Nationalsozialismus - Adolf Hitlers Aufstieg an die Spitze des Dritten Reichs gelang auch aufgrund einer gekonnten Selbstdarstellung und der Glaubensbereitschaft der Anhänger

"Grenzenlose Hingabebereitschaft an einen gesandten Befreier"

Von 
Herfried Münkler
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Ohne den Nimbus der Herrlichkeit wirken Herrscher lächerlich, wie Helge Schneider zeigt.

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Zur Inszenierung von Macht gehören auch Charisma und der Anschein von Genialität. Im Rahmen einer Vortragsreihe an der Universität Heidelberg erläutert Herfried Münkler, wie sich Adolf Hitler zum Führer stilisierte.

Mehr als 70 Jahre nach seinem Selbstmord im Bunker der Reichskanzlei beschäftigt uns Adolf Hitler immer noch, und er tut das nicht zuletzt deswegen, weil wir nicht verstehen können, warum so viele Menschen ihm folgten, ihn nicht nur wählten, sondern auch verehrten und bewunderten. Wenn die Erklärung dieser Hitlerbewunderungen für die Anfangsperiode des NS-Regimes mit materiellen Interessen noch tragfähig sein mag, so gilt das kaum noch für die Zeit nach Stalingrad - also ab Januar 1943, als zu der Niederlage an der Wolga auch noch der Bombenkrieg gegen deutsche Städte dazukam. Zeigte sich darin eine Erwartung, das "Genie des Führers" werde in letzter Minute noch einen Ausweg finden? Die Wunderwaffen, von denen die Rede war, die angeblichen Geheimverhandlungen mit den Westmächten - diese und ähnliche Vorstellungen ließen viele Deutsche bis zum Schluss an Hitler und das Genie des Führers glauben. Manche von ihnen taten das auch über das Ende des Hitlerreichs hinaus. Wie lässt sich das erklären?

Hier kommen Vorstellungen von Genie und Charisma ins Spiel, die für eine Gefolgschaftsbeziehung und einen inbrünstigen Glauben stehen, die beide mit den Kategorien der Rationalität nicht zu entschlüsseln und zu erklären sind. Es sind Vorstellungen, die nicht unbedingt etwas über die Qualitäten und Fähigkeiten des als Genie und Charismatiker Apostrophierten aussagen, sondern vor allem etwas über die Beziehung zwischen Führer und Geführten, Charismatiker und Gefolgschaft. Es geht immer auch um Geniekult und Charismaglaube, also um die Zuschreibung von Eigenschaften und Fähigkeiten an jemanden. Es kann sich also durchaus um eine bloße Imagination des Genialen, eine Vorstellung des mit außeralltäglichem Heil Ausgestatteten handeln; es kann freilich auch sein, dass sich da einer in besonders geschickter Form als Genie und von einer höheren Macht gesandter Befreier oder Erlöser inszeniert hat oder in Szene gesetzt worden ist, um eine grenzenlose Hingabebereitschaft hervorzurufen.

Sogenannte Flimmerbegriffe

Ich werde mich im Nachfolgenden also auf - mindestens - drei Ebenen zu bewegen haben und dabei immer wieder zwischen ihnen wechseln müssen: erstens der Ebene von Aussagen über Hitler; zweitens der Ebene einer Inszenierung Hitlers als jemand, der er tatsächlich gar nicht war; und drittens der Ebene einer Erlösungssehnsucht vieler Menschen. Alle drei Ebenen hängen freilich miteinander zusammen, sie interagieren regelrecht miteinander, und das in einer Weise, dass sich bestimmte Beobachtungen nicht immer einer dieser Ebenen zurechnen lassen. Ich möchte Genie und Charisma darum als Flimmerbegriffe bezeichnen, die sich analytisch wohl relativ präzise definieren lassen, aber dann, wenn sie auf konkrete Fälle angewandt werden, in Schwingung geraten und zu oszillieren beginnen.

Und nicht nur das: Die Tücke der beiden Begriffe besteht darin, dass sich mit ihnen nahezu alles erklären lässt - dass man, immer wenn man wieder einmal vor einer verschlossenen Tür steht, auf diese Begriffe zurückgreift, um weiterzukommen. Als Forschungsmodelle verleiten beide Begriffe also dazu, alles Mögliche auf Außeralltäglichkeit hinzubiegen - mit der Folge, dass man nicht weitersucht, wo durchaus noch einiges zu finden wäre.

Ich habe diese Leitfragen vorangestellt, um nicht der Neigung zu verfallen, die sich bei den meisten Biographen Hitlers beobachten lässt, nämlich immer dann, wenn etwas schwer zu erklären ist, den Charismabegriff zu bemühen und ihn gewissermaßen als handlichen Lückenstopfer einzusetzen.

