Erinnerung ist nicht nur eine Frage des Gehirns, sondern der gesamte Körper stellt ein Gedächtnis dar. Gerüche, Bewegungen, Töne, Räume und Gegenstände sind sinnlich gespeichert - erklärt ein Psychiater und Philosoph aus Heidelberg.
Unter Gedächtnis verstehen wir für gewöhnlich die Fähigkeit, sich an bestimmte Erlebnisse in der Vergangenheit zu erinnern oder sich Daten und Kenntnisse zu merken und abzurufen.
Aber mit der bewussten Erinnerung ist das Phänomen des Gedächtnisses bei weitem nicht erschöpft, denn durch Wiederholung und Übung haben sich Gewohnheiten gebildet; eingespielte Bewegungsabläufe sind "in Fleisch und Blut" übergegangen, zu einem leiblichen Vermögen geworden - der aufrechte Gang, das Sprechen oder Schreiben, der Umgang mit Instrumenten wie einem Fahrrad, einer Schreibmaschine oder einem Klavier; schließlich aber auch das selbstverständliche Sich-zurecht-Finden in vertrauten Räumen oder Situationen.
Offenbar gibt es außer dem bewussten Erinnerungsgedächtnis ein leibliches Gedächtnis. Die empirische Gedächtnisforschung hat dieses eigenständige Gedächtnissystem erst in den 1970er Jahren entdeckt. In der Folge unterschied man das explizite und das implizite Gedächtnis. Das explizite Gedächtnis enthält einzelne Erinnerungen, die sich vergegenwärtigen oder beschreiben lassen. Das implizite Gedächtnis kann weitgehend mit dem Leibgedächtnis gleichgesetzt werden. Ein leibliches Können, eine Gewohnheit hat sich entwickelt, das aber nicht oder nur schwer verbalisierbar ist - wir wären kaum in der Lage zu beschreiben, wie wir etwa einen Walzer tanzen.
Vertraute Wahrnehmungsmuster
Das Leibgedächtnis weist verschiedene Formen auf. Als prozedurales Gedächtnis sind die schon erwähnten sensomotorischen Vermögen des Leibes zu bezeichnen: automatische Bewegungsabläufe, eingespielte Gewohnheiten, Umgehen mit Instrumenten ebenso wie die Vertrautheit mit Wahrnehmungsmustern. Ich finde automatisch die richtigen Tasten meines Computers, ohne angeben zu können, wo sich auf der Tastatur die Buchstaben befinden; die gedachten Worte verwandeln sich von selbst in die Bewegungsgestalten, und das Wissen von den Tasten ist in meinen Fingern.
Das prozedurale Gedächtnis entlastet damit unsere Aufmerksamkeit von einer Überfülle von Details und ermöglicht den selbstverständlichen Lebensvollzug, ohne dass wir darauf achten oder uns erinnern. Das Handeln wird erleichtert, indem wir uns statt den einzelnen Bewegungen den Handlungszielen zuwenden können. Es genügt eine anfängliche, zielgerichtete Intention, um den vollständigen Handlungsbogen auszulösen. Der Pianist kann sich auf die Musik selbst richten, sich "beim Spielen zuzuhören". Leibliches Vertrautsein mit den Dingen, Gewohnheit bedeutet Vergessen, Absinken des bewusst Getanen und Erlebten in das Unbewusste.
Raum und Situation
Auf der anderen Seite bedeutet jede Gewohnheit eine Einschränkung, da sie das Wahrnehmen und Tun auf vorgeformten Pfaden hält, die nicht ohne eine gewisse Anstrengung verlassen und neu gebahnt werden können. Am deutlichsten wird daher das leibliche Gedächtnis in der Störung erfahrbar, wenn etwas Gewohntes fehlt oder sich verändert hat - etwa, wenn man beim Autofahren von der Gangschaltung auf Automatik umstellen muss. Gewohnheit ermöglicht und hemmt zugleich.
