Rückblick - Ein Schriftsteller zieht Bilanz des zu Ende gehenden Jahres / Plädoyer für eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung an Entscheidungen

"Unser politisches System weist essenzielle Mängel auf"

Von 
Ilija Trojanow
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"Bürgerkomitees, in denen Spezialisten neben Laien sitzen, kommen zu ausgewogeneren Entscheidungen als die Repräsentanten des Staates und der Industrie." Zu dieser Bewertung kommt der Schriftsteller Ilija Trojanow beim Blick auf 2016. Seine Vorschläge für 2017 heißen: intensivere Teilhabe des Volkes und mehr Transparenz in der Politik, anstatt hinter verschlossen Türen zu entscheiden.

Was soll man über ein Jahr sagen, das mit dem Tod von David Bowie begann und mit dem Tod von Leonard Cohen und George Michael endete? Zwischendrin verstarb auch noch der musikalische Furor namens Prince. Gewiss, es gab in diesem 2016 größere Tragödien und Katastrophen (dazu später mehr), aber an Symbolkraft sind diese Todesfälle kaum zu überbieten. Bowie war ein Wandlungs- und Verwandlungskünstler, der wie kaum ein anderer die Fähigkeit des Menschen repräsentierte, sich in seinen verschiedenen Neigungen auszuprobieren, Identität somit als dynamischen Prozess zu begreifen, nicht als Fingerabdruck, nicht als DNA. Cohen hingegen war ein religiöser Freidenker, der jüdisch-mystische Gedichte geschrieben hat, bevor er in ein buddhistisches Kloster eintrat. Eines Nachmittags, vor vielen Jahren, schwamm er in einem Becken in Bombay neben mir, sein Kopf wie jener eines schwarzen Schwans weit aus dem Wasser ragend, unansprechbar schön.

Bestenfalls Pyrrhussiege

Solche entfesselten Freiheiten schöpferisch-eigenwilliger Menschen entsprechen nicht mehr dem Zeitgeist, werden inzwischen auch in Europa und Nordamerika wieder in Frage gestellt. 2016 wird in die Geschichte eingehen als das Jahr, in dem in einigen Ländern dieser Welt (zum Beispiel in Großbritannien, den Philippinen und den USA) eine große Zahl von Bürgerinnen und Bürgern einer vermeintlich linksliberalen Elite eins ausgewischt hat. Das Resultat kann man bestenfalls als Pyrrhussieg bezeichnen.

Denn nicht nur ist die Existenz einer solchen Elite fragwürdig, sondern auch die Einschätzung, dass just diese Schuld haben soll an der wachsenden sozialen Schere, an der Jugendarbeitslosigkeit und Altersarmut, an der ökologischen Verwüstung. Denn die "Protestwähler" entscheiden sich merkwürdigerweise für politische Kräfte, die der tatsächlichen Elite (den Megareichen, dem Finanzkapital, den großen Unternehmen) in die Hände spielen. Selten zuvor ist so klar zu erleben gewesen, wie die Sehnsucht nach Veränderung aufgrund einer fatalen nostalgischen Schwäche für die Vergangenheit zu einer Zementierung der realexistierenden Verhältnisse führt. Der Wutwähler gräbt sich tiefer in sein eigenes Loch hinein.

Jetzt schon ist in Großbritannien absehbar, dass gerade die ärmeren Bevölkerungsschichten unter den Folgen des Brexit leiden werden, genauso wie selbst ein politischer Idiot im aristotelischen Sinn (jemand, der sich weitgehend aus der Politik heraushält, d. Red.) erkennen kann, dass in den USA hinter der Maskerade von Donald Trump der militärisch-finanzindustrielle Komplex seinen Einfluss stärkt, seine Macht erweitert. Inzwischen pfeifen selbst die Spatzen Wahrheiten vom Dach, die noch vor zehn Jahren als vulgärmarxistisch beschimpft worden wären. Wenn nur noch Generäle und Milliardäre regieren, müssen die realen Machtverhältnisse nicht mehr entlarvt werden, denn sie sitzen am Kabinettstisch. Und in den Philippinen thront ein Mann im Präsidentenpalast, der Drogenhändler und Junkies kurzerhand exekutieren lässt (früher hat er noch selbst Hand angelegt, aber die vielen Termine als Staatschef lassen ihm keine Zeit). Zwar dürfte jedem Analphabeten klar sein, dass Drogenhandel und die Abhängigkeit die Folge - und nicht der Verursacher - von sozialer Ungerechtigkeit sind. Aber offenbar unterstützen viele Philippinen diese Morde von Staats wegen wahrscheinlich als Ventil, um ihren existenziellen Zorn an irgendjemandem auszuleben. Gleichzeitig sind sie so sehr abgelenkt, dass sie sich nicht gegen die tatsächlichen Gründe für ihre Marginalisierung auflehnen.

