Um in unserer individualistischen Gesellschaft bestehen zu können, ist ein starkes Ich von Vorteil. Aber ein überhöhtes Selbstbild geht oft mit massiven persönlichen Schwächen einher.
Narzissmus, das ist in meinem Verständnis primär keine Krankheit, sondern eine - oft sogar kreative - Anpassung an bestimmte Lebensumstände. Denn die narzisstischen Manöver sollen das Selbstwertgefühl vor dem Zerfall bewahren.
Die Suche und die Sucht nach Erfolg, Geld, Anerkennung, Bestätigung, Macht und danach, besonders zu sein, sind die Vehikel für das verletzte Selbst ebenso wie Selbsterhöhung und Entwertung des anderen. Ohne diese Mechanismen laufen das Selbstsystem und die Identität Gefahr, zu zerfallen. Die narzisstische Fassade hilft, die ungeliebten, mangelhaften Seiten seiner selbst zu überspielen. Sie ist eine einfallsreiche und erfolgreiche Form, um mit Selbstwertproblemen umzugehen und passt gut in die heutige Zeit. Denn sie ist mit positiv sanktionierten Idealen assoziiert wie Kreativität, Visionen, Zupacken und Kompetenz. Das Ergebnis sind Erfolg und das Gefühl, es geschafft zu haben.
Daher sind auch sehr viele narzisstisch geprägte Menschen in beruflichen Zusammenhängen so erfolgreich oder arbeiten in Führungspositionen. Die Fähigkeit, sich ins beste Licht zu setzen, Macht und Aufmerksamkeit zu erringen und bedeutungsvoll aufzutreten, ist eine hervorragende Stärkung des Selbstwertgefühls. Da narzisstische Menschen Probleme haben, ihr Selbstwertgefühl zu regulieren, retten sie sich in überhöhte Größenfantasien oder in die Verschmelzung mit einem idealisierten Anderen. Sie können auf einen nur wenig positiven Narzissmus im Sinne von Eigenliebe und Selbstwert zurückgreifen und sind daher in übersteigertem Maße auf äußere Bestätigung angewiesen, um sich wert zu fühlen.
Für Leistung und Erfolg opfern Narzissten ihre Beziehungen, ihre Zufriedenheit und Lebenslust, zu der sie oft sogar den Zugang verloren haben. Da sie glauben, sie seien nicht gut genug, müssen sie durch ihren Status der Welt zeigen, was sie draufhaben. Innerlich sind sie so unsicher, dass sie den Erfolg anderer mit Neid und Angst betrachten, weil sie befürchten, dem Vergleich nicht standzuhalten. Ihr Lebenssinn ist oft eingeengt auf Arbeit, Status und Geld verdienen.
Entwertung der Kollegen
Narzisstische Strukturen machen den Arbeitsalltag schwer. Sie verhindern Teamworking und gegenseitige Unterstützung. Denn wer der oder die Beste sein will, kann sich nicht der Gruppe unterordnen, weil dann die eigenen Erfolge nicht mehr auffallen. Aus dieser Not führt nur die Entwertung der Kollegen heraus. Je schlechter diese dastehen, umso besser schneidet man selbst ab.
Mit so jemandem arbeiten zu müssen, macht keinen Spaß, sondern ist ein täglicher Kampf. Macht und Narzissmus hängen untrennbar miteinander zusammen, weshalb sie auch siamesische Zwillinge genannt werden. Narzisstische Bedürfnisse sind im Wesentlichen Machtbedürfnisse: wichtiger und mächtiger zu sein als die anderen. Großspurigkeit und Überheblichkeit sind die Vehikel, mit denen narzisstische Personen andere einschüchtern oder entwerten, um ihre Überlegenheit zu demonstrieren und zu erhalten.
Machtverlust ist gleichbedeutend mit Gesichts- und Selbstverlust, eine Erniedrigung, die so unerträglich ist, dass es zu einem totalen Rückzug bis hin zum Selbstmord kommen kann. Narzisstische Beziehungen zeichnet ein Machtgefälle aus, ein Oben und Unten, ein Unterwerfen und Beherrschen. Mit Hilfe des "expanded self", des ausgedehnten Selbst, wird das Gegenüber vereinnahmt, seiner selbst beraubt und nach den eigenen Vorstellungen definiert. Der andere wird so, wie ihn der Narzisst sieht oder sehen will. Auf diese Weise können eigene Unzulänglichkeitsgefühle abgewehrt werden, indem sie auf den anderen projiziert werden, der sie dann für sich selbst übernimmt und sich dementsprechend inkompetent verhält.
Anpassung bis zur Selbstaufgabe
Meist unterwirft sich der komplementäre Partner unter die Erwartungen des dominanten Partners, gibt sich auf, um auf diese Weise die Beziehung zu erhalten. Diese Rolle übernehmen in der Regel die Partnerinnen, die zwar ebenso narzisstisch sind, aber nicht offen grandios, sondern versteckt depressiv. Bei diesem sogenannten Weiblichen Narzissmus passen sich Frauen bis zur Selbstaufgabe an und hoffen, dadurch die Anerkennung und Liebe des Partners zu erhalten. Ihre Form der Grandiosität besteht in Perfektion, Leistung, Attraktivität und Schlankheit, weshalb er häufig im Zusammenhang mit Essstörungen auftritt.
Da, wo die Frauen sich für minderwertig und wertlos halten, machen sich die Männer groß und unangreifbar. Sie kämpfen um ihre Autonomie, die sie immer zu verlieren befürchten.
