Das Jahr 1917 leitete eine neue Weltordnung ein, und Imperien gerieten ins Straucheln. Den Anfang machte die bürgerliche Revolution in Russland, die zu einer Demokratie führen sollte und in einer Diktatur mündete.
Am Anfang stand ein Mord. Ein Mord, der wie ein Zeichen dafür wirkte, wie zerbrechlich die überkommene Ordnung des Zarenreichs bereits geworden war. Am letzten Tag des Jahres 1916 wurde der Wunderheiler Rasputin durch Abgeordnete der Duma und einen Neffen des Zaren ermordet. Weit über den Kreis der Attentäter hinaus hatte man ihm in der Öffentlichkeit eine sexuelle Beziehung mit der deutschstämmigen Zarin Alexandra und einen wachsenden Einfluss auf Personalentscheidungen des Zaren unterstellt. Schon seit Sommer 1916 bündelten sich in diesem Skandal alle möglichen Vorstellungen von persönlicher Untreue, nationalem Verrat und einem Zaren, der all das zuließ.
Diese Konstellation erinnerte an die Schmähkampagnen, zu denen es im Vorfeld der französischen Revolution 1789 gegen die aus Österreich stammende Königin Marie Antoinette gekommen war: Auch damals war die Legitimation der Monarchie langsam erodiert, indem man die Königin skandalisiert hatte. Dass Nikolaus überhaupt nicht gegen die Attentäter vorging, wirkte wie das Eingeständnis der Machtlosigkeit und als Vorwegnahme des eigenen Herrschaftsverlusts, der kaum zwei Monate später im Februar 1917 erfolgte.
Doch was stand hinter dieser Krise? Warum verbanden sich in Russland früher als in allen anderen Gesellschaften Krieg und Revolution? Der Ausbruch des Krieges im Sommer 1914, die Auftritte des Zaren, die Segnung der Truppen durch orthodoxe Priester hatten für einen kurzen Moment viele Spannungen überdeckt: die sozialen Konflikte, die sich in den schnell wachsenden Industriestädten angesichts der dynamischen Industrialisierung des Zarenreichs bereits vor 1914 entwickelt hatten, aber auch die Spannungen zwischen den vielen ethnischen Gruppen innerhalb des Zarenreichs, die mehr Rechte forderten.
Militärische Krisen
Zugleich besaß das Parlament, die aus der Revolution von 1905 hervorgegangene Duma, nicht genug politisches Selbstbewusstsein, um eine durchgreifende politische Reform des Zarenreiches umzusetzen. Die militärischen Krisen, die sich bald nach Kriegsausbruch einstellten, verschärften diese Krisenmomente. Nach dem deutschen Sieg von Tannenberg 1914 und den deutschen Frontdurchbrüchen 1915 mussten Frankreich und Großbritannien ihre Hilfslieferungen für das russische Militär und die Kriegswirtschaft enorm steigern, um einen Zusammenbruch zu verhindern. Eine zunächst erfolgreiche große Offensive unter General Brussilow in Galizien schlug im Sommer 1916 nach wenigen Wochen und unter enormen Verlusten fehl.
Zum Zentrum der jetzt ausbrechenden Krise entwickelten sich nicht zufällig die russischen Großstädte. In ihnen kam es zu einem doppelten Gegensatz: zwischen Zar und Regierung einerseits und zwischen bürgerlich-aristokratisch dominierter Duma und den städtischen Unterschichten andererseits. Die Erschöpfung der russischen Kriegsgesellschaft offenbarte sich Anfang 1917, als aufgrund der militärischen Situation und des harten Winters die Versorgung der Bevölkerung in den Metropolen stockte.
