Wie können, ja wie müssen wir als Gesellschaft auf die barbarischen Terrorakte von Paris reagieren? Indem wir uns zu unseren Werten bekennen und diese verteidigen, schreibt Ulrike Ackermann, Sozialwissenschaftlerin und Professorin in Heidelberg.
So tragisch der Anlass auch sein mag: Die islamistischen Terroranschläge in Paris, die Morde an den Mitarbeitern der Satire-Zeitschrift "Charlie Hebdo" und insbesondere die jüngsten grauenhaften Attentate zwingen uns wieder einmal, uns der grundlegenden Errungenschaften der liberalen Demokratie zu vergewissern und genau hinzuschauen, in welcher Weise unsere westlichen Werte bedroht sind. Die Islamisten führen seit langem einen Krieg gegen unsere Freiheiten und unseren modernen westlichen Lebensstil. In ihren Augen ist Paris die "Hauptstadt der Unzucht und der Laster", die sie zerstören wollen. Explosiver Hass schlägt dem Westen entgegen. Der Terror des politischen Islam und seine totalitäre Ideologie haben seit dem Massaker in New York am 11. September 2001 inzwischen Europas Hauptstädte erreicht. Gehasst wird der Geist des Westens, wie er in Wissenschaft und Vernunft zum Ausdruck kommt, und sein Lebensstil. Gebrandmarkt wird sein Individualismus, sein Materialismus und Hedonismus, die Sexualität und ihr Urbild, der weibliche Körper.
Hass auf die Gottlosen
Der politische Islam weiß genau, was er will. Er zaudert nicht, er zweifelt nicht - eine verabscheute westliche Attitüde - und zerstört alles, was vor und nach ihm entstanden ist. Menschen werden barbarisch getötet, aber auch das kulturelle Gedächtnis soll ausgemerzt werden. Die jungen Männer und Frauen, die in diesen Krieg gegen den Westen ziehen, berauschen sich in der Gemeinschaft der Umma (religiös fundierte Gemeinschaft der Muslime, Anmerkung der Redaktion) an ihrer göttlichen Mission, die ihnen den Austritt aus der profanen westlichen Welt und den Eintritt ins Paradies und ins Reich der Jungfrauen bescheren soll.
Besonders dem Gottlosen gilt der Hass, er soll vernichtet werden, um den Weg frei zu machen für die globale Herrschaft des Kalifats. Darin gilt das Individuum nichts und das Kollektiv alles. Mit dem Krieg, den der Islamische Staat und andere Terrorgruppen militärisch wie ideologisch gegen den Westen führen, hat diese totalitäre Ideologie rasante Verbreitung gefunden. Allzu lange hat die Politik die Abschottung der Parallelgesellschaften, in denen es bis heute Ehrenmorde, Zwangsverheiratungen und Frauenverachtung gibt, und die immense Zunahme des Salafismus sowie die Folgen des Syrienkrieges verharmlost.
Doch nicht nur der Islamismus, der gegen den Westen ideologisch und militärisch wütet, oder Putin mit seiner neoimperialen Politik bringen die westlichen Werte unter Druck. Auch rechts- und linkspopulistische Parteien und Bewegungen in ganz Europa schüren mit ihrer Globalisierungskritik, mit Antikapitalismus und Antiamerikanismus Zweifel an den Errungenschaften der westlichen Zivilisation. Bis in die Mitte der Gesellschaft reicht die Einschätzung, der Westen habe die Flüchtlingskrise selbst verursacht, aufgrund seiner Kolonialgeschichte und früherer Kriege.
Wie reagieren die Deutschen auf all diese Herausforderungen? In der öffentlichen Debatte hat man zuweilen den Eindruck von Freiheitsvergessenheit und Werteschüchternheit. Müssen wir nicht gerade jetzt über Jahrhunderte im Westen mühsam erkämpfte Standards und Lebensstile offensiv verteidigen? Als da wären: Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, soziale Marktwirtschaft, Achtung der Menschenrechte, die Trennung von Staat und Kirche bzw. Gesellschaft und Religion, Meinungs- und Religionsfreiheit, Schutz von Minderheiten, vor allem die Wertschätzung des Individuums und seine individuellen Freiheiten gegenüber dem Kollektiv, freiwillige Bindungen, die nicht auf Zwang beruhen, Gleichberechtigung der Geschlechter, sexuelle Selbstbestimmung, die Pluralität der Lebensstile, Toleranz, Skepsis gegenüber alten Gewissheiten, das Recht auf Irrtum und nicht zuletzt die diesseitige Lebenslust im Unterschied zu religiöser Jenseitigkeit. Es sind die Ideen der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789, die in der Erklärung der unveräußerlichen Menschenrechte mündeten und Kern unseres Grundgesetzes geworden sind.
