Historie - Große Teile der Millionenbeute des spektakulären Eisenbahnraubs bleiben verschollen / Einer der Hauptakteure flieht aus dem Gefängnis und geht ins Exil

Überfall auf britischen Postzug gibt bis heute Rätsel auf

Von 
Ulrich Zander
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Vor 50 Jahren, am 8. August 1963, ereignete sich nahe der englischen Ortschaft Cheddington der größte Eisenbahnraub der Geschichte. In einer paramilitärischen Aktion erbeutete eine Gangsterbande 120 Säcke voller Geld. Die Flucht des "Ronnie" Biggs hielt Scotland Yard über Jahrzehnte in Atem.

Die Eisenbahn ist kaum erfunden, schon sind zwischen Schottland und London "rollende Postämter" unterwegs. Angestellte gehen in Zügen der Royal Mail ihrer Arbeit nach. Regelmäßig mit an Bord: Englische Pfundnoten - überzähliges Bargeld, das nach London zurückgeschickt wird, um von dort neu verteilt oder vernichtet zu werden. 125 Jahre geht alles gut - am 8. August 1963, morgens um 3.05 Uhr, geht es schief.

Der Zug aus Glasgow nähert sich Sears Crossing nahe Cheddington, 58 Kilometer nordwestlich des Zielbahnhofs London-Euston. Ein Signal steht auf Rot. Lokführer Mills und sein Maschinist Whitby ahnen nicht, dass Gangster in der Dunkelheit lauern. Einer hat das grüne Signal abgedeckt und das rote mit einer Batterie zum Leuchten gebracht. Mills hält an, schickt Whitby zum Streckentelefon. Er kommt nicht weit, wird von Maskierten überwältigt. Diese stürmen die Lok, schlagen Mills nieder und lösen die Koppelung zwischen dem zweiten und dritten Waggon.

Der verletzte Lokführer wird gezwungen, den Zug wieder in Bewegung zu setzen. 72 Postbeamte in den abgehängten Waggons merken davon nichts. Der Kurzzug fährt noch etwa einen Kilometer bis zur Bridego-Brücke. Hier warten ein Lastwagen und zwei Landrover. Die Posträuber zertrümmern die Tür des zweiten Waggons und überwältigen die fünf Bewacher. 2 631 684 Pfund Sterling werden zur Beute, nach heutiger Kaufkraft etwa 50 Millionen Euro. Die Riesensumme war zusammengekommen, weil Hunderttausende Schottlandurlauber ihr englisches Geld im Norden der Insel ausgegeben hatten und weil dem Wochenende noch ein freier Tag folgte. Ironischerweise der Bankfeiertag.

Frühere Tat liefert Kapital

Knapp neun Monate zuvor, am 27. November 1962, hält vor der Zentrale der Fluggesellschaft BOAC ein Lohngeldtransporter. Wachleute schieben die Geldkassetten durchs Foyer und steuern auf die Fahrstühle zu. Aus diesen treten sechs elegante Herren, mit Bowler-Hüten auf und Nylonstrümpfen über dem Kopf, schlagen das Personal nieder und verschwinden mit 62 187 Pfund in Limousinen, die just in diesem Moment vorfahren. Der Überfall liefert das Betriebskapital für den Coup bei Sears Crossing.

Bei diesem wuchten die Posträuber zunächst die zweieinhalb Tonnen schweren Säcke in die Wagen und verschwinden in der Nacht. Nach dreiviertelstündiger Fahrt erreichen sie die für 5750 Pfund erworbene Leatherslade Farm, abseits des Dorfes Oakley gelegen, rund 20 Kilometer nordöstlich von Oxford. Nahezu zeitgleich gelingt es einem Zugbegleiter, die Behörden zu alarmieren. Der erste polizeiinterne Funkspruch soll gelautet haben: "Ihr werdet es nicht glauben, da haben welche soeben einen Zug geklaut."

Die größte Fahndungsaktion der britischen Geschichte zur Aufklärung des größten Raubüberfalls der Geschichte läuft an. Straßensperren werden errichtet, Polizeispitzel aktiviert. Die Medien machen aus ihrer Bewunderung für die mit militärischer Präzision ausgeführte Aktion keinen Hehl, sehen Filmbösewicht Dr. No am Werk und fordern im Gegenzug den Einsatz von James Bond.

Die Posträuber machen es sich derweil auf der Farm gemütlich, um in Ruhe die ersten Maßnahmen der Polizei abzuwarten. Sie fühlen sich sicher. Sie glauben, die Fahnder würden in London oder im engeren Umkreis um Cheddington suchen.

Kopf der später als "Gentlemen" bezeichneten Bande ist der Berufsverbrecher und Antiquitätenhändler Bruce Reynolds (31). Der nervenstarke Mann gilt als Naturtalent in der Planung von Überfällen. Der stets wie aus dem Ei gepellt auftretende Friseur Gordon Goody (34) ist überdurchschnittlich intelligent und hat Sinn für Humor. Auch er zählt zur Führungsebene, ebenso wie der Ex-Boxer und Clubbesitzer Ronald "Buster" Edwards (32) und der 31-jährige Charles Wilson, Buchmacher und Gemüsehändler. Die "Fußtruppe" besteht aus Ronald Biggs, Roger Cordrey, James Hussey, Roy James, Robert Welch, James White, Thomas Wisbey und Reynolds' Schwager, John Daly.

Die Polizei äußert die Überzeugung, die Gesuchten versteckten sich in einem Umkreis von 50 Kilometern vom Tatort, "möglicherweise auf einem einsamen Gehöft". Da das tatsächlich der Fall ist, räumen die Posträuber das Feld. Und es gelingt ihnen, sich auf verschlungenen Pfaden - vorerst - in Sicherheit zu bringen.

