Wie darf eine Gesellschaft über Migranten sprechen? Mit welchen Begriffen und welchen Bildern sollen Medien über sie berichten? Realistisch und ohne Tabus - aber einfühlsam, meint der Mannheimer Kommunikationswissenschaftler Hartmut Wessler.
Seit der gewaltvollen Kölner Silvesternacht gibt es ein Überangebot an öffentlichen Vorwürfen, Verurteilungen, Forderungen und Gegenforderungen. Das ist normal in Krisensituationen. Aber nach der ersten Schockphase ist es jetzt an der Zeit, darüber zu reden, wie wir langfristig öffentlich über und mit Flüchtlingen und anderen Migranten sprechen wollen und welche Rolle die Medien dabei spielen sollen. Wie kommen wir zu einer medialen Debattenkultur, die realistisch und ohne Tabus die Probleme diskutiert - und zugleich offenherzig und einfühlsam das Gespräch mit Flüchtlingen sucht? Das klingt auf den ersten Blick wie ein Widerspruch. Aber wenn wir genauer hinschauen, können wir durchaus Ansätze dieser neuen Debattenkultur identifizieren.
Spielt die Herkunft eine Rolle?
Die einfachste Frage ist dabei noch die, ob Journalisten und Polizisten die Herkunft von Straf- und Gewalttätern benennen sollen oder nicht. Es scheint sich ein Konsens durchzusetzen, dass die Herkunftsnennung notwendig ist. Und im Falle von Köln - das hier stellvertretend für alle Städte steht, in denen die Silvesternacht von massenhafter sexualisierter Gewalt durch junge migrantische Männer geprägt war - stimmt das ja auch unbedingt. Wie will man jemals verstehen, was dort passiert ist und was man dagegen tun kann, wenn man nicht die Frauenbilder und Verhaltensweisen dieser konkreten Täter beleuchtet?
Doch das gilt nicht für jeden Handtaschendiebstahl. Die einfache Regel lautet deshalb: Wenn es zur Erhellung des Hintergrunds der Tat unerlässlich ist, soll die Herkunft benannt und thematisiert werden. In allen anderen Fällen aber nicht, weil die Herkunft bei Deutschen eben meist auch nicht genannt wird. Es könnte in der Gesamtwahrnehmung der Leserinnen und Zuschauer schnell das schiefe Bild entstehen, als würden nur Nicht-Deutsche Handtaschen rauben.
Schwieriger ist schon die Frage, wie Medien die Kölner Vorfälle bebildern sollen. Weil es keine professionellen Pressefotos von den Vorfällen gibt, verlassen sich Bildredakteure auf drei andere Quellen. Da sind zum einen Handybilder von Passanten und Standbilder aus den Überwachungskameras. Diese Bilder sind oft unscharf und zeigen die jungen Männer migrantischer Herkunft meist als Masse. Wenn noch das Rot der abgefeuerten Leuchtraketen hinzukommt, wie etwa auf dem "Spiegel"-Titel vom 9. Januar, dann wird die Bedrohlichkeit greifbar, der einzelne Täter und die Tat selbst aber bleiben unsichtbar.
Insofern dokumentieren diese Bilder die Sache eher atmosphärisch, was aber nicht generell gegen sie spricht. Hier stellt sich eher die Frage, ob langfristig auch andere Bilder von Migranten und Flüchtlingen in den Medien auftauchen. Ein Gradmesser für die Qualität der Flüchtlingsdebatte in den nächsten Monaten besteht für mich deshalb darin, ob wir nur bedrohliche junge Männer und bemitleidenswerte Frauen und Kinder zu sehen bekommen - oder auch freundliche Männer, aktive Frauen, zusammenhaltende Familien und vor allem Flüchtlinge und Einheimische im Kontakt, also in Situationen, in denen sich ihre Blicke und Gesten kreuzen. Natürlich sollen dokumentarische Pressefotos nicht gestellt sein, aber gute Pressefotografen, von denen es ohne Zweifel viele gibt, sollten genug Fantasie haben, das Repertoire der Flüchtlings- und Migrantenbilder auszuweiten, das uns als Leser und Zuschauer erreicht.
Verstärkung von Stereotypen
Eine ganz andere Bildstrategie hat der "Focus" auf seinem Titelbild vom 9. Januar gewählt: Ein inszeniertes Foto, das eine nackte Frau zeigt, die sich die Hände über Brust und Scham hält und deren weißer Körper von schwarzen Handabdrücken bedeckt ist. Wenn wir wohlwollend unterstellen, dass diese Darstellung die Verletzlichkeit der Frauen symbolisieren sollte, so ist das Bild doch nicht historisch unschuldig. Die Darstellung reiht sich ein in eine lange Tradition von Bildern, in denen weiße Frauenkörper von schwarzen Männerhänden geschändet werden und die durch ihre massenhafte Verbreitung rassistische Stereotype über dunkelhäutige Männer verstärken. Zugleich spekuliert das "Focus"-Bild auf die Anziehungskraft der Nacktheit und den damit verbundenen Verkaufserfolg, auch wenn in diesem Fall die Geschlechtsteile selbst von Textbalken überdeckt sind oder außerhalb des Bildrahmens platziert werden.
Gerade im Umgang mit den Vorfällen von Köln kommt es darauf an, das Verhältnis von Sex und Gewalt sehr genau zu differenzieren. Beim Begrapschen im öffentlichen Raum wie auf dem Kölner Bahnhofsvorplatz geht es vor allem darum, Wehrlosigkeit auszunutzen und zu erniedrigen, nicht primär um sexuelle Lust. Insofern treffen Wörter wie Sex-Attacke ("Focus") oder Sex-Mob ("Bild") noch nicht einmal die halbe Wahrheit. Mit dieser Terminologie und den dazugehörigen Bildern werden Stimmungen verstärkt, eine nüchterne Auseinandersetzung mit den Hintergründen der Taten, die dringend nötig ist, gelingt so nicht.
Eine dritte Bebilderungsstrategie hat der Illustrator der "Süddeutschen Zeitung" gewählt. In Scherenschnitttechnik platziert er einen schwarzen Arm zwischen zwei weiße Schenkel mit der Hand an der Stelle der Scham. Diese Darstellung ist abstrakter als der "Focus"-Titel und wirkt bedrohlich, weniger aufreizend. Dass die Hand schwarz ist, symbolisiert die Bedrohlichkeit und ist nicht notwendigerweise rassistisch zu interpretieren, wie manche Kritiker der SZ meinten. Trotzdem ist es gut, dass sich die Chefredaktion der "Süddeutschen Zeitung" auf Facebook für die Illustration entschuldigt hat, weil sie die möglichen rassistischen Assoziationen nicht ausreichend mitbedacht hat.
Nicht alles muss gezeigt werden
Die Illustration verweigert sich durch ihre Bildsprache auch nicht einer Zweitverwertung durch die Fremdenfeinde von Pegida, von der sich die SZ ebenfalls distanziert. Die Illustration tauchte auf Plakaten des Leipziger Ablegers Legida zum Jahrestag der Pegida-Bewegung am 11. Januar auf. Diese Verwendung ist nicht unmittelbar der SZ anzulasten, weil im Internet-Zeitalter jeder Zugang zu jedem Bild hat. Sie wirft aber die allgemeinere Frage auf, ob Medien zur Verbreitung von fremdenfeindlichen und hasserfüllten Botschaften einiger Gruppen beitragen, wenn sie darüber berichten.
Während ich diesen Beitrag schreibe, frage ich mich beispielsweise, ob die Redaktion dieser Zeitung meinen Artikel mit einer Abbildung der Legida-Plakate begleiten sollte. Ich denke, es ist richtig, das nicht zu tun. Das wichtige Prinzip, dass Meinungsfreiheit eine transparente Debatte zwischen kontroversen Standpunkten erfordert, würde missverstanden, wenn man daraus ableiten wollte, dass alles, was es gibt, auch gezeigt werden muss.
Auch hier gilt die Regel: Wenn das Abbilden für die Aufklärung des Hintergrunds, hier des Pegida-Phänomens, unerlässlich ist, dann sollen die Medien abbilden, sonst aber nicht unbedingt. Denn Journalisten dürfen nie aus dem Blick verlieren, dass sie als Treuhänder der Debatte das öffentliche Forum auch vor Vergiftungserscheinungen schützen müssen. Eine Tabuisierung von Problemen, das sollten wir aus Köln lernen, wäre genauso schlecht wie eine komplizenhafte Tabulosigkeit des Zeigens.
Hartmut Wessler
Hartmut Wessler ist Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Mannheim.
Er hat Kommunikationswissenschaft, Soziologie und Politikwissenschaft in Berlin und Bloomington, Indiana (USA) studiert und 1998 in Hamburg promoviert.
Er erforscht die Qualität der Medienberichterstattung in verschiedenen Ländern und bewertet den Beitrag der Medien zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung über kontroverse Themen wie Terrorismus, das Verhältnis von Politik und Religion oder den Klimawandel.
Besonderes Augenmerk legt er auf das Zusammenspiel von Sprache und Bildern in den Medien.
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