Bürgerbewegung - Mündigkeit und Mitverantwortung gehen mit der Auflösung verkrusteter Strukturen einher und setzen Gleichheit in allen sozialen Beziehungen voraus

"Misstrauen ist die Krise, die wir überwinden müssen"

Von 
Paul Nolte
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Demokratie ist nicht bloß eine Staatsform, sondern eine Übereinkunft des Zusammenlebens, die unaufhörlich erkämpft und eingelöst werden muss, sagt der "Duden".

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Politische Mitbestimmung ist keine Frage gelegentlicher Wahlen, sondern ein Prozess sogar noch in den alltäglichsten Details. Unser Autor illustriert die Vision von der Demokratie als Lebensform.

Mit der Demokratie ist es am Beginn des 21. Jahrhunderts nicht zum Besten bestellt. Vorbei ist die demokratische Euphorie von 1989, als Francis Fukuyama das "Ende der Geschichte" verkündete: Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Kommunismus, so meinte der US-amerikanische Politikwissenschaftler, stehe die liberale Demokratie des Westens siegreich und triumphierend da, für ein ewiges, geschichtsloses Zeitalter ihrer Vorherrschaft.

Tatsächlich hatte die Wendezeit der osteuropäischen Revolutionen eine große Welle der globalen Demokratisierung zum Abschluss gebracht. Doch seitdem geht es nicht mehr so recht voran. Der Versuch des "Demokratieexports" nach Afghanistan und Irak ist nach dem 11. September 2001 gescheitert, vom Arabischen Frühling ist wenig geblieben. Auch in Europa und Nordamerika hat sich das Selbstbewusstsein des Sieges in den Krisen der vergangenen 15 Jahre merklich abgekühlt.

Neuer Populismus

In den USA, dem Stammland der westlichen Demokratie, macht sich ein neuer Populismus breit, der von einem tiefen Misstrauen nicht nur gegen die politischen Eliten, sondern oft auch gegen die Institutionen in Washington getrieben wird. Bei den Republikanern ist mit Donald Trump ein Kandidat für das Weiße Haus auf der Siegerstraße, dem Fremdenhass und Rassismus nur neuen Zulauf zu bringen scheinen und den man bestenfalls als politikunfähigen Clown bezeichnen kann.

Aber ganz ähnliche Stimmungen grassieren in Deutschland. Sie werden auf die Flüchtlinge projiziert, doch das eigentliche Feindbild sind die Politiker und überhaupt das, was als ein Kartell von Eliten verstanden wird - in Wirtschaft, Wissenschaft und Medien. Den etablierten Parteien wird das Vertrauen entzogen, aber oft auch den politischen Institutionen der Demokratie: den Regierungen, den Parlamenten.

Zwischen Euphorie und Düsternis

Es war wohl nichts mit dem sonnigen, perfekten Endzustand der Demokratie. Demokratie ist in der Krise - wieder einmal, denn das gehörte zu ihrer Geschichte immer schon dazu. Dazu gehört auch, dass in solchen Krisen die Schwanengesänge beginnen. Wir fallen vom einen ins andere Extrem - von der Euphorie in die Düsternis, ja in den Defätismus, der aus der Krise gleich das nahe Ende ableiten will. Geht das Zeitalter der Demokratie möglicherweise zu Ende?

Also müssen wir jetzt zusammenrücken und die wichtigsten Grundpfeiler der gefährdeten Ordnung verteidigen. Auch wenn viele Menschen sie geringschätzen: Die Institutionen dürfen nicht wanken. Wahlen und Parlamente, Regierung und Gerichte, all die steinernen Säulen der demokratischen Gewaltenteilung müssen nun abgestützt werden.

Der demokratische Optimismus ist unter einer dunklen Wolke. Das konstatierte der große US-amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey (1859-1952) im Jahr 1927, an der Schwelle der bis dahin tiefsten Krise der westlichen Demokratie. In Europa schwächelten die nach dem Ersten Weltkrieg etablierten neuen Demokratien schon wieder; dabei stand die Weltwirtschaftskrise noch bevor. Immer mehr Staaten zogen ein autoritäres Regime, ja Diktaturen neuen Typs den verabscheuten oder einfach fade gewordenen Demokratien vor - nicht zuletzt Deutschland mit der Herrschaft des Nationalsozialismus seit 1933.

Appell an die Bürger

Auch in den USA machten sich Fremdenfeindlichkeit und Rassismus breit, und Populisten erhielten - ganz ähnlich wie heute - Zulauf. Aber Dewey wollte mit seinem Bild von der Wolke keine Melancholie verbreiten. Er rief nicht einmal zuerst zu einer Verteidigung der demokratischen Institutionen auf. Sein Appell richtete sich an die Bürgerinnen und Bürger.

Demokratie, so sagte Dewey, ist nicht nur eine Sache der Politik und der Regierung, von Wahlen und Parlamenten in einem repräsentativen System. Demokratie muss etwas sein, was das ganze Leben durchdringt, den Alltag der Menschen auch in ganz anderen Lebensbereichen, in ihrer Einstellung, in ihren sozialen Beziehungen. Demokratie müsse "a way of life" werden, eine Lebensform weit jenseits der engeren politischen Ordnung.

Als die große Krise der Demokratie mit dem Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische Deutschland überwunden war, ging es zunächst wieder an den Aufbau der Institutionen, an die Schaffung der tragenden Säulen wie des deutschen Grundgesetzes von 1949.

Aber das genügte bald nicht mehr. Der Ruf nach der Wirtschaftsdemokratie kam wieder und schlug sich in der Erweiterung betrieblicher Mitbestimmung nieder. Wenig später, vor allem in den 1960er Jahren, entstanden ganz neue Ansprüche an Demokratie, aber auch neue Formen, sie zu praktizieren.