Dementsprechend bleibt der Geniebegriff auf Hitler als Feldherrn beschränkt, und hier auch nur auf eine bestimmte Phase des Krieges, die von 1939 bis 1942 reicht. Der Charismabegriff ist gegenüber dem des Genies wertfreier und findet deswegen, soweit ich die einschlägige Forschungsliteratur überschaue, auch häufiger Verwendung. Der Gebrauch des Genie-Attributs ist hingegen verwoben in die Selbstdestruktion des Prädikats vom "größten Feldherrn aller Zeiten" im Verlauf der beiden letzten Kriegsjahre, während das Charisma-Modell bis in die letzten Tage Hitlers im Führerbunker im April 1945 durchzuhalten ist. Durch diesen Unterschied sind Genie und Charisma einander ergänzende Begriffe.

Auch das ist im Auge zu behalten, wenn ich mich nachfolgend auf den politischen Aufstieg und Niedergang Hitlers konzentrieren will, um an ihm zu erproben, inwieweit mit beiden Begriffen erklärt werden kann, wie ein sozialer Außenseiter, eine vor dem Krieg als gescheiterte Existenz zu bezeichnende Person, an die Spitze einer Partei kommen, diese zur stärksten Partei im Reichstag machen und das Amt des Reichskanzlers übernehmen konnte.

Intuition wider Sachlichkeit

Die NSDAP als bürokratische Organisation war vor, vor allem aber nach Hitlers Haft in Landsberg am Lech die organisatorische Voraussetzung dafür, dass Hitler die charismatischen Züge seiner Rhetorik in München und Bayern und später dann in Deutschland entfalten konnte. Entscheidend für das Charisma Hitlers war jedoch, dass die bürokratische Parteiorganisation Hitler nicht vereinnahmte, sondern immer etwas gegenüber seiner Person Apartes blieb. Der Parteiapparat mit seinen Chargen ließ als Kontrastfolie Hitlers Charisma umso deutlicher hervortreten.

Die Auseinandersetzung des Genieanspruchs mit dem Fachlich-Sachlichen, die Konfrontation des die Lage intuitiv Erfassenden mit den jahrelang Ausgebildeten zeigt sich auch im Zusammenspiel und Gegeneinander Hitlers mit den Generalstabsoffizieren der Wehrmacht, die zunächst an der Möglichkeit eines erfolgreichen Krieges der Deutschen in Europa zweifelten.

Was Hitler unter allen Umständen vermeiden wollte, war eine Wiederholung von Napoleons Schicksal in Russland 1812, als dieser den Rückzug befahl und in der Kälte des russischen Winters seine Armee verlor. Aber es ging nicht nur um die Vermeidung einer Wiederholung, sondern auch darum, zu vermeiden, dass Parallelen zwischen Napoleon und Hitler in Russland gezogen werden konnten. Intuitiv war Hitler klar, dass er, wenn es ihm gelingen würde, das napoleonische Beispiel zu vermeiden, in seinen militärischen Entscheidungen kaum noch angreifbar sein würde. Während die meisten Generäle bezweifelten, dass die in Kesseln eingeschlossenen Truppen durchhalten würden, setzte Hitler genau darauf - und behielt im Winter 1941 recht.

Das militärische Genie Hitlers, das zuvor mehr eine Behauptung seiner Entourage war, wurde im Winter 1941 zu etwas, was für einen Großteil der Offiziere zum letzten Hoffnungsanker in ausweglosen Situationen wurde. Die erlernten Kenntnisse des Generalstabs, die fachlich-sachlich erworben waren, waren das Eine, aber das Andere war die höhere Genialität des Führers, der intuitiv das Richtige erfasst hatte, so der Tenor, und es mit äußerster Entschlossenheit gegen die von der eingetretenen Lage überforderte Generalität durchsetzt hatte.

Immunisierung gegen Fakten

Was zuvor eher eine Inszenierung war, wurde nun zum Glaubenssatz der Hitler ergebenen Offiziere. Dieser Glaube an Hitlers Genie war die Grundlage ihrer Folgebereitschaft auch nach den Niederlagen an der Ostfront seit Winter 1942/43, und er hinderte sie daran, sich der kleinen Gruppe des Widerstands in der Heeresgruppe Mitte um General Henning von Treskow anzuschließen. Worauf wir hier stoßen, ist ein Glaube, der unwiderlegbar ist und auch durch die Ereignisse nicht angefochten werden kann. Der Glaube an Hitlers Genie, der sich bei den Berufsoffizieren erst langsam durchgesetzt hatte, wurde zur Immunisierung gegen die Kenntnisnahme der tatsächlichen Lage.

