Der Sozialphilosoph Axel Honneth ist für seine Studien mit dem Ernst-Bloch-Preis der Stadt Ludwigshafen ausgezeichnet worden. In seiner Preisrede erläutert Honneth, wie es gelingt, in hoffnungslos scheinenden Zeiten Zuversicht zurückzugewinnen.
Dass Hoffnung Gründe braucht, um mehr zu sein als ein vages Sehnen, hat Ernst Bloch nie bezweifelt. Von Beginn an war er der Überzeugung, dass das in unserer Natur angelegte Bedürfnis, eine zukünftige Verwirklichung unserer Wünsche und Absichten zu erhoffen, der Unterstützung durch theoretisches Wissen bedürfe, wenn aus der diffusen Erwartung ein gewisses Vertrauen auf einen geglückten Ausgang werden sollte. Die Idee, dass das Hoffen erlernbar und lehrbar sein müsse, gehört zum innersten Bestand der Philosophie Blochs.
Nun leben wir freilich in Zeiten, in denen uns die Gründe für eine solche Verwandlung der Hoffnung in eine theoretisch grundierte Zuversicht abhanden gekommen scheinen. Man muss sich nur umtun in den Stimmungslagen großer Teile der Bevölkerung, um sich ein deutliches Bild vom Mangel jeder auf die Zukunft gerichteten Zuversicht zu machen: Kaum jemand dürfte heute sein Unbehagen über die sozioökomischen Zustände, über die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich oder die Unbeständigkeit der Beschäftigungsverhältnisse, noch mit dem Vertrauen darauf verbunden wissen, dass sich all das aus allgemein einsehbaren Gründen schon in absehbarer Zeit zum Besseren wird wandeln können.
Mangel an Visionen
Nicht nur mangelt es an utopischen Visionen, die unsere Empfindungen derart mitreißen, unsere Fantasien so sehr in Erregung versetzen könnten, dass wir allen Kleinmut fahren lassen und mutig nach Verbündeten im Kampf gegen die bedrückenden Verhältnisse suchen; vielmehr scheint uns bereits die subjektive Resonanz für solche Bilder einer besseren Zukunft zu fehlen, so dass, gäbe es sie, wir unempfindlich für ihre ermutigenden Botschaften blieben.
Allerdings ist diese elementare Ansprechbarkeit auf Vorstellungen eines Besseren, folgen wir Bloch, bei uns Menschen niemals restlos ausrottbar; sie ist, so glaubt er, als ein Affekt so tief in unserer Triebnatur beheimatet, dass sie alle Anfeindungen und Enttäuschungen wird überleben müssen: Wunschlos zu sein, vor uns hinzuleben, ohne etwas Besseres für die Zukunft zu erstreben, gehört nicht zu den uns Menschen gegebenen Möglichkeiten.
Also stellt sich angesichts der beschriebenen Situation die Frage, woran es uns fehlt, wenn wir die existierenden Verhältnisse zwar beklagen, gleichzeitig aber nicht mehr über die Fähigkeit zur Antizipation einer Wendung zum Besseren verfügen.
Man wird Ernst Bloch zunächst wohl darin recht geben müssen, dass es wenig plausibel ist, von einem Verschwinden all unserer Hoffnungsfähigkeit zu sprechen; wenn schon das Kind während der Schulzeit davon träumt, endlich bald Ferien zu haben, um mal wieder frei und unbekümmert in den Tag hinein leben zu können, wird auch der Erwachsene sich einen Teil dieses Vermögens zur imaginären Vorwegnahme größerer Freiheiten oder glücklicher Ausgänge bewahrt haben. Allerdings spielen wir mit diesen Beispielen auf Fälle an, in denen der Hoffende gewöhnlich auf Gründe rekurrieren kann, die ihm die Wahrscheinlichkeit eines Erreichens der erhofften Zustände plausibel machen.
