enge treiben und stattdessen Freiräume für sie bereitstellen, Schutzgebiete, die jeglicher Nutzung entzogen sind. So fordert er in "Huckleberries": "Lasst uns versuchen, die Neue Welt neu zu halten." Entscheidend ist dabei, dass wir uns in ein Verhältnis zur Natur setzen, das durch Demut gekennzeichnet ist und nicht durch ökonomische Ausbeutung. Die Neue Welt wird nur erhalten beziehungsweise wiedergeboren werden, wenn es gelingt, die "Tempel der Natur" zu schützen.

Das Neue als Verpflichtung

In seinem Reisebuch "The Maine Woods" stellt sich Thoreau die Wanderung seines indianischen Führers als mythische Reise vor, der keine Geografie gerecht zu werden vermöchte, an Orte, wo man nicht nur nichts von der Alten Welt weiß, sondern auch nichts von jenem Amerika, das nach einem "European gentleman" (Amerigo Vespucci) benannt wurde. In Cape Cod schaut der Reisende am Schluss aufs Meer hinaus: "Hier kann man stehen und ganz Amerika hinter sich lassen." In "Walden" wiederum formuliert das Schlusskapitel einen Appell, der nach der vorangegangenen Hymne auf den Frühling fast etwas Bestürzendes hat. Das Buch, das Kapitel um Kapitel der "stillen Verzweiflung" des Status quo eine "sonnige" Sicht entgegensetzt, lässt im Schlusssatz selbst die Sonne hinter sich; sie ist "nur ein Morgenstern."

Indem er einen Fluchtpunkt jenseits der geografisch erfahrbaren Welt anvisiert, vertritt Thoreau einen Gestus, der Amerika zugleich nobilitiert und relativiert. Nobilitiert, indem Amerika, als Neue Welt, die Chance, aber auch die Verpflichtung, zu geistigen Höhenflügen bietet, die der Alten Welt unter der Last ihrer Geschichte schwerfallen dürften. Relativiert insofern, als Amerika nur eine Etappe auf einer Reise sein kann, die über Amerika hinauszielt. Chauvinismus im Verhältnis zu Europa geht deshalb Hand in Hand mit Dankbarkeit angesichts des Reichtums, mit dem der Amerikaner in besonderem Maße gesegnet ist, und Demut gegenüber einem Prinzip, das zugleich trägt und übersteigt.

Kein Raum für Patriotismus

Solche Dankbarkeit und solche Demut lassen keinen Raum für schwadronierenden Patriotismus, weder für die "Manifest Destiny"-Parole, mit der in den 1840er Jahren der Krieg gegen Mexiko gerechtfertigt wurde, noch für den Triumphalismus von "America first" und das "Make America Great Again" in unseren Tagen. Mit Thoreaus 200. Geburtstag am 12. Juli dieses Jahres hat jenes Amerika Grund zu feiern, dem der Thoreau-Fan John Cage anlässlich der 200-Jahrfeier der USA (1976) seine "Lecture on the Weather" widmete: "Ich widme dieses Werk den USA, dass sie ein Teil der Welt wie jeder andere werden mögen, nicht mehr, nicht weniger."

Gekürzte Version eines Vortrags am Institut in Heidelberg Deutsch-Amerikanischen

Dieter Schulz

  • Dieter Schulz ist emeritierter Professor am Anglistischen Seminar der Universität Heidelberg.
  • Nach einem dreijährigen Forschungsaufenthalt an der Yale Universität nahm er Professuren an den Universitäten Wuppertal und Stuttgart und Gastprofessuren an der University of New Mexico sowie der Oregon State University wahr.
  • Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter "Amerikanischer Transzendentalismus: Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau, Margaret Fuller" (1997).
  • Soeben erschien im Mattes-Verlag Heidelberg die Monografie "Henry David Thoreau: Wege eines amerikanischen Schriftstellers".
  • Schulz erhielt von der Ralph-Waldo-Emerson-Society den "Distinguished Achievement Award for 2013" für herausragende Leistungen in seinem Forschungsbereich. (malo)

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen