Das Urteil im Prozess rund um die Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) ist gesprochen: Doch die erschreckenden Hintergründe der beispiellosen Mordserie sind noch nicht aufgeklärt. Von Wolfgang Schorlau
„Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck.“
Angela Merkel am 23. Februar 2012 auf der Gedenkfeier für die Opfer des NSU
„Das OLG München hat mit seinem Urteil vom heutigen Tag all denjenigen, die sich um eine wirkliche Aufklärung der Straftaten des NSU und ihrer Hintergründe bemühen, einen Schlag ins Gesicht versetzt. Die Beschränkung der Aufklärungsbemühungen auf eine harte Verurteilung Beate Zschäpes, bei gleichzeitiger Verharmlosung der Tatbeiträge und der Ideologie der Unterstützer, und Leugnung jeglicher Verantwortlichkeit staatlicher Stellen geht viel weiter, als dies nach der bisherigen Beweisaufnahme zu befürchten war.“
Erklärung von Opferanwälten am 11. Juli 2018 nach dem Urteil des Oberlandesgerichtes München gegen Beate Zschäpe u. a.
Ich hatte tatsächlich überlegt, ob ich noch einmal nach München fahren sollte, mich mitten in der Nacht vor dem Gericht anstellen, um einen der Sitzplätze zu ergattern, mich noch einmal den Sicherheitskontrollen unterwerfen sollte, bevor ich dann die Treppe hinauf in den Zuschauersaal des Oberlandesgerichts München steigen würde, um die Verkündung der Urteile gegen Beate Zschäpe und ihre Mitangeklagten selbst zu hören und zu sehen.
Ich tat es nicht.
Stattdessen schaltete ich das Radio ein und wartete. Als der Nachrichtensprecher die Schuldsprüche für die Angeklagten verkündete, stellte sich keine Erleichterung ein.
Das Strafmaß für Beate Zschäpe war wie erwartet hart und angemessen: lebenslänglich. Doch dann stutze ich: Die mitangeklagten Unterstützer des NSU kamen überraschend milde davon.
„Bei der Strafe für Wohlleben, der wegen Beihilfe zu neunfachem Mord zu zehn Jahren verurteilt wurde, ist das Gericht deutlich unter dem Antrag der Bundesanwaltschaft geblieben. Das auch im Prozess demonstrative Festhalten Wohllebens an seiner Ideologie, seine besondere Unterstützung von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt beim Aufbau des NSU und die besondere Gefährlichkeit des NSU haben den Senat aber nicht dazu gebracht, das Strafmaß nach oben auszuschöpfen. Das bedeutet, dass Wohlleben möglicherweise bereits heute das Gericht als freier Mann verlassen kann …“, erklärten die Nebenkläger in einer ersten Stellungnahme.
Auch André E., einer der übelsten und unbelehrbarsten Neonazis und ein maßgeblicher Unterstützer des Trios, bekam mit zweieinhalb Jahren Haft kaum mehr als ein Steinewerfer auf dem G20-Gipfel.
Nun bin ich froh, nicht nach München gefahren zu sein. Immerhin ist mir das erleichterte Feixen der Gesinnungskumpane der beiden im Besucherraum erspart geblieben.
Stattdessen denke ich an Ali Demir. Ich lernte Ali kennen, als ich zu einer Lesung in der Kölner Keupstraße eingeladen wurde. Ich las in dem Frisörsalon, vor dem die schreckliche Nagelbombe explodierte, die viele Passanten schwer verletzte. Ali Demirs Steuerberaterbüro liegt nur drei Häuser neben dem Frisörsalon.
Wer war noch am Tatort?
Als die Bombe detonierte, warf er sich auf den Boden. Rechts und links schlugen Zimmermannsnägel wie Geschosse in die Regale ein. Als er aufstand und sich den Staub von der Hose geklopft hatte, trat er vorsichtig auf die Straße. Vor seinem Büro standen zwei Männer. Zwei deutsche Männer. In Zivilkleidung. Sie trugen erkennbar Waffen im Schulterhalfter. Ali erzählte, damals habe er gedacht, wie gut die Deutschen doch organisiert seien: Kurze Zeit nach der Explosion war bereits die Polizei vor Ort. Dann lief er zu den Verletzten, um ihnen zu helfen.
Wir wissen bis heute nicht, wer diese beiden bewaffneten Männer waren, die zur Tatzeit am Tatort waren, sich jedoch weder um die Verletzten noch um die Tatort-Sicherung kümmerten. Nach ihnen wurde nie gefahndet. Als ich später erfahrene Ermittler nach einer möglichen Funktion der beiden bewaffneten Zivilpersonen fragte, bekam ich eine ernüchternde Antwort: Sinn mache nur, dass sie den Rückzug der Bombenleger gesichert haben.
In dem Augenblick, als Ali Demir mir diese Geschichte erzählte, beschloss ich, einen Roman über die Verbrechen des NSU und über die Hintergründe zu schreiben. Zwei Jahre lang tauchte ich tief in die Welt der Neonazis ein - und in ihre (fast) unglaublichen Verbindungen zum Verfassungsschutz.
Ich erinnere mich an die Polizisten aus Thüringen, die ich im Laufe der Recherche kennenlernte. Eine der Geschichten, die ich von ihnen hörte, klingt so: Im September 1997 entdecken Kinder auf dem Platz vor dem Theater in Jena einen Koffer, der mit einem Hakenkreuz bemalt ist. In dem Koffer befindet sich eine Bombe ohne Zünder, eine Attrappe. Nichts Ungewöhnliches im Thüringen der damaligen Zeit, aber zum ersten Mal enthält eine solche zündfähiges TNT.
Bei einer Besprechung des Thüringer Landeskriminalamtes (LKA) mit Beamten des Amts für Verfassungsschutz erklären Polizisten sinngemäß: Jeder hier im Raum wisse, wer die Bombenbauer seien, nämlich die Rechtsradikalen vom Thüringer Heimatschutz - aber auch, dass die Anführer dieser Bande V-Leute des Verfassungsschutzes seien. Jetzt, da TNT im Spiel sei, das von Kindern gefunden wurde, sei man nicht länger bereit, die Machenschaften des Landesamtes mitzutragen. Es gab große Aufregung und Vorwürfe.
Bedingung: Keine Festnahmen
Einige Zeit später meldet das Landesamt für Verfassungsschutz dem LKA, man wisse jetzt, wo die Bomben gebaut würden. Die Adresse einer angemieteten Garage werde der Polizei mitgeteilt, aber streng geheim, es gebe also keine Mitteilung an die Staatsanwaltschaft. Außerdem sei die Bedingung der Information: keine Festnahmen, keine Durchsuchung von Pkw. Die Polizei öffnet die Garage und findet tatsächlich die lange gesuchte Bombenwerkstatt: Rohre, TNT, Werkzeuge - alles ist da. Plötzlich erscheint Uwe Böhnhardt, sieht die Beamten (keine Festnahmen), steigt wieder in seinen Wagen (keine Durchsuchung von Pkw) und fährt davon. Erst Tage später wird der „Streng geheim“-Vermerk aufgehoben, erst jetzt ergeht Haftbefehl gegen die drei Flüchtigen: Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe.
Damit nicht genug: Das Landesamt für Verfassungsschutz meldet, die drei befänden sich im Ausland. Der Haftbefehl wird zwar nicht aufgehoben, aber die Fahndungsmaßnahmen werden wegen dieser falschen Information deutlich heruntergefahren. Dies, so höre ich seither von Polizisten, sei nichts anderes gewesen als die organisierte Überführung des Trios in den Untergrund.
Ich erinnere mich, wie die Polizisten mir die Klarnamen der V-Leute des Verfassungsschutzes in der Thüringer Neonazi-Szene herunterratterten. Heute sind 40 davon enttarnt, wahrscheinlich waren es wesentlich mehr. Dieser Mob beging schwere und schwerste Straftaten und wurde nie dafür belangt, solange das Bundesamt und das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz ihre schützende Hand über die Verbrecher hielten. Erst als alles aufflog, gab es Strafverfahren. Nun wurde auch der berüchtigte Anführer der Szene, der V-Mann Timo B., vor Gericht gestellt. Er sitzt heute wegen schwerer pädophiler Verbrechen.
Wenn ich zurückdenke, frage ich mich: Warum haben die Opfer und die Öffentlichkeit nicht das Recht, zu erfahren, was damals wirklich geschehen ist? Inwieweit waren staatliche Behörden am Zustandekommen des NSU beteiligt? Haben sie den NSU gewähren lassen? Haben sie ihn geschützt? Das OLG München hat alle diese Fragen unter den Tisch gekehrt.
Akten für 120 Jahre gesperrt
Ich lese noch einmal das Versprechen, das Angela Merkel den Opfern gegeben hat. Ich kann mich an keine staatliche Zusage erinnern, die so gründlich, so erbarmungslos gebrochen wurde wie dieses Versprechen.
Während ich diese Zeilen schreibe, erhalte ich zwei Anrufe. Aus dem ersten erfahre ich, dass die Neonazis am Abend in München die milden Urteile für ihre Gesinnungsgenossen gefeiert haben. Die zweite Nachricht: Das Oberlandesgericht sperrt die NSU-Akten für 120 Jahre.
Romane als Filmvorlage
Wolfgang Schorlau wurde 1951 in Idar-Oberstein geboren, lebt aber seit langer Zeit in Stuttgart.
Bekannt geworden ist er mit seinen Kriminalromanen rund um den Privatermittler Georg Dengler, die mittlerweile im ZDF verfilmt werden.
In dem Roman „Die schützende Hand“ greift Schorlau die Ereignisse um die rechtsextreme Terrorgruppe NSU auf. Kritiker werfen ihm vor, er propagiere Verschwörungstheorien. Andererseits wird Schorlau wegen seiner umfangreichen Recherche als Experte geschätzt. red
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