Nach einem Hinweis aus der Nachbarschaft stürmt die Polizei am 13. August die verlassene Farm, die nicht niedergebrannt zu haben, der größte Fehler der Bande war. Denn: Gleich am Tag des Überfalls hatten einige Biggs' 34. Geburtstag begossen. Alkoholbedingter Leichtsinn schlich sich ein und etliche Fingerabdrücke konnten gesichert werden. Hinzu kamen Hinweise aus der Londoner Unterwelt, die inzwischen auf ungeheure 260 000 Pfund erhöhte Belohnung hatte erwartungsgemäß Denunzianten auf den Plan gerufen.

Am 14. August werden Cordrey und Bill Boal, ein am Überfall wahrscheinlich nicht beteiligter Kumpan, festgenommen. Die beiden haben 141 000 Pfund dabei. Zwei Tage später finden Waldspaziergänger Taschen mit 100 100 Pfund. Eine Hotelrechnung führt auf die Spur des Anwalts Brian Field, der den Leatherslade-Kauf über den Strohmann Leonard Field abgewickelt hatte.

Wenig später werden in einem auf White zugelassenen Campingwagen 30 440 Pfund entdeckt. Kurz darauf wird Wilson festgenommen. Bis zum Jahresende gehen Biggs, Hussey, Wisbey, die beiden Fields, Welch, James und Goody Scotland Yard ins Netz. In einer Telefonzelle wird ein Sack mit 47 245 Pfund gefunden, das letzte je wieder aufgetauchte Geld aus der Beute.

Harte Urteile rufen Protest hervor

Am 20. Januar 1964 beginnt in Aylesbury, Buckinghamshire, der Prozess gegen die in wesentlichen Punkten schweigenden Räuber. Im Februar dann die Sensation: Daly wird freigesprochen. Seine Fingerabdrücke hafteten zwar auf einem in der Farm sichergestellten Monopolyspiel, seine Erklärung, das sei irgendwann einmal aus seiner Wohnung gestohlen worden, konnte jedoch nicht widerlegt werden. Die anderen werden am 26. März schuldig gesprochen, das Strafmaß im April lautet: Cordrey 20 Jahre Haft, Boal 25 Jahre, ebenso wie die beiden Fields. Die anderen Haupttäter erhalten 30 Jahre. Die drakonischen Urteile gegen die "gierigen Männer", wie sie der Richter nennt, stoßen in der Bevölkerung auf Kritik, zumal selbst Mörder oft mit weit geringeren Strafen davonkommen.

Bewaffnete befreien Biggs

Schließlich sind noch Reynolds, Edwards und White auf freiem Fuß. Und die bleiben nicht untätig: Am 12. August 1964 brechen Maskierte in die Haftanstalt Wilson Green ein, überwältigen Wärter, öffnen mit deren Schlüsseln die Zelle von Wilson und hangeln sich mit ihm über Strickleitern in die Freiheit. Und am 8. Juli 1965 fährt am Wandsworth-Gefängnis während des Hofgangs ein Möbelwagen vor, aus dem eine Hebebühne hochfährt. Bewaffnete werfen von der Mauerkrone eine Strickleiter herab. Biggs entkommt.

1966 werden White und Edwards festgenommen. Zwei Jahre darauf Wilson. 1968 geht "Mastermind" Bruce Reynolds Scotland Yard ins Netz. Er wird zu 25 Jahren Haft verurteilt, aber nach zehn entlassen.

"Ronnie" Biggs, als Einziger der an der "Great Train Robbery" Beteiligten auf freiem Fuß, flieht über Australien nach Brasilien. Die Häscher spüren ihn auf. "Hallo Ronnie, lange nicht gesehen", soll Jack Slipper vom Yard zur Begrüßung gesagt haben. Mitnehmen darf er ihn aber nicht, denn es existiert kein gegenseitiges Auslieferungsabkommen. Außerdem hat Biggs eine Einheimische geschwängert. Als Ronnies Beuteanteil von 148 000 Pfund verjubelt ist, macht er Werbung für Alarmgeräte und lässt sich gegen Entgelt von Touristen fotografieren. 1981 wird er von Kopfgeldjägern nach Barbados entführt, doch auch die Behörden dort weigern sich, ihn in die Heimat auszuliefern. Nach 35 Jahren auf der Flucht kehrt der schwer kranke Biggs 2001 freiwillig nach England zurück.

Er wird umgehend inhaftiert, nach Schlaganfällen und einem Herzinfarkt am 6. August 2009 entlassen. Allen Unkenrufen zum Trotz lebt er immer noch. Ebenso wie Cordrey, Welch, White, Wisbey und Leonard Field. Und auch Goody, der in Spanien ein Lokal betreibt. Er soll "sein" Geld gut angelegt haben. Reynolds starb am 28. Februar 2013.

Verfilmung und Dokumentation

  • Mit der weltweit ersten Verfilmung des legendären Postraubs in Großbritannien schrieb der NDR im Februar 1966 Fernsehgeschichte.
  • Der Dreiteiler "Die Gentlemen bitten zur Kasse" um den mittlerweile begnadigten Ronald Biggs und seine 14 Komplizen war die bis dahin aufwendigste Produktion.
  • 25 Haupt- und 120 Nebendarsteller drehten vier Monate lang.
  • Die Gesamtkosten beliefen sich auf insgesamt rund 2,1 Millionen Mark (1,07 Millionen Euro).
  • Die zweiteilige Dokumentation "Die Gentlemen baten zur Kasse" zeigt am Dienstag, 6. August, und Donnerstag, 8. August, jeweils um 20.15 Uhr der Sender Servus TV.

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