Der Staat im Nahen Osten feiert den 70. Jahrestag. Untrennbar zur Geschichte gehört der Kibbuz, eine ländliche Siedlung. Sie ist aus der sozialistischen Vision entstanden, dass alle Bürger gleich sind. Zu Besuch im Dorf Zor’a.
Schon als Bub weckte das verlassene Steinhaus oben auf dem Hügel seine Neugierde. In seiner Fantasie malte er sich aus, Ali Baba und die 40 Räuber hätten einst darin gehaust. Wie die anderen Kinder aus dem Kibbuz liebte es auch Michael Kaminer auf dem felsigen, von Kakteen und Ruinen gesäumten Gelände, Versteck zu spielen. Aber viel Zeit sollte noch verstreichen, bis er, ein israelischer Filmemacher, begann, kritische Fragen zu stellen, was dort einmal war, bevor der Kibbuz Zor’a 1948, im gleichen Jahr wie der Staat Israel, gegründet wurde.
Heute, sagt Kaminer und streicht sich über seinen angegrauten Stoppelbart, verstehe er besser, „warum die Kibbuz-Pioniere uns nie davon erzählt haben“. Diesem Tabu, an das weder seine Lehrer, noch die alten Zeitzeugen rühren mochten. Einige aus der Gründergeneration hat Kaminer, seine Kamera auf der Schulter, interviewt. Gemeinsam sind sie über den bewaldeten Hügel spaziert, einer der ersten Anstiege von der Tel Aviver Küstenebene rauf nach Jerusalem. Nur wenige Überreste, die aus dem Gestrüpp lugen, künden noch davon, dass sich an den Hang früher kleine palästinensische Bauernhäuser schmiegten.
Für die frühen Bewohner in Zor’a war der Anfang noch ein Überlebenskampf gewesen. Sie hatten in der Harel-Brigade gedient, waren kaum älter als 18 Jahre, als sie vor die Wahl gestellt wurden, entweder weiter Militärdienst zu leisten oder sich auf dem eroberten Bergkegel anzusiedeln. Ein paar Holzbaracken waren schnell errichtet, gruppiert um jenes stattliche Gebäude aus festem Stein, das ihnen zunächst als Gemeinschaftszentrum diente. Sie nannten es das „Haus des Scheichs“.
Ein Scheich, ein islamischer Prediger, hatte zwar nie darin gewohnt, so wenig wie der Räuberhauptmann Ali Baba. Es gehörte dem Muchtar Abdullah Abu Latifa, seines Zeichens Bürgermeister des arabischen Dorfes Sar’a, das während des israelischen Unabhängigkeitskrieges am 15. Juli 1948 zerstört worden war. Ein Widerstandsnest war es nie gewesen. Aber so genau mochte das niemand wissen. Man wollte nach vorne schauen, sich etwas aufbauen in einem eigenen jüdischen Staat.
Verlustreiche Schlachten
Nur hatten längst nicht alle 400 Bewohner, die aus Sar’a geflohen waren, das Weite gesucht. Viele harrten in einer Polizeikaserne weiter unten aus, die die Briten mit dem Ende ihres Mandats aufgegeben hatten, und hofften auf Rückkehr. Fast täglich schlichen sie herbei, um nach zurückgelassenen Habseligkeiten und ihrem Vieh zu suchen.
Doch nun waren die Israelis Herren des Landes. Sie hatten in verlustreichen Schlachten den Landkorridor nach West-Jerusalem freigekämpft, so wie sie sich an vielen Fronten gegen feindliche Truppen aus fünf arabischen Staaten behaupten mussten. Alsbald bürgerte sich ein neuer Name für die ehemalige Residenz des Muchtars ein: „Jimmys Haus“, benannt nach einem Soldaten, der 1948 dort übernachtet hatte, bevor er am nächsten Tag starb.
70 Jahre ist das her. Genauso alt wird nun Israel, das eine Menge Gründe hat, stolz auf sein rundes Jubiläum zu sein. Schließlich blickt es auf eine einmalige Erfolgsgeschichte zurück, die nach dem schlimmsten Kapitel der jüdischen Geschichte, dem Holocaust, an ein Wunder grenzt. Seine schlagkräftige Armee gilt als die stärkste in der Region. Ihr innovativer Geist hat die Israelis zu einer der weltweit bewunderten Nation gemacht.