Dass das Leibgedächtnis auch an Situationen orientiert ist, in denen wir uns befinden, und damit ein situatives Gedächtnis ist, erkennen wir am Beispiel einer Störung des Gewohnten - etwa einer Umstellung des Mobiliars, die jemanden anstoßen lässt, wo er sonst selbstverständlich seinen Weg fand. Daher ist es zugleich ein Raumgedächtnis; es verhilft dazu, sich im Raum der Wohnung, der Nachbarschaft, der Heimat zurechtzufinden. Situationen sind aber auch mehr als räumliche Gebilde; es sind ganzheitliche, unzerlegbare Einheiten leiblicher, sinnlicher und atmosphärischer Wahrnehmung: ein Fußballspiel im tobenden Stadion, eine Bootsfahrt auf schäumendem Meer, ein Spaziergang durch die nächtlich erleuchtete Großstadt.
Mit ähnlich wiederkehrenden Situationen durch Gewohnheit vertraut zu sein, ist nun das, was wir als Erfahrenheit bezeichnen. Der Erfahrene erkennt mit geschultem Blick das Wesentliche oder Charakteristische einer Situation; er entwickelt schließlich einen "siebten Sinn", ein Gespür oder eine Intuition für sie. Der Torjäger hat den "Riecher" für torgefährliche Situationen im Strafraum.
Der erfahrene Psychiater richtet sich bei der Diagnose nicht nur nach einzelnen Symptomen, Befunden und Verlaufsdaten, sondern nach dem Gesamteindruck, den er von einem Patienten und seiner Lebenssituation gewinnt. Kein Film oder Lehrbuch kann dieses eigene Erleben einer Diagnose und ihres besonderen Kolorits ersetzen.
Reagieren der Körper
Das Beispiel der psychiatrischen Diagnostik hat uns bereits zu den Situationen geführt, die für uns Menschen wohl am bedeutsamsten sind: die konkrete, leibhaftige Begegnung mit anderen, die zwischenleibliche Situation. Sie ist in einem solchen Maß bestimmt von den Vorerfahrungen mit Anderen, dass wir auch von einem zwischenleiblichen Gedächtnis sprechen können, das in jeder Begegnung auf meist kaum bewusste Weise wirksam ist.
Sobald wir mit einem anderen Menschen in Kontakt treten, interagieren unsere Körper miteinander, tasten sich fortwährend ab, lösen subtile Empfindungen aus. Die Körper verstehen einander, ohne dass wir genau sagen könnten, wodurch und wie das geschieht. In diese Sphäre gehört auch der erste Eindruck, den wir von einem Menschen erhalten. Er erfasst sicher nicht nur die äußere Gestalt seines Körpers, sondern etwas von seiner Wesensart, von seinem persönlichen Stil, ohne dass wir dessen Merkmale im Einzelnen nennen könnten.
Die Kraft der Rhythmik
Aufgrund der Fortschritte entwicklungspsychologischer Forschungen können wir heute die Entwicklung des zwischenleiblichen Gedächtnisses besser nachvollziehen. Diese Forschungen haben gezeigt, dass die motorische, die emotionale und die soziale Entwicklung in der frühen Kindheit nicht auf getrennten Bahnen verlaufen, sondern eng verknüpft sind. Daraus entsteht schon in den ersten Lebensmonaten ein leibliches Wissen, wie man mit anderen umgeht - wie man mit ihnen Vergnügen hat, Freude ausdrückt, Aufmerksamkeit erregt, Ablehnung vermeidet. Es ist ein zeitlich organisiertes, gewissermaßen "musikalisches" Gedächtnis für die Rhythmik, die Dynamik und die "Untertöne", die in der Interaktion mit dem Anderen unhörbar mitschwingen.
Diese Kommunikation schlägt sich beim Kind in bestimmten Verhaltenserwartungen und -bereitschaften nieder. Aber auch Gefühlsreaktionen wie Angst oder Scham übertragen sich auf das Kind, wenn die Eltern sich so verhalten, als ob die Welt gefährlich und feindselig wäre. Dazu kommt die durch Erziehung vermittelte Einübung von Verhaltensnormen und Rollen. Diese verinnerlichten Haltungen dienen nicht zuletzt dazu, spontane leibliche Impulse zu hemmen, stehen also im Dienst sozialer Einordnung.
