Altlasten - Tausende Bomben sind während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland nicht detoniert / Experten werten alte Geheim-Fotos aus

Tägliche Suche nach hochexplosiven Blindgängern

Von 
Thomas Olivier
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Bombensprengungen in Innenstädten, Phosphor-Brocken an See- stränden, Massen-Evakuierungen - die Schatten des Zweiten Welt-kriegs fallen immer noch auf den Alltag Deutschlands. Die Böden sind gespickt mit Blindgängern. Fast 70 Jahre nach Kriegsende spüren Foto-Detektive anhand von Luftbildern aus alliierten Geheimarchiven jährlich Tausende der Zeitbomben auf.

Explosionsblitze über dem Mineralöllager im Mannheimer Hafen, das Karlsruher Schloss eine qualmende Ruine, Bremer und Hamburger Werften nur noch ein Gerippe - amerikanische und britische Luftaufklärer haben alles gesehen, fotografiert, dokumentiert. Selbst gestochen scharfe Aufnahmen von den Vernichtungslagern. Mehr als 50 000 Aufklärungseinsätze flogen die Alliierten zwischen 1940 und 1945 und schossen dabei Millionen von hochauflösenden Fotos. Ein Glücksfall für die Nachwelt und unverzichtbare Hilfe bei der Suche nach den Altlasten des Krieges. "In zwei von drei Fällen", so NRW-Innenminister Ralf Jäger, "führen Kriegsluftbilder zu den Fundorten."

Die Apokalypse des Krieges sieht Bertram Götzelmann jeden Tag: ausgebrannte Häuser, gezackte Schutzgräben, kahl rasierte Bäume, Schiffsrümpfe, die aus dem Wasser ragen. Für den Stuttgarter Vermessungsingenieur ist die Welt von oben gesehen ganz klein. Götzelmann ist einer von fünf Luftbildauswertern bei der Kampfmittelbeseitigung Baden-Württemberg.

Auf alten Aufklärungsfotos der Alliierten sucht er nach dem berühmten Nadelstich, den eine Bombe hinterlässt, wenn sie, ohne zu explodieren, in den Boden eintaucht: Götzelmann entlarvt Blindgänger. Dabei bleibt er schön am Boden: in einem einsamen, streng bewachten Waldgelände bei Stuttgart. Hier lagern in Stahlschränken etwa 110 000 Luftbilder der Engländer und Amerikaner. "Da schlummert noch viel unter der Erde."

Ein Blick durch die Vergrößerungslinsen des Spiegelstereoskops - und Götzelmann taucht in die Kriegszeit ein. Ein dreidimensionales Bild von Stuttgart entsteht. Zerstörte Gebäude werden plastisch sichtbar. Bäume kommen hoch. Ein Park ist übersät von Bombentrichtern. Niemand weiß genau, wie viele Bomben über diesem Areal aus den Schächten der Lancaster-Bomber und fliegenden Festungen fielen. Nur soviel steht fest: "Wir haben hier 400 große Krater von explodierten Bomben entdeckt." Die Gefahr ist nicht gebannt. "40 bis 60 Blindgänger könnten hier noch im Boden stecken."

Zünder oft unbeschadet

Zwei Millionen Tonnen Bomben hagelten auf Nazi-Deutschland nieder. "Zwischen zehn und 20 Prozent" sind nicht explodiert, schätzen Peer Müller, 44, Leiter der Kampfmittelbeseitigung in Baden-Württemberg und seine Experten-Kollegen in den anderen Bundesländern. Mindestens 100 000 Bomben sind stumm geblieben. Ihre Zünder haben das Tausendjährige Reich unbeschadet überstanden. Ob Bomben und Artilleriegranaten, Gewehrmunition oder Panzerfäuste - die in Baugruben, Flüssen, Feldern, Wäldern und Deichen lauernde Erbschaft des Nazi-Reichs rottet vor sich hin. Und wird dabei immer gefährlicher.