Zierbüsche um das Haus
Nur im Umgang mit Al-Nakba, wie die Palästinenser ihre 1948 erlebte Katastrophe von Flucht und Vertreibung nennen, verhält sich Israel wenig souverän. Es verbietet per Gesetz, in Schulen und Universitäten darüber zu sprechen. „Schon wenn meine Kibbuz-Nachbarn das Wort Nakba hören“, seufzt Michael Kaminer, „fühlen sie sich angegriffen.“
Eigentlich beschäme es ihn, sinniert der 53-Jährige am Küchentisch, dass er selber so lange gebraucht habe, sich für die palästinensische Vorgeschichte zu interessieren. Er lebt noch immer in Zor’a, in einem adretten Einfamilienhaus, um das sich Zierbüsche ranken. Inzwischen haben die Kibbuz-Mitglieder aus Zor‘a wie in den meisten Kibbuzim in Israel auch das Gleichheitsprinzip aufgegeben. Nur wenige arbeiten noch in der Landwirtschaft. Jeder macht auf privat, trotzdem hält man zusammen.
Jedenfalls war der Saal proppevoll, als Kaminer seine Kibbuz-Nachbarn zur Filmvorführung einlud. Interessant sei das schon, meinten manche, aber er solle den Streifen besser nicht außerhalb zeigen. „Ich war schon glücklich über die Diskussion“, sagt Kaminer. „Zum ersten Mal sprachen die Kibbuz-Mitglieder über das, was bis dahin verdrängt worden war.“
Während der Filmaufnahmen sind sich erstmals auch israelische und palästinensische Zeitzeugen begegnet. Leicht fiel ihnen das nicht. Das sagt in einer Szene Ella, die einst die Kibbuz-Kühe hütete. Sie hockt neben arabischen Flüchtlingsfrauen. Für einen Moment können sie sich gar vorstellen, als Nachbarn zu leben. „Warum nicht“, meint die hochbetagte, immer noch rüstige Ella. Doch in der Realität trennen sie Welten. Hier der gepflegte Kibbuz, dort das vernachlässigte Flüchtlingscamp Kalandia, wo jeder vierte der 12 000 Lagerbewohner ein Nachkomme aus dem palästinensischen Dorf Sar’a ist.
Daher gehört zu dieser Geschichte auch ein Abstecher nach Kalandia. Auf Westbank-Seite der von Israel errichteten Sperrmauer grüßen die Konterfeis von Jassir Arafat und dem inhaftierten Fatah-Idol Marwan Barghuti. In einer der verwinkelten Gassen wohnen die 95-jährige Miriam Abu Latifa und ihre weitläufige Familie. Sie wartet schon, fein gemacht in palästinensischer Tracht.
Detailreich schwärmt sie von ihrem verlorenen Heimatdorf, den Hochzeitsfeiern auf dem Platz in der Mitte. „Es war das beste Leben, wir bauten Gemüse und Getreide an, genug für uns selbst.“ Auch habe man gute Beziehungen zu den Juden aus einem Nachbarort unterhalten. Doch dann, im Sommer 1948, rückte der Krieg näher, eine israelische Bombe fiel auf das nahegelegene arabische Ramle. Gerüchte von Gemetzeln machten die Runde, weiß die Alte noch. „Um aus der Schusslinie zu kommen, sind wir weggelaufen.“ Die damals 25-jährige Miriam, ihr Mann und das Baby auf dem Arm. „Aus der Ferne schauten wir mit an, wie die Israelis begannen, unser Dorf zu demolieren.“ Sar’a blieb der Ort ihrer Sehnsucht. Erst nach dem Sechstagekrieg von 1967, als Israel die Grenzen aufmachte, sollte Abu Latifa ihn wiedersehen.
„Ich habe oft geweint“
Mehrfach hat Mariam Abu Latifa auf Einladung auch den Kibbuz Zor’a besucht. „Ich habe dabei oft geweint“, sagt sie. Doch sie habe den Israelis zeigen wollen, „dass wir unsere Heimat nicht vergessen haben“. Sie jedenfalls halte an der Hoffnung auf Rückkehr und eine friedliche Zukunft fest. Wie das gehen soll, weiß auch Michael Kaminer nicht. Dennoch ist er überzeugt, dass „eine Versöhnung nur möglich ist, wenn beide Seiten das Narrativ der anderen Seite anerkennen“. Seinen Film „Sar’a“ will er als Anstoß zu einem solchen Prozess verstanden wissen. An die 400 arabische Dörfer wurden im israelischen Befreiungskrieg zerstört. An ihrer Stelle entstanden zumeist jüdische Ansiedlungen oder Nationalparks.
