Zentralafrika - Regierung in Kinshasa will Einmischung in die Angelegenheiten des Landes unterbinden / Vereinte Nationen befürchten eine ungeahnte Katastrophe

„Ich weiß nicht, wohin ich sonst soll“

Von 
Mirjam Moll
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Die Stadt Bukavu im Osten des Kongo an der Grenze zu Ruanda. Rund 82 Millionen Menschen leben im1 Kongo, eine Million davon in Bukavu. © Moll

Erstmals hat eine internationale Geberkonferenz für den Kongo stattgefunden. Die Menschen dort brauchen dringend Hilfe.

Die alte Holzbrücke am Fluss hat zwei neue Fahrspuren bekommen – genau an dem Tag, an dem bekannt wurde, dass eine Delegation der Europäischen Union (EU) anreisen würde. Der kleine Fluss bildet die natürliche Grenze zwischen Ruanda und der Region Süd-Kivu.

Seit dem Plastikverbot gleichen die Straßen Ruandas jenen der Schweiz. Alles ist sauber, die Wege sind geteert. Unten am Fluss müssen alle ihre Reisepässe vorweisen. Es wird gestempelt, gefragt, und wieder gestempelt. Zwischen beiden Seiten, Ruanda und Kongo, ist eine feindliche Stimmung fast mit Händen zu greifen. Sie ist das Ergebnis eines blutigen Krieges, dessen Spuren bis heute in der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa zu sehen sind: Bis dorthin war das ruandische Militär in den 1990er Jahren vorgedrungen.

Herrschaft von Milizen

Der EU-Kommissar für humanitäre Hilfe, Christos Stylianides, geht zur Brücke, macht einige Fotos. Sofort kommt ein Grenzbeamter auf ihn zu: „Das dürfen Sie nicht.“ „Sorry my friend“, sagt Stylianides in seiner herzlichen Art und klopft dem sichtlich überraschten Mann auf die Schulter. Nach langem Hin und Her darf die EU-Kolonne schließlich über die Brücke rollen. Es folgt so etwas wie eine Straße: rotbraune Erde mit Schlaglöchern, teils aufgefüllt mit groben Steinen. Wer sich umdreht, kann noch die ordentlich geteerte Straße auf der ruandischen Flussseite sehen.

Hier, im Kongo, in der Region Süd-Kivu, kommt man ohne Jeep keinen Meter weit. Doch Stylianides will ohnehin zu Fuß gehen, den Menschen begegnen. Wenigstens ein kurzes Stück. Sicherheitsagenten weichen ihm nicht von der Seite, sichtlich nervös ob der Menschentraube, die sich schnell bildet.

Zunahme der Gewalt

Zwar ist Stylianides für humanitäre Hilfe der EU zuständig. Doch mit den Hilfsgeldern der Union fließt auch Kritik am Regime in der Demokratischen Republik Kongo, in der es keine freien Wahlen gibt und unzählige Milizen die Regionen beherrschen. Genau deshalb ist der Kommissar für humanitäre Hilfe hier. Doch das afrikanische Land lehnt es ab, als humanitärer Notfall betrachtet zu werden.

Die Klinik Panzi in Bukavu gehört zu den Rettungspunkten inmitten einer Region, die jahrzehntelang Schauplatz grausamster Kriegsverbrechen war. Die Gewalt in der Region hat jüngst wieder zugenommen. Die Zahl der Kinder, die Opfer sexueller Gewalt wurden, hat sich von 2016 bis 2017 verdoppelt, erklärt der Leiter der gynäkologischen Abteilung, Eric Wynants. Es herrscht erhöhter Alarm in Süd-Kivu.

Die 31-jährige Clotilde Mapensi ist erst seit einem Tag hier. Apathisch sitzt sie in der Praxis von Mami. Die wird von allen so genannt, weil sie sich um die Frauen kümmert, die nicht in Worte fassen können, was sie durchmachen mussten. Wenn Clotilde spricht, bleibt ihr Gesicht nahezu regungslos. Ihre Stimme ist ganz leise, ihr Blick auf ihre Hände gerichtet, die unentwegt unsichtbare Falten aus ihrem Rock streichen.

Familien verstoßen Frauen

Es waren drei Männer. Sie schlugen gegen ihre Tür in Bunjakiri, 80 Kilometer westlich von Bakawu, und drangen ins Haus ein. Alle trugen Militärkleidung, sagt sie. Die Fremden packten ihren Mann, drückten ihn zu Boden und stachen sofort auf ihn ein. Clotilde gestikuliert, ahmt die Messerstöße nach, die ihren Mann umbrachten. Ihre Stimme wird brüchig, Tränen rinnen über ihr ausgemergeltes Gesicht.

Clotilde hat eine Tochter, die einjährige Viviane. Clotilde hatte zwei weitere Kinder. Fünf und acht Jahre alt waren sie. Mit demselben Messer, mit dem sie zuvor ihren Mann ermordet hatten, begannen die Eindringlinge, die beiden Kinder zu verletzen. Schließlich griffen sie zu Kanistern, setzten sie in Brand und ließen das heiße, flüssige Plastik auf die Körper der Kinder tropfen.

Sie sind tot, ihre beiden Kinder. Auch ihre Jüngste hätte tot sein können. Die Männer warfen das damals sechs Monate alte Baby einfach auf den Müll. Clotilde vollführt eine Schleuderbewegung, nur um ihre Kleine noch fester in den Arm zu nehmen. Clotilde war den Männern hilflos ausgeliefert, die sich an ihr vergingen. Sie blieb nicht ihr einziges Opfer. Viele wurden in dieser Nacht überfallen. Clotilde schüttelt immer wieder ihren Kopf, ungläubig über das, was geschehen ist.