Der Freiheitsindex Deutschland des John Stuart Mill Instituts hat dieses Jahr den Schwerpunkt "Westliche Werte". Die gesellschaftliche Wertschätzung der Freiheit ist im Vergleich zu den Vorjahren gewachsen. Auch das subjektive Freiheitsgefühl der Bürger ist stärker geworden. Doch in Bezug auf die freie Meinungsäußerung herrscht eine angespannte gesellschaftliche Atmosphäre. Der Anteil derjenigen, die sagen, man könne seine politische Meinung frei äußern, ist auf dem niedrigsten Stand seit 1990. Über 90 Prozent der deutschen Bevölkerung fühlen sich ganz klar dem Westen zugehörig. 52 Prozent sagen, es gibt eine westliche Kultur, gemeinsame Werte und Vorstellungen, die die westlichen Länder von anderen unterscheiden. Die schärfsten Bedrohungen für die "westlichen Werte" sehen die Befragten im internationalen Terrorismus (35 Prozent). Spontan assoziieren die Deutschen mit dem Begriff westliche Werte individuelle Freiheiten und Demokratie. Freie Wahlen (83 Prozent) sowie Presse- und Meinungsfreiheit (80 Prozent) werden am häufigsten genannt, an dritter Stelle steht Religionsfreiheit (75 Prozent). Der Aussage, die seinerzeit der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff machte und die von Kanzlerin Angela Merkel aufgegriffen wurde, "der Islam gehört inzwischen zu Deutschland", stimmen 63 Prozent der Bevölkerung nicht zu. 40 Prozent der Befragten haben das Gefühl, dass die westlichen Werte bedroht sind.
Angesichts der Flüchtlingswelle und Migrationsbewegung in Richtung Europa und insbesondere Deutschland scheint vielen hierzulande erst zu dämmern, wie begehrt diese Ecke der Welt ist. Wohlstand, Rechtsstaat, Marktwirtschaft, funktionierende repräsentative Demokratie und die Achtung der Menschenrechte sind so attraktiv, dass Hunderttausende ihr Leben riskieren, um hier neu anzufangen. Sie flüchten vor Armut, vor Kriegen und Bürgerkriegen in gescheiterten oder zerfallenden Staaten des Mittleren Ostens, vor afrikanischen Diktatoren, islamistischen Terrorgruppen und dem barbarischen Terror des Islamischen Staats.
Die Wirtschaftsmigranten aus dem Balkan wollen am westlichen Wohlstand partizipieren, ebenso im Übrigen wie die politischen Flüchtlinge. Sie begehren genau das, was ihre Peiniger hassen und vernichten wollen: unsere freiheitliche wirtschaftliche und politische Ordnung, den gut ausgestatteten Sozialstaat, die Einhaltung der Menschenrechte und unseren modernen westlichen Lebensstil.
Da kollidieren dann unterschiedliche Werte: Auf der einen Seite das hohe Gut der Freizügigkeit und Mobilität, Reisefreiheit und Niederlassungsfreiheit, auf der anderen Seite der Rechtsstaat, der die Gewährung des politischen Asyls regelt und dafür sorgen muss, dass dieses Grundrecht nicht von Wirtschaftsmigranten ausgehöhlt wird. Zugleich - und verschärft unter der Terrordrohung - reiben sich die Werte Freiheit und Sicherheit, die der Staat seinen Bürgern gewähren muss, um ihre Freiheit zu schützen.
Unsere Gesellschaft wird sich in jedem Fall weiter verändern. Denn nicht nur verfolgte Christen und aufgeklärte syrische Ärzte werden einwandern. Eine notwendig kontrollierte Einwanderung und Asylgewährung kann indes nur glücken, wenn unsere viel beschworene Willkommenskultur erwidert wird von einer Integrationswilligkeit der Einwandernden - und der umstandslosen Akzeptanz unserer im Grundgesetz verankerten freiheitlichen Werte. Sonst geraten genau jene westlichen Errungenschaften noch weiter unter Druck, die unsere offene Gesellschaft auszeichnen und uns weltweit so attraktiv machen. Der Westen muss, weil er so begehrt ist, Grenzen ziehen, um seine hart erkämpften Werte und Lebensstile zu erhalten.
Die barbarischen Terrorakte in Paris zeigen, dass wir unsere Freiheit gegenüber den Feinden der Freiheit immer wieder neu verteidigen müssen. Unsere westlichen Werte ebenso wie unseren Lebensstil, den anspruchsvollsten, den wir je erreicht haben und den viele Menschen auf der Welt ebenso anstreben. Angesichts der gegenwärtigen Situation sollten wir uns also dringend darüber verständigen und streiten, was uns unsere mühsam erkämpften Freiheiten wert sind und was davon nicht verhandelbar ist.
Ulrike Ackermann
Die Professorin Ulrike Ackermann ist promovierte Sozialwissenschaftlerin und hat Soziologie, Politik, Neuere Deutsche Philologie und Psychologie in Frankfurt studiert.
Sie lebt und arbeitet als freie Autorin in Frankfurt und ist Verfasserin und Moderatorin zahlreicher Rundfunksendungen.
Bis 2014 war sie Professorin für Politische Wissenschaften mit dem Schwerpunkt "Freiheitsforschung" an die SRH Hochschule in Heidelberg.
Dort gründete sie 2009 das John Stuart Mill Institut für Freiheitsforschung, das sie seither leitet.
Buchpublikationen: Unter anderem "Eros der Freiheit. Plädoyer für eine radikale Aufklärung" (Klett-Cotta, Stuttgart 2008), "Freiheit in der Krise?" (Hg., Humanities Online, Frankfurt 2009), "Freiheitsindex Deutschland" 2011, 2012,2013, 2014 und 2015 (Humanities Online, Frankfurt 2011, 2012, 2013,2014 und 2015).
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