Weg von der Aussichtslosigkeit
Die Erreichbarkeit intendierter Zustände wächst mit dem Grad, in dem wir daran glauben, über die Fähigkeiten zu ihrer Herbeiführung von uns aus zu verfügen; und dieses Selbstvertrauen dürfte wiederum nicht unabhängig von der Wahrscheinlichkeit sein, mit der wir mit dem Eintreten solcher erhofften Zustände rechnen können.
Kehren wir von hier aus wieder zum ungleich komplexeren Fall der Hoffnungslosigkeit ganzer Bevölkerungskreise zurück.
Das individuell scheinbar unausrottbare Bedürfnis, sich Hoffnung auf eine Verbesserung des gegenwärtigen Zustands zu machen, findet in der sozialen Wirklichkeit nicht die Anhaltspunkte, die eine begründete Aussicht auf die tatsächliche Erreichbarkeit des Erhofften begründen könnten, woraus dann folgt, dass damit auch jegliches Vertrauen auf die eigenen Kräfte zur Bewirkung der ersehnten Veränderungen schwindet.
Über keine Gründe zu verfügen, um noch an die mögliche Verwirklichung der eigenen Hoffnungen zu glauben, bedeutet gleichzeitig, keine aktiven Anstrengungen mehr unternehmen zu können, an den gegebenen Verhältnissen etwas zum Besseren zu wenden.
An diesem Punkt unserer Vorklärungen stellt sich die Frage, ob wir über Vorstellungen einer Therapie, einer Art von Kur verfügen, die dazu in der Lage wäre, die Betroffenen von einer solchen lähmenden Aussichtslosigkeit zu befreien.
Archäologie der Utopien
Suchen wir im Werk von Ernst Bloch eine Antwort auf die damit umrissenen Fragen, so werden wir, wenn ich es richtig sehe, auf keine eindeutigen Aussagen stoßen. Natürlich wollte er mit seiner Philosophie mehr als nur eine Phänomenologie der menschlichen Hoffnungsfähigkeit und eine damit verknüpfte Archäologie abgesunkener oder vom Vergessen bedrohter Utopien liefern.
Nur in einem seiner Bücher, der großartigen Studie über Naturrecht und menschliche Würde, hat Bloch dieses Desiderat seiner Philosophie der Hoffnung zu beheben gewusst. Darin wird weder eine Phänomenologie der zukunftsbezogenen Gefühlseinstellungen noch eine Archäologie versunkener Utopien entwickelt; statt dessen findet sich hier in stilisierter Form ein Prozess der Rückerinnerung vorgeführt, in dem die Kämpfe zu Bewusstsein gebracht werden, die seit dem 16. Jahrhundert im Namen des Naturrechts zur Durchsetzung menschlicher Würde und Integrität bestritten wurden.
Aussicht auf Erfüllung
Interessant ist nun aber auch, dass das Erinnern in einem komplementären Verhältnis zum Hoffen steht, wenn sich dieser zweite, nach vorne gerichtete Bewusstseinsakt, also das Hoffen, auf einen gewissen Grad an Sicherheit gewährende Gründe stützen kann: Je stärker nämlich die empirischen Anhaltspunkte dafür sind, dass sich das Ersehnte erfüllen könnte, desto eher verhält sich die Hoffnung wie das zukunftsgerichtete Gegenstück zum vergangenheitsbezogenen Bewusstseinsmodus des Erinnerns.
Das damit umrissene Verhältnis von Erinnern und Hoffen gibt uns nun die Möglichkeit, so denke ich, noch einmal neu und besser gewappnet über die Aussichten einer Therapie jenes gegenwärtigen Bewusstseinszustands nachzudenken, in dem mangelnde Zukunftsgewissheit und Willenlosigkeit ein trostloses Paar bilden.
Soziale Verbesserung
Übertragen wir diese Empfehlungen auf unsere gegenwärtige Lage, so scheint mir klar, was uns, die wir Blochs Insistieren auf die praktische Triebfeder der Hoffnung nicht preisgeben wollen, als intellektuelle Aufgabe heute gestellt ist.
