Seit Monaten erschüttern Proteste Venezuela. Auch Wissenschaftler wie Liliana Kurz und Jeff Wilkesman sind nicht mehr sicher. Ein Gespräch über Ängste und Hoffnungen.
Frau Kurz, Herr Wilkesman: Seit April sind den Vereinten Nationen zufolge 130 Menschen bei Protesten in Venezuela ums Leben gekommen. Haben sich diese Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition auch auf das Universitätsleben ausgewirkt?
Liliana Kurz: Sehr. Ich kann mich noch genau an den 5. April erinnern. An dem Tag hätte ich, wie immer, zur Mittagszeit von der Universität in Valencia losfahren sollen, um meine Kinder abzuholen. Aber schon vormittags haben Kollegen zu mir gesagt: Geh' nicht raus, da vorne gibt es wieder Proteste. Nach zwei Stunden wurde es dann so schlimm, dass die Polizei und auch das Militär in die Universität gekommen sind und Tränengas-Bomben zu uns hineingeworfen haben.
Jeff Wilkesman: Du warst fast fünf oder sechs Stunden eingesperrt, oder?
Kurz: Ja, und man hat dann auch wirklich Angst, ob man da wieder rauskommt, denn wir waren wirklich sehr bedroht. Ich habe deshalb auch Fotos gemacht, die über Twitter raus sind. Irgendjemand hat dann die Rektorin angerufen, und als sie kam, sind die Polizei und das Militär wieder gegangen. Aber dieser Tag war der Anfang vom Ende...
Wilkesman: Seitdem sind wir nicht mehr zur Arbeit gegangen.
Kurz: Die Rektorin hat immer wieder gesagt: Ihr müsst nicht kommen, es ist zu gefährlich.
Gab es an dem Tag auch Festnahmen und Gewalt?
Kurz: Ja, es gab Festnahmen und Verletzte. Wenn die Polizei Verletzte erwischen kann, nimmt sie diese mit, und man weiß nicht mehr, was mit ihnen passiert.
Wurden auch Kollegen von Ihnen festgenommen?
Kurz: An diesem Tag nicht.
Wilkesman: Studenten aber schon.
Kurz: Ich weiß nicht mehr genau, wann Santiago Guevara festgenommen wurde . . . (Der Wirtschaftsprofessor wurde am 23. Februar 2017 inhaftiert, Anm. d. Red) Er war der erste Professor von unserer Universität, der festgenommen wurde, weil er sich politisch geäußert hat.
Inwiefern hat er sich politisch geäußert?
Wilkesman: Er hat Artikel in Zeitungen veröffentlicht, in den wenigen Zeitungen, die noch aktiv sind in Venezuela. Ich glaube in der "El Nacional".
Kurz: Und plötzlich, von jetzt auf morgen ...
Wilkesman: ... war er verschwunden. Wir haben per WhatsApp mitbekommen, dass er verhaftet wurde.
Kurz: Ja, und er ist noch immer in Haft.
Wilkesman: Bis jetzt sind insgesamt fünf von unseren Kollegen festgenommen worden.
Haben Sie eine Vermutung, wo sie sich befinden? Stehen Sie in Kontakt?
Kurz: Nein, man weiß nicht so wirklich, was mit ihnen passiert ist.
Wilkesman: Nicht einmal die Familienmitglieder der Kollegen . . .
Kurz: Auch nicht die Anwälte. Diese schreiben oft in den Medien: Wir können nicht mit ihnen reden, wir dürfen uns nicht mit ihnen in Kontakt setzen. Manchmal gibt es kleine Demos, "Freiheit für Santiago Guevara" zum Beispiel, aber die haben nichts geholfen.
Wie hat es vor den Aufständen um die Autonomie der Universität gestanden? War Regimetreue wichtig oder konnte man unabhängig arbeiten?
Kurz: Man hat immer gesagt, dass die Universitäten noch so ziemlich die letzte Bastion sind, in der man arbeiten kann, ohne regimetreu sein zu müssen. Aber wie macht das dann die Regierung? Sie kürzt uns das Geld für alles. Schon seit mehreren Jahren haben sie immer wieder Gehälter gekürzt. Hier in Deutschland kann man sich das natürlich nicht vorstellen, aber wir verdienen gerade mal ein bisschen mehr als Mindestlohn. Und so hat es die Regierung dann geschafft, dass sehr gute Wissenschaftler und Professoren nach und nach aus dem Land weg sind.
Dass Geld an den Universitäten gekürzt wird, hat das nicht einfach mit der wirtschaftlichen Lage in Venezuela zu tun?
Kurz: Es hat mit beidem zu tun. Natürlich, die Wirtschaft hat weniger Geld. Aber wenn man sieht, dass einige Universitäten, die von der Regierung gegründet wurden, unterstützt werden, kann man schon fragen, wieso haben wir kein Geld? Das ist die einfachste Art der Regierung, zu unterdrücken.
Wilkesman: Aber es hängt natürlich auch mit der Krise, der Inflation, der Entwertung der Währung zusammen. Es ist nicht unbedingt so, dass der Etat gekürzt wird, der bleibt immer gleich, ist aber im nächsten Jahr schon nur noch die Hälfte wert. Früher konnte man damit zum Beispiel Computer kaufen, heute nicht mal mehr ein Päckchen Papier.
Wie muss man sich das Alltagsleben mit Familie in Venezuela vorstellen?
