Bosnien-Herzegowina. Hass und Massenmord haben Bosnien-Herzegowina vor mehr als 25 Jahren in eine Hölle auf Erden verwandelt. 100 000 Menschen starben, und die Europäer wurden ihrer Illusion beraubt, dass es auf dem Kontinent nie wieder Krieg geben würde. In der Hauptstadt Sarajevo zeigt das Grauen noch immer seine Spuren. Ein Besuch.
Im Krieg waren sie noch Feinde und jetzt gehen beide in Kotorac jeden Tag Mittagessen - der Bosniake Meho Tirso (63) und der Serbe Milorad Tusevljak (53). Sie sitzen in ihrem Lieblingslokal am Fuße des Bergs Igman, Schauplatz der Olympischen Winterspiele von 1984. Die zwei Hungrigen spülen mit Bier ihr Reisgulasch runter. Das kleine Kotorac vor den Toren Sarajevos gehört zum serbischen Teil Bosnien-Herzegowinas. Vor dem Restaurant parkt ein roter Skoda mit „Eufor“-Flagge. So heißt der Militärverband der EU, der nur wenige Meter entfernt seinen Sitz hat. Eufor soll verhindern, dass die muslimischen Bosniaken, christlich-orthodoxe Serben und katholischen Kroaten wieder auf dumme Gedanken kommen. Zwischen 1992 und 1995 herrschte in Bosnien ein Krieg, den viele Europäer inzwischen vergessen haben. Die serbische Belagerung Sarajevos dauerte sogar bis 1996.
Jugend verlässt das Land
Die zwei Restaurantbesucher profitieren von der EU-Mission, die es nur deshalb gibt, weil Männer wie Tirso und Tusevljak gegeneinander kämpften. Jetzt verdienen sie bei Eufor als Elektriker 1000 Euro im Monat. In einem heimischen Betrieb bekämen sie nur die Hälfte. „Die Wirtschaft läuft nicht. Deshalb wandern die jungen Menschen aus. Meine Tochter lebt in den USA“, sagt Tirso mit traurigen Augen. „Und meine will nach Bremen. Sie kann als Pharmazeutin 4000 Euro bekommen“, sagt der Serbe Tusevljak.
„Wir lieben unser Land, wir sind alte Krieger“, meint der Bosniake Tirso, der damals in Sarajevo Hunger und Tod fürchten musste. Tusevljak kämpfte 200 Meter vom Restaurant entfernt gegen die Muslime. „Wir waren damals Feinde, jetzt sind wir Freunde. Was für eine verrückte Welt“, meint er. „Geschichte ist Geschichte. Keiner will mehr Krieg“, meint Tirso. Tusevljak erzählt: „Bei mir ist die halbe Familie gestorben.“ Tirso sagt, das spiele alles im Alltag keine Rolle mehr. Gefährlich seien aber Politiker, die die nationalistische Karte ausspielen würden.
In der Altstadt Sarajevos wirkt die Welt auf den ersten Blick gar nicht so verrückt. Im osmanischen Ausgehviertel riecht es nach Cevapcici. Die Kaffeehäuser sind bevölkert von jungen Europäern, die einträchtig neben arabischen Altersgenossen sitzen und wie sie Shisha rauchen. Überall gibt es Bier und Baklava. Es ist heiß, viele Frauen tragen kurze Hosen, die aus Saudi-Arabien schwitzen in ihren schwarzen Schleiern. Der Muezzin ruft, aber das weltliche Treiben der Freizeitgesellschaft hat auch Sarajevo trotz der vielen Moscheen voll im Griff. Die Hauptstadt zieht seit einigen Jahren immer mehr Reisende an, die sich hier im Vergleich zu den Balkan-Ländern Slowenien oder Kroatien relativ günstig vergnügen können.
Wer aber genau hinsieht, kann überall die bis heute nicht verheilten Wunden sehen. Die vielen Einschlaglöcher an den Häuserwänden wirken wie Mahnmale. Der Krieg zeigt noch immer seine Spuren. Diese will Merima Dervisbegovic den Menschen zeigen. Fern vom Trubel haben sich 25 Touristen um sie versammelt. Die 34-Jährige fällt nicht nur wegen ihrer schwarzen Sonnenbrille mit herzförmigen Gläsern aus dem Rahmen. Mehrmals die Woche führt sie Reisegruppen durch die Stadt. Damit verdient sie Geld, betreibt auf der Straße eine Volkshochschule und verarbeitet ihre Kriegserinnerungen. In der Gruppe sind alle in ihrem Alter oder jünger, kommen aus Ländern wie Spanien, Deutschland, den Niederlanden, Australien oder Italien. Einen Krieg haben sie nie erlebt.
Miss-Wahl in Trümmern
Dafür, dass der Hass zwischen den Nationalitäten so groß war, gibt die Reiseführerin einen recht objektiven Überblick über den Zerfall des sozialistischen Vielvölkerstaats Jugoslawiens, der mehrere Kriege auf dem Balkan auslöste. „Inzwischen wissen wir alle, dass 1980 mit dem Tod des Staatschefs Josip Broz Tito das Unheil langsam seinen Lauf nahm“, sagt sie. 1984 erlebte Sarajevo das letzte Wintermärchen vor dem Massensterben. „Nur acht Jahre später begann die Belagerung der Stadt“, die Dervisbegovic als kleines Kind erlebte. 1992 hatte sich Bosnien-Herzegowina für unabhängig erklärt. Wie bereits in Slowenien und Kroatien kam es nun auch dort zum Krieg. Damit war Jugoslawien als Bundesstaat tot. In Bosnien gab es allerdings besonders viele Todesopfer, weil Kroaten und Serben die Bosniaken in die Zange nahmen. Jeder wollte große Beute machen.