Es kann knallen, jederzeit, wie zum Beispiel in Bielefeld: Glassplitter flogen durch die gute Stube eines Rentner-Ehepaares. Eine Weltkriegsgranate, die in einem verfeuerten Holzscheit steckte, war im Kamin explodiert. In einem Karlsruher Recycling-Betrieb ging ein Sprengsatz aus dem Zweiten Weltkrieg hoch. Drei Personen wurden verletzt. In Göttingen hob es einen Rentner fast aus dem Sessel. Fenster schepperten. Beim Nachbarn schwappte das Aquarium über. Noch im 30 Kilometer entfernten Clausthal-Zellerfeld registrierte der Seismograph ein Beben der Stärke 1,7. Unter dem nahe gelegenen Schützenplatz war eine englische Fliegerbombe detoniert - nach Jahrzehnten, von ganz allein. Zum Glück kam in beiden Fällen kein Mensch ernsthaft zu Schaden. "Statistisch einmal pro Jahr kommt es zu einer solchen Selbstdetonation", sagt Oliver Kinast, Chef der Kampfmittelräumer in Schleswig-Holstein.

Mehr als zwei Millionen Luftbildfotos helfen mittlerweile, die immer unberechenbarer werdenden Kriegslasten aufzuspüren. Die Suche gestaltet sich immer aufwendiger: In den vergangenen eineinhalb Jahren erlebte die Bundesrepublik nach Bombenfunden die teilweise größten Massenevakuierungen der Nachkriegszeit: 45 000 Menschen mussten in Koblenz ihre Wohnungen verlassen, 25 000 in Hannover, 15 000 in Mülheim/Ruhr. Seit 1949 ist jeder Bauherr verpflichtet, sein Gelände auf Blindgänger untersuchen zu lassen. Bevor die Bagger anrücken, landen alle Anträge bei der Luftbildauswertung der Länder. An eine systematische Suche ist nicht zu denken. "Zu wenig Geld, zu wenig Personal", bedauert Peer Müller.

Auf den Tischen der Fotodetektive türmen sich die Auftragsmappen. 1300 bis 1400 Anfragen erreichen Müller pro Jahr. Fast 15 000 Anträge beschäftigten 2012 allein die Kollegen in Nordrhein-Westfalen. Die Luftbildauswerter der staatlichen Kampfmittelmittel-Räumdienste und privaten Spezialfirmen können die Flut der Anträge kaum noch bewältigen. "Wir werden nur dann aktiv, wenn gebaut werden soll", sagt Amtsrat Müller.

Untersucht wurden in den letzten Jahren insgesamt 1150 Kilometer Deich an Rhein, Donau, Neckar, Enz und Murr. In den Hochwasser-Dämmen spüren Götzelmann und seine Kollegen immer wieder Blindgänger auf. "Sowohl Artillerie-Granaten wie auch Bomben."

Kurz nach Kriegsende herrschte Chaos: Bombentrichter waren vielfach sorglos zugeschüttet worden. Geschätzte 1,6 Millionen Tonnen Munition wurden in Nord- und Ostsee versenkt. Millionen Wehrmachtsangehörige entledigten sich vor den nachrückenden alliierten Verbänden ihrer Waffen, entsorgten sie in aller Eile in Bächen, Dorfweihern und Seen. "Wir finden laufend ganze Munitionsdepots", bestätigt Kiels erster Kampfmittel-Räumer, Oliver Kinast. Panzerfäuste, Handgranaten, "Patronen verschiedensten Kalibers".

Vor allem bei Niedrigwasser am Bodensee, an den Küsten und an den Deichen von Rhein und Donau, Neckar, Main und Elbe werden die Räumdienste beklemmend oft fündig. "Früher wurde blind gesucht", sagt Bertram Götzelmann von der Stuttgarter Luftbildauswertung. Es gab kein satellitengestütztes Positionssystem, keine Computer, keine fotogrammetrischen Spezialgeräte - keine Luftbilder. Jahrzehntelang hatten die Alliierten die Kriegsaufnahmen unter Verschluss gehalten. Erst 1983, nachdem ein Blindgänger in einer Kaserne der britischen Rhein-Armee hochgegangen war, und nach zähen Verhandlungen gaben die Engländer die Fotos frei.

Mittlerweile arbeiten in jedem Bundesland Luftbildauswerter, denn jede Region ist betroffen. Am stärksten belastet ist Brandenburg, gefolgt von Nordrhein-Westfalen, Berlin und Hamburg. Ein Großteil der etwa zwei Millionen Aufnahmen stammt aus der Luftbild-Bibliothek der Universität Keele im englischen Staffordshire und aus dem US-Nationalarchiv in College Park (Maryland). Auch amerikanische Spionageaufnahmen von sowjetischen Militäreinrichtungen aus dem Jahre 1948 kommen unter die Lupen. Die Sowjets legten 1953 flächendeckend Luftaufnahmen von der DDR an.