Im Verlauf seiner Agitationstätigkeit hatte Hitler ein rhetorisches Charisma entwickelt, eine Ausstrahlung, mit der ein Gebanntsein seiner Zuhörer korrespondierte. Es waren im München der frühen 1920er aber weniger Arbeiter als vielmehr Angehörige des unteren Mittelstands, die seine Zuhörerschaft bildeten und auf Hitler wie ein Verstärker wirkten. Es folgte eine Perfektionierung der Auftritte: Hitler sprach frei und ohne Pult. Er stand frei; innerhalb der Zuhörerschaft, aber doch herausgehoben: Er war ein Teil der Menge und stand doch über ihr. Er sprach aus, was viele dachten oder bloß empfanden, und gleichzeitig kam seine Rede von oben auf die Zuhörer wie eine Offenbarung. Sie war Bindeglied zwischen dem Hier und Jetzt und einem Höheren, zwischen dem Wissen der Leute und der Offenbarung einer höheren Wahrheit, sie war der Generator des Hitlerschen Charismas.

Liturgische Elemente

Die Partei inszenierte die Reden Hitlers als charismatische Ereignisse: Die Versammelten warten. Endlich kommt der Erwartete. Hitler spricht frei und steigert sich in einen Rausch. Die Zuhörer werden zu Teilhabern des Mysteriums, sie werden eingeweiht - und auf diese Weise werden sie selbst geweiht. Hitler hat viel von der katholischen Liturgie übernommen. Der tosende Applaus wird zur Entladung der angestauten Spannung. Die Teilnahme wird zum Initiationserlebnis. Die Zuhörer werden zur Gefolgschaft. Fast alle Reden Hitlers folgen diesem liturgischen Modell. Der Auftritt wird als sukzessives Offenbarungserlebnis inszeniert, und die Zuhörer werden Teil eines mystischen Ereignisses, das sie in Bann schlägt. Das wiederholt sich bis Anfang 1943 immer wieder, wenngleich Hitlers Auftritte als Redner seltener werden.

Im Januar/Februar 1943 wurde Hitler rhetorisch immer wieder erneuertes Charisma durch den Glauben an das Genie des Führers ersetzt. Die Bilder zeigen die Einsamkeit des Entscheiders, der über Karten gebeugt das Kriegsgeschehen lenkt und das Schicksal des deutschen Volkes in seinen Händen hält. Das charismatische Erlebnis ist zum Genieglauben geworden - und der hat eine größere Alltagstauglichkeit als das Charisma, das immer wieder der Erneuerung, der Revitalisierung bedarf.

Mit Sicherheit war Hitler in militärstrategischer Hinsicht kein Genie, aber er profitierte, wie Wolfram Pyta jüngst gezeigt hat, von seiner als Architekturzeichner erworbenen Fähigkeit, in räumlichen Konstellationen zu denken, Konstellationen zu erfassen und sich daraus ergebende Möglichkeiten zu realisieren. Das war in den Kriegen des 20. Jahrhunderts eine bedeutende Ressource, insofern der Feldherr nicht mehr vom Hügel aus führte, sondern seine Entscheidungen am Kartentisch traf.

Willfährige Gefolgschaft

Hitler hatte eine Vorliebe für Generäle, die von vorn führten, und er war ein eingefleischter Gegner der Generäle, die den Prägestempel der deutschen Generalstabsausbildung trugen. Erstere waren diejenigen, die sich dem um ihn entfalteten Geniekult fügten, daran teilnahmen und so zu Werkzeugen in Hitlers Selbstinszenierung wurden. In letzterem dagegen sah er Gegenspieler und fürchtete, von ihnen als Dilettant betrachtet zu werden - was einige auch taten.

Aber selbstverständlich war jede Kriegführung im 20. Jahrhundert auf einen leistungsfähigen Generalstab angewiesen. Am Anfang sah sich Hitler noch als Inspirator der Planungen des Generalstabs, und in Erich von Manstein hatte er einen tatsächlich genialen General gefunden, der Unkonventionalität, Überraschung und Fachkompetenz miteinander verband. Warum ist es nicht zu einer dauerhaften Kooperation zwischen beiden gekommen? Hitler hatte Angst vor einem zweiten Hindenburg, der im Ersten Weltkrieg an die Stelle des Kaisers getreten war, dessen Charisma selbst akkumuliert und ihn ins Exil geschickt hatte. Deswegen, so Pyta, der eine Hindenburg- und eine Hitler-Biographie verfasst hat, misstraute Hitler Manstein und stellte ihn schließlich kalt. Das aber war dann auch das Ende der genialen Entschlüsse Hitlers. (Gekürzte Version)

Herfried Münkler

  • Herfried Münkler (Bild) kam 1951 In Friedberg, Hessen, zur Welt.
  • Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie in Frankfurt. 1981 Promotion, 1987 Habilitation in Frankfurt.
  • Seit 1992 Professor für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin.
  • Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Dort Vorsitzender der Leitungskommission zur Marx-Engels-Gesamtausgabe. (malo/bild:dpa)

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