„Ich höre heute noch die Granaten und die Schüsse der Heckenschützen“, erzählt Dervisbegovic. Es gab kein Wasser und keinen Strom, die Menschen mussten in Schutzräumen bleiben. „Jeden Morgen kam ein Lehrer und hat uns zwei Stunden im Keller unterrichtet“, sagt sie. Damals war das Mädchen erst sieben. In ihren Händen hält sie jetzt das Bild einer Frau, die mit einem schwarzen Kleid und hohen Absätzen wie ein Model durch die Trümmer schlendert. „Die Frau wollte sich nicht von den Serben brechen lassen“, sagt Dervisbegovic. Rund 11 000 Menschen starben in den 1425 Tagen der Belagerung. „Im Krieg gibt es keine Zeit für Tränen. 1993 wurde sogar eine Miss Sarajevo gewählt“, sagt Dervisbegovic und zeigt eine weitere Aufnahme.
Beim Rundgang hält sie auf dem Markt an und zeigt auf den Boden. Dort ist ein großes Einschlagloch zu sehen, angemalt mit roter Farbe. Es sieht wie eine Rose aus. Am 5. Februar 1994 tötete an dieser Stelle eine einzige Granate 67 Menschen. Die internationale Empörung war groß. Diese Katastrophe leitete die Wende in dem Krieg auf dem Balkan ein. Ein Jahr später rettete die Nato die Bosniaken vor dem Untergang.
„Ein normales Leben kann heilen, wir sprechen heute nicht mehr so sehr über das Leid von damals“, sagt die 34-Jährige. Doch völlig loslassen kann auch sie nicht. „Immer wieder erwische ich mich dabei, wie ich meinen Neffen anschnauze, wenn der seinen Teller nicht leermachen will. Dann sage ich: ,In deinem Alter hatte ich nichts zum Essen. Iss endlich.’ Da merke ich, dass ich ein Psycho bin“, lacht die Frau und zeigt auf ein Denkmal, das eine zerbeulte Corned-Beef-Büchse darstellt. „Es hat schrecklich geschmeckt, doch ohne die Luftbrücke der Vereinten Nationen hätten wir nicht überlebt.“
„Romeo und Julia“
Vor einer echten Brücke bleibt die Reiseführerin stehen. Hier wurden die Bosniakin Admira und der Serbe Bosko am 19. Mai 1993 von Scharfschützen erschossen. An dem Tag sollten sie gegen Geld herausgeschmuggelt werden. Zuerst wurde Bosko getroffen, Admira rannte zu ihm und wurde ebenfalls getötet. Eng umschlungen lagen sie sieben Tage auf der Brücke. „Die Geschichte von Romeo und Julia aus Sarajevo gibt mir auch Hoffnung. Boskos Mutter, die in Serbien lebt, besucht einmal im Jahr Admiras Familie in Sarajevo“, sagt Dervisbegovic. Immer wieder stockt ihr die Stimme, wenn sie nach Worten sucht. „Aber es ist auch eine traurige Geschichte, ich kann sie nicht jedes Mal erzählen“, sagt die Frau und holt tief Luft.
Malika Berney (22), eine Australierin mit Schweizer Wurzeln, gibt nach dem Rundgang zu, dass sie nie etwas von dem Krieg gehört hatte. „Was ich jetzt gesehen habe, berührt mich sehr.“ Der Niederländer Joop Paddenburg (24) kennt die Geschichte. „Srebrenica“. Dieses Wort steht für das Versagen der Weltgemeinschaft, an dem auch niederländische UN-Blauhelme ihren Anteil tragen, weil sie tatenlos zusahen, wie im Juli 1995 bosnisch-serbische Milizen 8000 muslimische Jungen und Männer ermordeten. Die Stadt stand unter dem Schutz der Vereinten Nationen. Aber Srebrenica wurde für die Opfer zur tödlichen Falle. Es war das größte Massaker in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.
Ballern auf Pappgesichter
Unterwegs zum Berg Igman sieht es wie im Schwarzwald aus. Überall Fichten. Aber auch hier wird die Idylle immer wieder getrübt. Das Hotel Igman ist völlig zerstört, weil auch auf dem Berg die Kämpfe tobten. Der Betonklotz wurde nie wieder aufgebaut. Inmitten der Einsamkeit sind immer wieder Friedhöfe mit weißen Grabsteinen zu sehen, auf denen die Al-Fatia zu sehen ist, die erste Sure im Koran. Plötzlich taucht ein Schild mit der Aufschrift „Kriegsgebiet Igman“ auf. Im Wald ballern zwei kleine Jungs mit Softair-Maschinenpistolen auf Pappgesichter. Ein Mann in kurzer Tarnhose zeigt stolz das Gelände. Der 38-jährige Bosniake ist der Besitzer der Anlage. „Mein Vater hat hier früher gekämpft.“ Alihodzic zeigt auf einen Laster in grüner Tarnfarbe: „Der ist original.“ Touristen können auf den Original-Kriegsschauplätzen mit Softair- und Paintballwaffen aufeinander schießen. Findet er das makaber, immerhin mussten hier viele Menschen sterben? Schon die Frage kommt Alihodzic merkwürdig vor. „Das ist doch alles nur Spaß.“ Außerdem könne er gutes Geld verdienen. „Aber . . ?“ Der Besitzer erstickt die Frage und sagt: „Es kommen doch auch Deutsche hierher. Auch ihr braucht mal einen Adrenalinkick.“
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