Politischer Protest
Der Hunger ging mit einer schleichenden Kriminalisierung des Alltags und der Bildung von Schwarzmärkten einher. Gleichzeitig musste in vielen Betrieben die Arbeit eingestellt werden, weil keine Kraftstoffe mehr geliefert wurden. Viele Arbeiter wurden zwangsweise entlassen. Die Ankündigung der Behörden, ab März Brot zu rationieren, ließ die Krise bei Tausenden von entlassenen Arbeitern und Arbeiterinnen eskalieren. Am 23. Februar 1917 legten Textilarbeiterinnen in der Hauptstadt Petrograd die Arbeit nieder. Bereits am nächsten Tag beteiligten sich über 200 000 Demonstranten an den Protestzügen. Aber das war keine traditionelle Hungerrevolte mehr, die sich mit der Verteilung von Lebensmitteln hätte eindämmen lassen. Der Protest war politisch und enthielt bereits die Forderung nach einem Ende der Zarenherrschaft. Am 25. Februar wurde ein Generalstreik ausgerufen, in dessen Verlauf Geschäfte in vielen Städten geplündert wurden, während städtische Polizei und Militär kaum einschritten und damit die Machterosion der alten Gewalten offenbarten.
In dieser Situation kam es auf die Reaktion des Militärs an. Zwar hatte sich die Versorgung der Armee durch die Mobilisierung der Kriegsindustrien im Vorjahr und durch die alliierten Munitions- und Waffenlieferungen verbessert. Aber die russischen Armeen hatten bis Anfang 1917 etwa 2,7 Millionen Tote und Verwundete und vier Millionen Kriegsgefangene eingebüßt. In vielen Kasernen herrschte eine besonders explosive Stimmung, weil über zwei Millionen neue Rekruten, zumeist unter massivem Druck zum Kriegsdienst gezwungen, auf desillusionierte Veteranen und Invaliden trafen. Gerade die Garnisonen wurden daher zu Brennpunkten revolutionärer Aktionen.
Rücktritt der Regierung
Am 27. Februar trat die Regierung des Zaren zurück. Während sich in der Duma ein "Provisorisches Komitee zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung" etablierte, entstand außerhalb des Parlaments der Petrograder Sowjet als Arbeiter- und Soldatenrat, der zu zwei Dritteln aus desertierten Soldaten bestand. Im "Befehl Nr. 1" rief man dazu auf, in allen Teilen der Streitkräfte eigene Soldatenräte einzurichten. Zugleich begann man, mit den Roten Garden eine eigene militärische Organisation aufzustellen. So entstand eine bewaffnete Macht jenseits der Armee.
Zar Nikolaus unterschätzte die revolutionäre Dynamik, indem er wie in früheren politischen Konflikten reagierte und die Duma auflösen wollte. Aber während Tausende von Matrosen meuterten und die Kontrolle über zahlreiche Kriegsschiffe und Häfen gewannen, bildete sich ein Duma-Komitee und wandte sich gegen das Regime des Zaren. Daraufhin zwang Generalstabschef Michail Alexejew den politisch isolierten Zar Nikolaus am 3. März 1917 zur Abdankung. Es war also keine militärische Niederlage, der Verlust des politischen Vertrauens im Parlament und bei der städtischen Bevölkerung. Als Großfürst Michail, von seinem Bruder Nikolaus unter Umgehung seines Sohnes, des schwerkranken Zarewitsch, als Nachfolger eingesetzt, auf die Krone verzichtete, endete die Geschichte der Romanows, wurde aus dem Zarenreich eine Republik.
Tiefe Zäsur
Dieses zunächst relativ unblutige Ende der Zarenherrschaft und der Übergang zu einer neuen Staatsform unterstrichen, wie sehr die monar-chische Legitimität im Frühjahr 1917 durch den Krieg, die hohen Verluste und das Versagen des Kriegsstaates in der Heimatgesellschaft bereits ausgehöhlt worden war. Und doch verdeckten die weniger als 500 Toten eine tiefe Zäsur, die sich kaum ein Zeitgenosse im Sommer 1914 hätte vorstellen können und die jetzt zum Menetekel auch in anderen Gesellschaften Europas wurde: Der Krieg konnte in eine Revolution übergehen und die jahrhundertalten Dynastien wegfegen. Die Februarrevolution wirkte von außen betrachtet wie eine Befreiung vom Joch eines autoritären Regimes. Und es war kein Zufall, dass US-Präsident Woodrow Wilson dies als wichtigen Schritt auf dem Weg zur demokratischen Selbstbestimmung feierte. Die politische Macht in Petrograd fiel zunächst an eine neu gebildete Provisorische Regierung, die aus dem Dumakomitee und nach Verhandlungen mit dem Petrograder Sowjet gebildet wurde. Provisorisch sollte sie bis zur demokratischen Wahl einer verfassunggebenden Versammlung im Amt sein.