Bewegte Zeit um 1970

Das Vorbild war die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung. Junge Menschen, vor allem Studenten, gingen auf die Straße und protestierten. Demokratie hieß nicht mehr nur, in der Wahlkabine einen Stimmzettel anzukreuzen, sondern auch: gewaltloser Widerstand, Boykott, Demonstration, "Sit-In" und vieles mehr. Freiheit, Gleichheit, Partizipation sollten überall sein -die "Demokratisierung aller Lebensbereiche" wurde ein großes Schlagwort der bewegten und optimistischen Zeit um 1970.

Das alles sollte nicht nur die gewählten Politiker "basisdemokratisch" unter Druck setzen. Sondern auch aus dem Lebensalltag sollten verkrustete Strukturen, Hierarchien und nicht legitimierte Autoritäten verschwinden. "Das Private ist politisch", sagte die neue Frauenbewegung. Demokratie sollte sich auch in einer neuen Anerkennung der Gleichheit in allen sozialen Beziehungen wiederfinden, in einer Kultur des gegenseitigen Respekts, in einem Klima der Diskussion statt der Entscheidung "par ordre de mufti". Bis in die privaten Verhältnisse drang diese "Demokratie als Lebensform" vor und gestaltete das zuvor patriarchalisch-autoritäre Familienleben, das Verhältnis von Ehe- und Lebenspartnern und das von Eltern zu ihren Kindern neu.

Vieles davon ist heute selbstverständlich, und zugleich sind neue Chancen einer demokratischen Alltagskultur entstanden. Die digitale Revolution hat den Zugang zu Wissen und zu den Medien radikal verändert. Wir alle können an Wikipedia mitschreiben, statt auf die Autorität des Wissens von Experten, die einst im Brockhaus gedruckt war, zu vertrauen. Wir lesen nicht bloß in der Zeitung die Kommentare kluger Leute - jeder verbreitet seine eigene Meinung mittels der sozialen Medien.

Lebensform in der Krise

Ein anderes Handlungsfeld der Demokratie des Alltags ist der Konsum: Mit unseren Kaufentscheidungen drücken wir immer häufiger einen politischen Willen aus oder eine moralische Haltung, die zum gesellschaftlichen Appell werden soll.

Und doch steckt die "Demokratie als Lebensform" zugleich in einer tiefen Krise. Zu dieser Lebensform gehörte schon für Dewey das Vertrauen darin, Politik und Gesellschaft gestalten zu können - das Vertrauen in die Mitmenschen und in sich selbst. "Bloße gesetzliche Garantien der Grundrechte wie freie Meinungsäußerung nutzen wenig", schrieb Dewey im Oktober 1939, kurz nachdem Hitler-Deutschland den Zweiten Weltkrieg vom Zaun gebrochen hatte, "wenn die Freiheit der Rede, das Geben und Nehmen von Ideen, Tatsachen und Erfahrungen durch wechselseitigen Verdacht, durch Missbrauch, durch Angst und Hass erstickt wird."

Weltbild aus Angst

Und weiter: Angst, Hass, Rassismus, das sei nicht vereinbar mit Demokratie als Lebensform. Das ist das Grundproblem des neuen Populismus. Es geht den Enttäuschten, den Anhängern und Wählern Donald Trumps oder der AfD, nicht in erster Linie um ein politisches Programm, und auch nicht um ein Signal des Protests, um die etablierten Parteien aufzuwecken. Sie haben sich vielmehr in einem Weltbild und einer Lebenshaltung verfangen, die von Angst und Misstrauen geprägt ist: Misstrauen gegenüber den Menschen, die aus Syrien fliehen, Misstrauen gegenüber den Politikern, ja fundamentales Misstrauen gegenüber der Welt und den Mitmenschen. Hinter allem lauert nur noch eine Verschwörung.

Wahlen sind wichtig, und eine Demokratie ohne Wahlen ist schwer, nein eigentlich gar nicht vorstellbar. Aber die Demokratie der Wahlen und Parlamente ist mehr als eine technische Vorrichtung zur Delegation und Legitimation von Entscheidungen. Sie beruht auf dem, was Dewey "Demokratie als Lebensform" nannte: auf einer Lebenshaltung und Lebenspraxis des Respekts vor anderen, der praktizierten Gleichheit, der Zivilität und Gewaltlosigkeit.

Vertrauen statt Misstrauen

Und nicht zuletzt beruht eine demokratische Lebensform auf Vertrauen statt Misstrauen, das für viele Menschen zu einem Käfig der Obsession geworden ist. Deshalb möchte man, im Geiste John Deweys, den möglichen Wählern der AfD zurufen: Kommt endlich heraus aus eurer dunklen Ecke des Misstrauens und des immerwährenden Verdachts gegen alles und jeden. Das ist die eigentliche Krise der Demokratie, die wir überwinden müssen.

(Gekürzte Version eines Vortrags

im Deutsch-Amerikanischen

Institut Heidelberg)

Paul Nolte

  • Paul Nolte (Bild) kam 1963 in Geldern, Nordrhein-Westfalen, zur Welt und studierte Geschichtswissenschaft und Soziologie in Düsseldorf, Bielefeld und Baltimore, USA.
  • Promotion 1993, 1999 Habilitation in Bielefeld.
  • 2001 Professor für Geschichte an der International University Bremen, 2005 Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin.
  • Vertrauensdozent der Konrad-Adenauer-Stiftung, Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin, Mitglied im Beirat des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB).
  • 2016 Vorstandsmitglied und Sprecher des Dahlem Humanities Center der FU Berlin.
  • Autor von "Demokratie. Die 101 wichtigsten Fragen", C.H. Beck, München, 10,95 Euro, 160 Seiten. malo (BILD: FU Berlin)

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