Einschränkung von Freiheiten

In ganz Europa sind 2016 rechte Parteien erstarkt, die keine Alternative zum neoliberalen System bieten (nationalstaatliche Schranken sind kein wirtschaftliches Allheilmittel), insofern nichts Wesentliches verändern werden, außer die individuellen Freiheiten einzuschränken. So hat die neue polnische Regierung schon Anfang des Jahres die finanzielle Unterstützung für das anerkannte "Institut für die Wissenschaften vom Menschen" in Wien einstellen lassen, einen unabhängigen akademischen Inkubator, in dem kritisch über Gesellschaften und Individuen geforscht wird.

Schon seit je besteht das Problem der repräsentativen Demokratie darin, dass erstaunlich viele Wähler, sei es aus mangelnder Bildung oder wegen anderer Mängel, sich an der Urne gegen ihre ureigensten Interessen entscheiden. Es war makaber, bei den Wahlen in den USA zu erleben, wie man Menschen in prekären Lebensverhältnissen mit billigen Ressentiments aufstacheln kann, nicht aber mit gesamtgesellschaftlichen Umverteilungsplänen, etwa durch die Einführung von Vermögen- oder Erbschaftssteuern. Offensichtlich glauben jene, die keine Chance haben, sie müssten unbedingt dafür sorgen, dass ihnen eines Tages, wenn sie selbst zu Millionären geworden sind, keine Solidarität abverlangt wird. Allerdings wissen wir, dass selbst bei uns in Deutschland, wo es noch gerechter zugeht, die soziale Mobilität stark eingeschränkt ist - wie bei einem Fahrstuhl, der meist unter Wartung steht. 2016 hat also gezeigt, dass unser politisches System, bei dem die Bürgermitsprache sich in Wahlen erschöpft, essenzielle Mängel aufweist. Weswegen, um einem Hoffnungsschimmer das abschließende Wort zu erteilen, eine der Lösungen darin bestehen könnte, die Teilhabe der Bevölkerung auszuweiten und zu intensivieren.

Partizipation Demokratie ist ein Konzept, das forciert werden sollte. Es ist nicht einzusehen, wieso Bürokraten und Lobbyisten die allermeisten Entscheidungen fällen, zudem hinter verschlossenen Türen (es gehört zu den Absurditäten unserer Zeit, dass den Bürgern immer mehr Transparenz oktroyiert wird, der Staat hingegen zunehmend intransparenter wird).

Gute Erfahrungen in Irland

Bürgerkomitees, in denen Spezialisten neben Laien sitzen, kommen zu ausgewogeneren Entscheidungen als die Repräsentanten des Staates und der Industrie. Das haben Erfahrungen in Island, Belgien und Irland gezeigt, im Letzteren sogar bei der Formulierung einer Verfassungsänderung zur Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe. 33 Politiker und 66 ausgeloste Bürger haben in medial vermittelten, ausführlichen Beratungen um einen Kompromiss gerungen, der dann von einer beachtlichen Mehrheit der Bevölkerung in einer Volksbefragung gutgeheißen wurde. Zum Jahresanfang dürfen wir uns - in guter, alter Tradition - etwas wünschen. Ich wünsche mir ein Ende der Kompromisse. Wie oft müssen wir uns anhören, Politik sei die Kunst des Möglichen. Aber in Zeiten, in denen Grundsätzliches in Frage gestellt wir, muss das politische Verhalten des Einzelnen erst einmal und vor allem darin bestehen, den autokratischen, intoleranten Kräften die Stirn zu bieten. Wer also stets und ständig der Zusammenarbeit nach dem Mund redet, der vermeidet es, jene klaren Grenzen zu ziehen, ohne die es eine halbwegs freie und gerechte Gesellschaft nicht geben kann. Nach dem Annus horribilis 2016 müssen wir erst recht verteidigen, was David Bowie und Leonard Cohen besungen haben: den Aufbruch des Einzelnen in das Reich der unbegrenzten Möglichkeiten.

Ilija Trojanow

  • Ilija Trojanow wurde 1965 in Bulgarien geboren. 1971 flohen seine Eltern mit ihm nach Deutschland, wo sie in München politisches Asyl erhielten. Ein Jahr später zog die Familie nach Kenia, wo sein Vater als Ingenieur arbeitete. Von 1972 bis 1984 lebte Trojanow in Nairobi - unterbrochen von einem dreijährigen Aufenthalt in Deutschland (1977-1981).
  • Er studierte von 1984 bis 1989 Jura und Ethnologie an der Maximilians-Universität in München. 1989 gründete er den Marino Verlag, der auf afrikanische Literatur spezialisiert ist.
  • 1998 übersiedelte Trojanow nach Bombay. Aus Indien schrieb er Reportagen - so für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung und die Neue Zürcher Zeitung.
  • Trojanow wurde mit verschiedenen Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter dem Berliner Literaturpreis 2007 oder dem Würth-Preis für Europäische Literatur (2010).
  • Trojanow war Gastprofessor an mehreren Universitäten - unter anderen an der Freien Universität Berlin, an der Universität Salzburg oder am Dartmouth College in New Hampshire
  • 2012 war er im Rahmen der Lesereihe europa_morgen_land (!) zu Gast bei Lesen.Hören in der Alten Feuerwache Mannheim. (her)

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