Danach verschwanden die Fremden. Clotilde wurde ins Krankenhaus gebracht, zusammen mit der kleinen Viviane, die den Wurf in die Mülltonne wie durch ein Wunder überlebte. Die äußeren Verletzungen werden behandelt, doch die inneren bleiben. Clotilde ist mager geworden, weiß nicht, ob sie mit einer Krankheit angesteckt wurde. Die Blutproben werden noch untersucht. Sie möchte gern hier bleiben, in der Klinik – und hier arbeiten: „Ich weiß nicht, wohin ich sonst soll“, sagt sie leise.

Clotilde ist kein Einzelfall. Jeden Tag kommen hunderte von Frauen hierher. Deren Männer vor ihren Augen umgebracht wurden. Deren Kinder gezwungen wurden, Vergewaltigungen mitanzusehen. Und es ist wie eine zweite Vergewaltigung, wenn die geschundenen Frauen von ihren Familien verstoßen werden, weil sie „unrein“ sind. Der Aberglaube, dass eine solche Frau der Familie Unglück bringen wird, herrscht in vielen Dörfern.

Mobile Klinik

Die EU will Kongo unterstützen. Aber wie soll sie gegen die Stigmatisierung ankämpfen? Sifa Mtamwenge arbeitet als Psychologin in der Panzi-Klinik. Sie weiß, wie sehr die Frauen leiden. Viel zu oft kommen Mädchen hierher – mit Kindern, die aus einer Nacht der Gewalt entstanden sind. Sie wollen sie nicht. Weil sie von Rebellen gemacht wurden, sagen sie. Die Kinder könnten zu Rebellen werden, fürchten sie. Ihre Männer wollen sie auch nicht – das Baby eines anderen unter ihrem Dach. Und so sind die Frauen oft auf sich allein gestellt.

„Wir sind froh, dass sich wenigstens ein paar aus dem Westen für uns interessieren“, sagt Mtamwenge. Inzwischen ist in der Panzi-Klinik so etwas wie eine Dorfgemeinde entstanden. Die Frauen sitzen zusammen, es läuft Musik, einige kochen, andere waschen, wieder andere arbeiten auf einem Feld, das hinter dem Hauptgebäude angelegt wurde. Andere sitzen da, warten – auf ein besseres Leben? Auf einen Morgen, an dem sie ohne Schmerz erwachen, das Geschehene vergessen haben?

Sie haben ihren Lebensmut trotz allem nicht verloren, sind dankbar für die Oase der Hoffnung, die die Frauenklinik ihnen bietet. Längst rücken die Panzi-Ärzte mit einer mobilen Klinik aus. Sie wollen mehr Betroffenen helfen, fahren bis zu 100 Kilometer über die holprigen Straßen. Dabei platzt das Krankenhaus Panzi schon jetzt aus allen Nähten. Die Patientinnen teilen sich manchmal zu viert ein Bett. Es bräuchte weitere Anbauten, doch dafür fehlt das Geld.

Martin Obero ist Finanzdirektor der Panzi-Stiftung. Er hofft, dass die Zahlungen aus Europa stabil bleiben. Vor allem aber, dass die EU politischen Druck ausübt, Veränderungen bringt. Der EU-Kommissar für humanitäre Hilfe ist auch deshalb gekommen. Denn obwohl die kongolesische Regierung Notstände einräumt, will sie nicht als Krisenstaat betrachtet werden. Dabei befinden sich innerhalb des Landes 4,5 Millionen Menschen auf der Flucht, etwa 630 000 haben nach Schätzungen der EU-Kommission in Nachbarländern Schutz gesucht. Es gibt im Kongo mehr als 13 Millionen Hilfsbedürftige, von denen weit über die Hälfte dringend Nahrungsmittelhilfe benötigen.

Besonders drastische Situation

Die Vereinten Nationen haben für mehrere Regionen des Landes die allerhöchste humanitäre Dringlichkeitsstufe L3 festgelegt. Sollte sich die Lage weiter verschärfen, wären „die Folgen unvorstellbar“, mahnt Stylianides. Für ihn ist Kongo eine absolute Ausnahme in der Reihe der afrikanischen Krisenländer. Auch deshalb war es ihm wichtig, als erster EU-Kommissar hierher zu kommen.

Für die Frauen in Panzi ist schon die derzeitige Hilfe ein Geschenk. Als Stylianides sich von ihnen verabschiedet, der Mann, der das Geld aus der EU bringt, der die Klinik in Panzi am Leben hält, führen die Frauen einen Tanz auf. Sie sind dankbar für die Hilfe, dankbar dafür, dass sie nicht völlig vergessen werden in Süd-Kivu.

Riesenreich in Zentralafrika

  • Präsident Joseph Kabila weigert sich, abzutreten, obwohl seine zweite Amtszeit bereits 2016 endete.
  • Die für 2017 geplante Wahl wurde mit immer neuen Begründungen verschoben. Nun soll Ende dieses Jahres gewählt werden.
  • Die politische Instabilität befeuert indes die Konflikte im Osten und im Zentrum des zentralafrikanischen Riesenreichs.
  • Die Vereinten Nationen haben die Demokratische Republik Kongo angesichts von Massenflucht und Hunger – neben Syrien, Irak und Jemen – zu einer der vier größten humanitären Krisen weltweit erklärt.
  • Schon nach dem Völkermord in Ruanda 1994 waren rund zwei Millionen Ruander, mehrheitlich Hutus, nach Kongo geflohen. (dpa)

Korrespondent

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