Doch schon bald erwies sich, mit welchen großen Erwartungen von städtischen Arbeitern, Soldaten an der Front und in den Garnisonen, Bauern und ethnischen Minderheiten sie konfrontiert war: Der Krieg gegen die Mittelmächte sollte fortgeführt, Russland durch umfassende Reformen in eine konstitutionelle Republik und eine moderne Staatsbürgergesellschaft mit Rechtsgleichheit aller Bürger verwandelt, eine Landreform durchgeführt und das Verhältnis zu den Nationalitäten neu definiert werden.
Aber gemessen an all diese Erwartungen blieben die Handlungsspielräume der Provisorischen Regierung, einer Regierung im Krieg, denkbar begrenzt. Die Revolution im Krieg provozierte Erwartungen, die sich nicht erfüllen ließen, und die Enttäuschung darüber beschädigte die Glaubwürdigkeit und Autorität der neuen politischen Akteure.
Explosion der Gewalt
Von ihrem Selbstverständnis her lehnten sich die russischen Revolutionäre vom Februar 1917 nicht zufällig an die Französische Revolution von 1789 an. Sie erschien als Modell für einen demokratischen Wechsel und eine rechtsgleiche Staatsbürgernation. Aber all das glich nicht das Legitimationsdefizit aus, das durch die Abdankung des Zaren entstanden war: Die Duma war nicht demokratisch gewählt, und in den nächsten Wochen wurde sie überhaupt immer mehr in den Hintergrund gedrängt, bis sie am 6. Oktober schließlich entlassen wurde. Die anstehenden Wahlen zu einer Verfassunggebenden Versammlung wurden wegen des Krieges immer wieder vertagt.
So operierte man in Russland seit Februar 1917 in einem verfassungsfreien Raum und vertagte zentrale politische Entscheidungen. Ein politisches Vakuum war die Folge, dessen Folgen vor allem auf dem Land spürbar wurden: Hier war die Landfrage so dringend geworden, dass die bäuerliche Bevölkerung selbst aktiv wurde, die Dorfgemeinden als Institution wieder belebte und eine eigenmächtige Landreform in Gang setzte. Und die Fortsetzung des Krieges durch eine große Offensive, die der neue Kriegsminister Alexander Kerensky als Kampf freier Bürger feierte, erwies sich im Sommer 1917 als Katastrophe.
Von dieser doppelten Enttäuschung profitierten die Bolschewiki und der im Frühjahr 1917 durch die deutsche Regierung aus dem Schweizer Exil nach Russland eingeschleuste Lenin. Sie wurden Nutznießer eines Umbruchs, der längst stattgefunden hatte.
Die monarchische Legitimität war längst zerfallen, der Umbruch weit fortgeschritten, bevor die zweite Revolution im Oktober 1917 in Russland und ein Jahr später in Mitteleuropa zum historischen Ereignis wurde. Im Augenblick der Machtübernahme waren diese Revolutionen nicht besonders gewaltsam, im Februar und im Oktober 1917 in Russland so wenig wie im November 1918 in Deutschland. Aber in der Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Revolution explodierte die Gewalt: Der Staatenkrieg in Russland ging in einen Bürgerkrieg über, der ab Ende 1917 mehr Opfer als der Weltkrieg bis dahin kostete.
Jörn Leonhard
- Jörn Leonhard ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg und seit 2015 Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
- 2014 erschien "Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges", die mit dem NDR-Kulturpreis für das beste Sachbuch des Jahres 2014 ausgezeichnet wurde.
- Derzeit forscht er als Senior Fellow am Historischen Kolleg München zu seinem neuen Buch "Der überforderte Frieden. Eine Weltgeschichte 1918-1923". (BILD: privat)
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