Narzisstischen Beziehungen fehlt das Wir, denn es dreht sich alles um den eigenen Vorteil. Alles steht im Dienst des eigenen Selbst: die Wahl des Menschen, auf den man sich einlässt, die Art, wie man mit ihm umgeht, die Entscheidung, was man von sich zeigt und was nicht, sowie die Erwartung, was der andere für einen erfüllen soll. Es geht weniger um den anderen Menschen an sich, als vielmehr um die Funktion, die er für das eigene Selbsterleben hat.
Mangelnde Beziehungs- und Bindungsfähigkeit resultiert zum großen Teil aus dem Verlust von Identität. Narzisstische Menschen wissen in der Regel nicht, wer sie wirklich sind. Sie erleben sich nur durch die Bestätigung und Spiegelung durch die anderen. Nur durch sie sind sie. Sie suchen keine Bestätigung, die jeder Mensch braucht, um sich wertvoll und gut zu fühlen. Für sie ist sie eine existentielle Notwendigkeit. Ist keiner da, der sie bestätigt, anerkennt, lobt, liebt und spiegelt, kommen sie in große Not.
Erwartungen der Umwelt
Hinter der prächtigen Fassade befindet sich ein emotional verwahrlostes, verzweifeltes Kind, das nach Anerkennung und Spiegelung seiner wahren Identität hungert. Die Entwicklung zu einer autonomen und selbstbewussten Persönlichkeit ist ihnen nicht zuteilgeworden. Stattdessen haben sie sich sehr früh an ein äußeres Bild angepasst, das die Umwelt von ihnen entworfen hat. Auf Kosten ihrer Individualität, ihrer ureigenen Bedürfnisse und Gefühle, erfüllen sie die Erwartungen der Umwelt, um die notwendige Anerkennung, Zuwendung und Liebe zu bekommen. Sie definieren sich ein Leben lang über die anderen, über deren Meinung, über Erfolge und Statussymbole. Nur die zeigen an, dass sie etwas wert sind, dass sie es richtig machen und richtig sind.
Die Folge der Identifizierung mit dem schönen Schein und dem idealen Bild ist eine Entfremdung vom eigenen Wesen, eine innere Verarmung und Entleerung. Narzisstische Menschen sind schon durch Kleinigkeiten kränkbar, wenn sie beispielsweise auf einen Fehler aufmerksam gemacht werden oder man sie bittet, das nächste Mal pünktlich zu kommen. Sie fühlen sich sofort gemaßregelt und persönlich entwertet. Es gelingt ihnen nicht, beispielsweise Kritik als Rückmeldung auf ihr Verhalten zu verstehen. Sie beziehen es sofort auf ihre Person und fühlen sich abgelehnt, schlecht beurteilt und fehlerhaft.
Beleidigt und anklagend
Im Grunde schämen sie sich dafür, etwas nicht richtig gemacht zu haben, würden das aber nie zugeben. Stattdessen sind sie beleidigt und anklagend, wie man ihnen so etwas zumuten kann. Ihre starken Kränkungsreaktionen sind in der Regel überzogen und für Außenstehende schwer nachvollziehbar. Oft strafen Gekränkte den anderen mit tagelangem Schweigen oder sind nur kurz angebunden. Manchmal reagieren sie auch schnippisch oder verpacken ihre Entwertung in Ironie. Sie rächen sich an ihrem Gegenüber, indem sie ihn spüren lassen, dass er etwas ganz Schlimmes getan hat. Weder sinnvolle Zusammenarbeit noch eine Klärung des Konflikts sind unter diesen Umständen möglich.
Der Umgang mit narzisstisch gekränkten Menschen bedeutet eine Herausforderung an uns selbst und eine Konfrontation mit eigenen narzisstischen Anteilen. Was müssen wir in uns erlösen, um mit narzisstischen Menschen zu Recht zu kommen und unser positives Selbstbild aufrecht zu erhalten? Welche inneren Kräfte müssen wir mobilisieren, um den narzisstischen Entwertungen standzuhalten oder den Mut zu haben, eine solche Beziehung zu beenden - ob sie nun beruflich oder privat ist.
(Gekürzte Version eines Vortrags
im Deutsch-Amerikanischen
Institut Heidelberg)
Bärbel Wardetzki
Bärbel Wardetzki (Bild) ist promovierte Diplom-Psychologin sowie Pädagogin und arbeitet als Psychotherapeutin, Supervisorin, Coachin und Autorin in eigener Praxis in München.
Sie ist ausgebildete Gestalt-, Familien- und Verhaltenstherapeutin und setzt sich intensiv mit Selbstwert- und Beziehungsproblemen von Frauen auseinander.
Weitere Arbeitsschwerpunkte sind Kränkungen, Narzissmus und Essstörungen - speziell Bulimie.
Sie ist Autorin zahlreicher Artikel und Bücher zu diesen Themen, hält Vorträge und Seminare im In- und Ausland, sowohl für Fachleute als auch für Laien.
Ihre wichtigsten Bücher: "Weiblicher Narzissmus" (1991), "Ohrfeige für die Seele" (2000), "Eitle Liebe" (2010), "Nimms bitte nicht persönlich" (2012), "Kränkung am Arbeitsplatz" (2012), "Souverän und selbstbewusst" (2014), "Blender im Job" (2015). (BILD: dpa)
www.baerbel-wardetzki.de
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