Wagemutige Flieger

Mit 600 Stundenkilometern schlichen sich die fliegenden Spione durch die deutsche Abwehr und hielten aus 7000 bis 9000 Metern Höhe und verschiedenen Blickwinkeln die Wirkungen ihrer Angriffe fest: brennende Ballungszentren und Rüstungsbetriebe, Hauptkampflinien, demolierte Verkehrsknotenpunkte und Bunkeranlagen, eliminierte Verteidigungsstellungen. Dank dieser wagemutigen Flieger können die Luftbild-Detektive heute metergenau festlegen, wo Blindgänger runtergegangen sind.

Doch das sind nur erste Anhaltspunkte. Wo die Bombenkörper exakt liegen, muss mit Oberflächensonden vor Ort untersucht werden. Oft hätten die Bomben einen "Bauchklatscher" gemacht, sagt Baden-Württembergs Räumdienst-Chef Müller. Andere hätten sich nicht senkrecht in die Tiefe gebohrt, sondern eine Kurve beschrieben. "Die Bombenkörper werden im Erdreich bis zu sieben Meter vom Aufschlagspunkt abgelenkt." In schlickigen Untergründen wie im Bodensee, im Rhein, im Neckar, in der Donau oder im Hamburger Hafen sogar bis zu acht Meter. Manche Bomben könnten auch nach dem Krieg noch unter bestehende Häuser gerutscht sein, befürchtet Müller.

Selbst die Größe einer Bombe kann Götzelmann aus der Vogelperspektive ermitteln: "Je gewaltiger der Kraterdurchmesser, desto größer das Bombenkaliber." Luftminen, die an der Oberfläche explodieren, reißen gar keine Krater. "Da ist dann im Durchmesser von hundert Metern Tabula rasa!" Wie unlängst auf Kriegsluftbildern von Kleingärten in Karlsruhe. "Da waren selbst die Stachelbeersträucher abrasiert."

Nadelstichartige Löcher

An diesem Tag gibt das Stereoskop statt großer Trichter nur winzige nadelstichartige Löcher preis: keine Explosion, womöglich Blindgänger - Lebensgefahr! Jetzt bloß keine Hektik: In aller Ruhe überträgt Götzelmann seine Entdeckung auf eine heutige Luftbildkarte. Um die Bilder noch zuverlässiger interpretieren zu können, scannt er sie ein und forscht am Rechner weiter.

Dann passiert das, was fast täglich irgendwo in Deutschland die Menschen in Atem hält: Evakuierungen, Absperrungen, Notunterkünfte, die Männer vom Kampfmittelräumdienst rücken aus. Geht es nach Robert Mollitor, dem Leiter des Munitionsbergungsdienstes Mecklenburg-Vorpommern, könnte das noch sehr lange so weitergehen. Knapp 200 Jahre, hat er ausgerechnet. Dann sei Deutschland wohl "entmunitioniert".

Bombenlast in Baden-Württemberg

Etwa 90 000 Tonnen Bomben prasselten in den Kriegsjahren auf Baden-Württemberg nieder. Mehr als auf ganz Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs. Auf Mannheim 25 500, Stuttgart 25 000 und Karlsruhe 12 500 Tonnen.

Zehn bis 15 Prozent der Sprengkörper sind nicht explodiert und liegen noch im Erdreich.

Von August 1946 bis 2012 wurden im Land etwa 7000 Tonnen Munition geborgen, darunter Kanonenkugeln aus dem Dreißigjährigen Krieg. 25 000 Bomben wurden entschärft.

Fast 90 Millionen Quadratmeter Fläche hat die Kampfmittelbeseitigung Baden-Württemberg seit dem Zweiten Weltkrieg von Munition befreit.

Etwa tausendmal jährlich rücken die Sprengstoffexperten aus. Ein gefährlicher Job: 13 Mitarbeiter des Kampfmittelräumdienstes Baden-Württemberg kamen seit 1946 ums Leben. 218 Menschen wurden zwischen 1945 und 1952 allein in Nordbaden durch Fundmunition getötet und 280 verletzt. Zum Kampfmittelräumdienst gehören 31 Mitarbeiter, darunter fünf Luftbildauswerter und acht Feuerwerker.

Auf 110 000 Kriegsluftbilder der Engländer und Amerikaner kann die Stuttgarter Spezialeinheit zurückgreifen. Bis zu 1400 Anträge auf Luftbildauswertung werden jährlich bearbeitet. Tendenz: steigend.

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