Kurz: Es gab eine Zeit, in der wir nicht einmal mehr Brot hatten. Lebensmittel, die man zu einem normalen Preis mit dem normalen Gehalt kaufen kann, gibt es nur wenige. Jeder darf nur einmal in der Woche einkaufen und nur dann, wenn die eigene ID-Nummer dran ist. Endet diese beispielsweise mit 0, kann derjenige montags einkaufen. Meine endet mit 3, ich komme also dienstags dran. Aber wenn die Ware jetzt erst mittwochs gekommen ist, ist schon alles weg . . .
Wilkesman: . . . Pech gehabt . . .
Kurz: Dann sind wir die ganze Woche ohne Mehl, Öl, was auch immer. Wenn man gerade etwas Gehalt bekommen hat, kann man vielleicht noch etwas auf dem Schwarzmarkt kaufen, sonst nicht. Man steht also auf, schaut sofort bei WhatsApp nach - welche Lebensmittel kommen heute? Oft schreiben die Kollegen auch: Die Vorlesung fällt heute aus, es ist mein Tag, es ist Maismehl gekommen. Manche stellen sich dann um fünf Uhr morgens in der Schlange an und sind vielleicht nachmittags um drei, vier endlich wieder draußen.
Welche Rolle spielen Soziale Medien wie Facebook bei der Organisation von Lebensmitteln?
Kurz: Durch diese Medien erfährt man, was wirklich passiert. Also hauptsächlich in den WhatsApp-Gruppen. Dort steht, wo gerade etwas zu essen kommt, oder in den letzten Monaten, wo die Krawalle am schlimmsten sind, wo man also auf keinen Fall hinfahren sollte. Die Polizei nimmt sonst einfach dein Handy, schaut rein - und wenn ihnen etwas nicht passt, behalten sie es und nehmen einen vielleicht noch fest.
Sie sind einen Tag, bevor eine verfassunggebende Versammlung gewählt wurde, die das Parlament entmachtet hat, ausgereist. Haben Sie den Zeitpunkt bewusst gewählt?
Kurz: Ja, denn man wusste nicht, was danach kommt. Jetzt bei den Wahlen am 30. Juli hatte man große Angst. Denn in diesen ganzen Monaten der Krawalle wusste man: Was auch immer passiert, es kann schlimmer werden. Wir hatten wirklich Angst, dass die Regierung jetzt sagt, wir schließen die Grenzen.
Wilkesman: Vor allem, weil so etwas schon einmal passiert ist, an der Grenze zu Kolumbien. Auf einmal war die Grenze zu. Das könnte auch jetzt wieder jeden Moment passieren.
Kritiker werfen Präsident Maduro seit der Wahl vor, das Land steuere in Richtung Diktatur. Sehen Sie das auch so?
Kurz: Absolut, ja. Es hat sich dazu entwickelt. Ganz langsam, ganz langsam . . .
Wilkesman: Ich glaube, Demokratie ist ein Gespenst in Venezuela. Man lebt zwar offiziell in einer Demokratie, aber alle Wahlen werden immer von Maduro gewonnen. Man kann seine Meinung nicht mehr richtig äußern. Wenn man das macht, verschwindet man.
Vielleicht können wir für einen Moment noch etwas weiter zurückgehen. 2013 ist Hugo Chávez gestorben. Was hat sich mit Maduro verändert?
Wilkesman: Alles wurde schlimmer.
Kurz: Man sagt immer, und das ist auch meine Meinung, zum einen hat Chávez Glück gehabt, weil die wirtschaftliche Lage noch besser war, zum anderen, hat er seine Leute unter Kontrolle gehalten. Maduro hat diese Kontrolle überhaupt nicht mehr.
Maduro hat sich vor Kurzem bereiterklärt, in einen Dialog mit der Opposition zu treten. Gibt Ihnen das Hoffnung?
Wilkesman: Ich verliere die Hoffnung nicht, aber ob das wirklich etwas bringt, glaube ich kaum. Wir haben es bis jetzt nicht geschafft, und beide Seiten sind sehr polarisiert.
Jetzt sind Sie an der Hochschule Mannheim, haben Sie sich schon eingelebt?
Kurz: Ja, schon. Wir haben eine Wohnung und können jeden Tag einkaufen, was wir brauchen.
Wilkesman: Dass die Hochschule uns von Anfang an unterstützt hat, dafür sind wir ihr sehr dankbar.
Wo sehen Sie sich in zwei Jahren mit Ihren Kindern - hier in Deutschland oder in Venezuela?
Kurz: Wenn wir hierbleiben könnten, würden wir auf alle Fälle bleiben. Ein Land wie Venezuela, das so in Grund und Boden ruiniert wurde, wird in zwei Jahren nicht wieder sein, was es einmal war. Das ist wie nach einem Krieg.
Das Paar
Dr. Liliana Kurz und Prof. Dr. Jeff Wilkesman, beide 45 Jahre alt, arbeiteten zuletzt an der Universidad de Carabobo in Valencia. Sie haben in Deutschland promoviert und waren auch schon an der Hochschule Mannheim: Kurz mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), Wilkesman als Gastprofessor.
In Mannheim forschen sie zu Wasserhygiene und Wasseraufbereitung: Kurz arbeitet daran, Wasser mittels Algen und Muscheln zu enthärten, Wilkesman will einen enzymatischen Biosensor für pathogene Darmkeime entwickeln.
Die beiden haben zwei Kinder im Alter von acht und 14 Jahren. gbr
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