Als erstes fällt bei einem solchen Vorhaben ins Auge, dass es auch heute an jeder überzeugenden Vorstellung eines von der Vergangenheit aus in die Zukunft weisenden Fortschritts mangelt: Ein zentraler Grund für die gegenwärtig grassierende Hoffnungslosigkeit (könnte) der Umstand sein, dass nicht einmal in vagen Umrissen eine hinter uns liegende Linie sozialer Verbesserungen erkennbar ist, auf die sich begründete Annahmen hinsichtlich der Unvermeidlichkeit ihrer Verlängerung in die Zukunft hinein stützen könnten.
Das Verblassen allen Gefühls dafür, von einem Prozess gerichteten Wandels zum Besseren getragen zu sein, wäre dann eine wesentliche Ursache für den lähmenden Mangel an Zuversicht, von dem große Teile der Bevölkerung heute erfasst sind; und die angemessene Kur dieser Mutlosigkeit (hätte) darin zu bestehen, mit Hilfe einer möglichst überzeugenden, allgemein nachvollziehbaren Erzählung einen Sinn für die in der Vergangenheit erzielten Fortschritte überhaupt erst wieder zu wecken, so dass sich daraus ermutigende Rückschlüsse auf die Wahrscheinlichkeit ihrer Fortsetzung in der Zukunft ziehen ließen.
Anerkennung und Einbeziehung
Ich habe bereits angedeutet, wie ich mir den sozialen Mechanismus vorstellen könnte, mit dessen Hilfe ein solcher Prozess moralischen Fortschritts in möglichst plausibler Weise zu erklären wäre; man müsste den Kampf sozialer Gruppen um gesellschaftliche Anerkennung und Einbeziehung zum Schlüssel einer Deutung dafür machen, warum zwar nicht kontinuierlich, aber doch unaufhaltsam der Grad der Inklusion in die moralische Gemeinschaft angewachsen ist und damit der Umfang der wechselseitigen Anteilnahme im Laufe der Zeit gravierend zugenommen hat - demonstrierbar sowohl an neuen Rechtsgrundsätzen wie auch an gewandelten Verhaltenspraktiken.
Aber mit der Illustrierung eines solchen Prozesses moralischen Fortschritts sollte es nicht getan sein; über die theoretische Versicherung hinaus, von einem hinter uns liegenden Strom der sozialen Verbesserungen getragen zu sein, bedurfte es auch noch der motivationalen Ermutigung, jene bereits erfolgten Verbesserungen mit eigenen Kräften weiter nach vorne zu treiben.
Ich wundere mich seit langem, warum das von Immanuel Kant für diesen Zweck ersonnene Instrument des "Geschichtszeichens" heute nicht breitere Anwendung findet unter denen, die ein Interesse an der Wiederbelebung eines Geistes des Aufbegehrens und des Widerstandes haben. Die politischen Erfolge der jüngeren Vergangenheit symbolisch in der Weise darzustellen, dass sie uns wie Gedächtnismale die allseits begrüßten, kaum mehr rückgängig zu machenden Errungenschaften unserer eigenen politischen Kämpfe vor Augen führen, dürfte doch eines der wenigen methodischen Mittel sein, die uns zu Gebote stehen, um uns selbst und andere zur Fortführung unserer Anstrengungen zu motivieren.
Aktivierung der Fantasie
Und obwohl es nicht so scheinen mag, gab es selbst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs genügend moralische Durchbrüche und Verbesserungen - die Einrichtung eines internationalen Gerichtshofes, die weltweite Billigung von Kinderrechten, um nur zwei zu nennen -, auf die wir wie auf geschichtliche Zeichen des Erfolgs emanzipatorischer Bemühungen zurückblicken können, um daraus Mut und Zuversicht zu schöpfen.
Hoffnung in hoffnungslos gestimmten Zeiten zurückzugewinnen verlangt die Aktivierung einer geschichtsphilosophischen Fantasie, die am Vergangenen unser eigenes Bewirken moralischen Fortschritts zum Leuchten bringt.
(Gekürzte Version der Preisrede. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags)
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