Oben auf dem Hügel, wo einst das Haus des Muchtar von Sar’a stand, ist der Platz inzwischen zu einer Aussichtsplattform umgebaut. Manchmal kommen Jugendgruppen her, um den Geschichten über den biblischen Samson zu lauschen, der einst in der Gegend umhergestreift sein soll. Aber bisweilen tauchen auch Nachfragen zur jüngeren Historie auf. Nach 70 Jahren, findet Kaminer, sei es dazu an der Zeit.
Chronik
- 29. November 1947: Die Vollversammlung der Vereinten Nationen ruft zur Teilung des britischen Mandatsgebiets Palästina in einen jüdischen und in einen arabischen Staat auf (Resolution 181). Die Juden stimmen zu, die Araber in Palästina und die arabischen Staaten lehnen den Plan ab.
- 14. Mai 1948: David Ben Gurion verliest an einem Freitagnachmittag die Unabhängigkeitserklärung. Am Tag darauf erklären die arabischen Nachbarstaaten Ägypten, Jordanien, Libanon, Irak und Syrien dem neuen Staat Israel den Krieg, noch in der Nacht greifen sie an. Israel kann sein Territorium vergrößern und den Westteil Jerusalems erobern. Rund 700 000 Palästinenser fliehen vor den Kämpfen.
- Oktober 1956: In der Suez-Krise kämpfen israelische Truppen an der Seite Frankreichs und Großbritanniens um die Kontrolle des strategisch bedeutsamen Suez-Kanals, den der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser zuvor verstaatlicht hatte.
- Juni 1967: Im Sechstagekrieg erobert Israel den Gazastreifen, die Sinai-Halbinsel, das Westjordanland, Ostjerusalem und die Golanhöhen.
- Oktober 1973: Eine Allianz arabischer Staaten unter der Führung von Ägypten und Syrien überfällt Israel an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag. Nur unter schweren Verlusten gelingt es Israel, den Angriff abzuwehren.
- März 1979: Israels Regierungschef Menachem Begin und Ägyptens Präsident Anwar el Sadat schließen einen von den USA vermittelten Friedensvertrag. Es ist Israels erster Friedensvertrag mit einem arabischen Staat.
- Juni 1982: Beginn der Operation „Frieden für Galiläa“. Die israelische Armee greift Stellungen der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO im Libanon an und marschiert in das nördliche Nachbarland ein.
- Dezember 1987: Ausbruch des ersten Palästinenseraufstands Intifada.
- September 1993: Israels Ministerpräsident Izchak Rabin und PLO-Chef Jassir Arafat unterzeichnen die Oslo-Friedensverträge.
- 4. November 1995: Izchak Rabin wird nach einer Friedenskundgebung in Tel Aviv von einem jüdischen Fanatiker erschossen.
- September 2000: Nach einem Besuch von Israels damaligen Oppositionsführer Ariel Scharon auf dem Tempelberg in Jerusalem bricht die zweite Intifada aus.
- 2003: Die israelische Regierung beginnt mit dem Bau einer 750 Kilometer langen Sperranlage rund um das Westjordanland. Die Zäune und Mauern verlaufen zum Teil auf palästinensischem Gebiet.
- August 2005: Gegen den Widerstand der Siedler räumt Israel alle Siedlungen im Gazastreifen und zieht seine Truppen aus dem Palästinensergebiet am Mittelmeer ab.
- Juli 2006: Israel und die libanesische Hisbollah-Miliz liefern sich einen einmonatigen Krieg.
- Juni 2007: Die radikal-islamische Hamas vertreibt in einem blutigen Machtkampf unter Palästinensern die Fatah von Mahmud Abbas aus dem Gazastreifen.
- Jahreswende 2008/2009 bis August 2014: In drei Konflikten bekriegen sich das israelische Militär und die Hamas im Gaza-Streifen. Kurz vor dem Krieg 2014 scheitert der bisher letzte Versuch der beiden Seiten, am Verhandlungstisch eine Friedensregelung zu vereinbaren.
- Dezember 2017: US-Präsident Donald Trump verkündet den Umzug der Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem. Die Entscheidung stößt international auf heftige Kritik. Die Palästinenser verstehen es als Zerstörung der Zwei-Staaten-Lösung. (dpa/gin)
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