Alle diese einheitlichen leiblichen, emotionalen und Verhaltensbereitschaften, die in Fleisch und Blut übergegangen sind wie das Gehen oder Schreiben, sind zu dem geworden, was ich leibliche Persönlichkeitsstruktur nenne. Leibliche Haltungen und Verhaltensweisen sind zugleich untrennbar verknüpft mit Interaktionsmustern; sie bringen grundlegende Gefühle, Einstellungen und Beziehungen zu den anderen zum Ausdruck. So enthält etwa die unterwürfige Haltung gegenüber einer Autoritätsperson zugleich Haltungs- und Bewegungskomponenten - gebeugter Oberkörper, hochgezogene Schultern, Bewegungshemmung, Interaktionskomponenten wie respektvoller Abstand, leise Stimme, Zustimmung, und Gefühlskomponenten wie Respekt, Demut, Ängstlichkeit. Unsere Persönlichkeit ist in unserem Leibgedächtnis mitverankert.
Dass Schmerzerfahrungen in das Leibgedächtnis eingehen, ist bekannt. "Gebranntes Kind scheut das Feuer", sagt das Sprichwort. Denken wir an eine ernstere Verletzung, die uns, wie wir sagen, "noch in den Knochen sitzt", und die zu einer unwillkürlichen Schonhaltung geführt hat: Der Körper meidet bedrohliche Situationen oder Gegenstände. Daher hat auch eine Erziehung, die vorwiegend auf Zwang, Verbot und Abschreckung beruht, den Schmerz schon immer als Hilfsmittel der Disziplinierung zu nutzen gewusst.
Teil der Identität
Einschränkende und schmerzhafte Erlebnisse schreiben sich dem Leibgedächtnis ein und können so auch zu späteren psychosomatischen Leiden führen. Etwa die Hälfte von Patienten mit chronischen Schmerzstörungen haben früher schwere Schmerz- und Gewalterfahrungen erlitten, wurden zum Beispiel als Kinder häufig körperlich bestraft.
Die Reaktivierung des Schmerzgedächtnisses ist auch nach langer Latenzzeit möglich, so dass spätere Erfahrungen von Demütigung oder Versagen akute Schmerzsyndrome auslösen können, die den Betroffenen selbst unerklärlich bleiben. Die gravierendste Form der Einschreibung in das Leibgedächtnis stellt das Trauma dar - das Erlebnis eines schweren Unfalls, von Vergewaltigung, Folter oder Todesbedrohung.
Das Trauma ist ein Ereignis, das sich nicht aneignen, nicht in einen Sinnzusammenhang integrieren lässt. Auch beim traumatischen Gedächtnis werden wie beim Schmerzgedächtnis Abwehrmechanismen und Vermeidungen installiert, um den schmerzhaften Gehalt der Erinnerung zu isolieren, zu vergessen, zu verdrängen. Das Trauma entzieht sich der bewussten Erinnerung, bleibt aber umso virulenter im Leibgedächtnis präsent. Auf Schritt und Tritt kann der Traumatisierte auf etwas stoßen, das in ihm das Trauma wieder wachruft. Vor allem aber hat sich das zwischenleibliche Gedächtnis des Traumatisierten tiefgreifend verändert: Geblieben ist die latente Empfindung eines wehrlosen Ausgesetztseins, einer atmosphärisch gespürten Bedrohung.
Fazit: Alles, was wir wahrnehmen oder tun, hinterlässt eine Spur in unserem leiblichen Gedächtnis. So besitzen Geruchs- oder Geschmacksempfindungen, Melodien oder die Atmosphären vertrauter Plätze das Vermögen, die Vergangenheit in uns wiederzuerwecken; sie sind gleichsam aufgeladen mit den intensivsten Erinnerungen, die wir kennen. Das Leibgedächtnis ist der zugrundeliegende Träger unserer Lebensgeschichte, letztlich unserer persönlichen Identität. Es enthält nicht nur die gewachsenen Bereitschaften unseres Wahrnehmens und Verhaltens, sondern auch Erinnerungskerne, die uns mit unserer biografischen Vergangenheit auf intensivste Weise verbinden, und die zugleich Quellpunkte neuer Entwicklungen und Impulse bilden können.
(Gekürzte Version eines Vortrags im Deutsch-Amerikanischen Institut, Heidelberg)
Thomas Fuchs
- Thomas Fuchs (Bild), geb. 1988 in München, studierte Medizin, Philosophie und Wissenschaftsgeschichte.
- Promotion 1990 in Medizingeschichte.
- 1995 Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie.
- 1999 Habilitation in Psychiatrie an der Universität Heidelberg sowie Promotion in Philosophie.
- 2010 Habilitation auch in Philosophie und Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie in Heidelberg. (malo)
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