Die Angst vor islamistischem Terror schürt den Wunsch nach einem starken Staat. Falsch, sagt unser Gastautor - Demokratie beruht auf Vertrauen und der Besinnung auf die Menschenrechte.
Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war von einer bis dahin nicht erreichten Praxis der Inhumanität geprägt, die von anti-humanistischen Ideologien, darunter insbesondere Sozialdarwinismus, Rassismus, Faschismus und Nationalsozialismus, aber auch Bolschewismus und Stalinismus vorbereitet worden war. Das Ende des aufklärerischen Zeitalters in Europa hatte eine humanistische Geisteshaltung in die Defensive gedrängt und den politischen Religionen mit ihren zynischen Machtstrategien den Boden bereitet. In der Schockstarre nach dem Zweiten Weltkrieg und nach zwölf Jahren NS-Terror schien sich nur die Restauration alten und ganz alten Denkens, die erneute Orientierung an kirchlichen Autoritäten und die Verklärung der alten Zeit und der alten Sittlichkeit als Weg aus der Menschheitskrise anzubieten.
Die Verbindung von Restauration mit Verdrängung des Geschehenen und des eigenen Beitrags dazu, der Versuch, das Grauen der Erinnerung durch Konsum und Arbeitseifer zu übertönen, misslang, zumal in Deutschland. Das Aufbegehren der damals jungen Generation in den 1960er und 1970er Jahren galt in Deutschland der Verlogenheit und dem Beschweigen der Tätergeneration, aber weltweit auch der schönen neuen Welt des Konsums und des technischen Fortschritts, in der die Ausbeutung in der Dritten Welt und die Umweltzerstörung ausgeblendet wurde. Die daraus hervorgehenden neuen sozialen Bewegungen, einschließlich der älteren Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen in den USA, vor allem aber der politisch zunächst sehr erfolgreiche Anti-Kolonialismus und die Frauenbewegung, sind durchgängig von humanistischen Impulsen geprägt.
Instrumentalisierung des Lebens
Auffällig ist allerdings, wie rasch es zum Umschlag von humanistischen Ausgangsimpulsen über ideologische Verhärtungen bis zur inhumanen Praxis der gewalttätigen Ausläufer der Studentenbewegung kommen konnte. Die Abschließung gegenüber widerspenstiger Erfahrung und die Instrumentalisierung des eigenen Lebens und des Lebens anderer spielen dabei eine zentrale Rolle. Die Solidarisierung mit den Unterdrückten der Dritten Welt folgt einem humanistischen Impuls, der Aufbau der Stadtguerilla in westlichen Metropolen ist dagegen nicht nur Ausdruck wachsender politischer Hoffnungslosigkeit, sondern folgt der zynischen Logik, Menschenleben abzuwerten, um sie höheren Zwecken opfern zu können.
Spätestens seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes verbreitete sich in der politischen Sphäre die vage Ahnung, dass die Welt eine neue Ordnung benötige. Die US-amerikanische Regierung und ihre Berater sprachen von einer New World Order, natürlich unter US-amerikanischer Ägide. Auch linksliberale Intellektuelle kamen zu dem Ergebnis, es sei nur eine einzige Supermacht übrig geblieben, und diese könne nun mit ihrer militärischen Dominanz jeden Konflikt für sich entscheiden.
Es kam ganz anders. Während George Bush Senior noch vergleichsweise verantwortungsvoll mit der Rolle der USA als einziger verbliebener Supermacht umging und Bill Clinton sich auf Prosperität und gesellschaftliche Liberalisierung konzentrierte, entwickelte George W. Bush eine zynische, interventionistische Außenpolitik, die alte Verbündete verprellte und neue Feinde heranzüchtete. China entwickelte derweil ein neues Staatsmodell in der Verbindung einer überwiegend privatwirtschaftlich-kapitalistischen Ökonomie mit einer kommunistischen Parteidiktatur. Dies hat einerseits eine wirtschaftliche, aber auch gesellschaftliche Dynamik ausgelöst, die in Gestalt einer nachholenden Entwicklung mit zeitweise astronomisch hohen Wachstumsraten ihresgleichen sucht, aber andererseits die sozialen Spannungen verschärft und ein Maß an Ungleichheit der Vermögen und der Einkommen hervorgebracht hat, die sonst nur in Südamerika verbreitet ist.
Die These, dass eine effiziente Wirtschaft nur möglich ist unter den Bedingungen bürgerlicher Freiheiten, hat jedenfalls in weiten Teilen der Welt an Überzeugungskraft eingebüßt. Tatsächlich besteht kein natürliches Entsprechungsverhältnis zwischen einer kapitalistisch geprägten Ökonomie und demokratisch organisierter Staatlichkeit.
Unmittelbarer, gewissermaßen von innen, wird das restliche Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell von neuen religiös motivierten Fundamentalismen und Fanatismen herausgefordert. Das vermeintlich Rückständige, dass der Liberalisierung in Gesellschaft und Wirtschaft nicht würde standhalten können, radikalisiert sich und findet neue politische Ausdrucksformen. Die Terrororganisation Al-Kaida, deren Ursprünge in Afghanistan in der Zeit der sowjetischen Besatzung, nicht nur von Saudi-Arabien, sondern auch vom US-amerikanischen Geheimdienst gefördert wurden, wurde zur Vorhut eines Dschihadismus, der in Gestalt des sogenannten Islamischen Staates im Irak und in Syrien die entstandene Unordnung nutzt, um ein neues theokratisches Staatsmodell zu etablieren.
Fundamentalistische Tendenzen
Auch ein Teil der christlich geprägten Bevölkerung reagiert auf das Erstarken des Islamismus seinerseits mit fundamentalistischen Tendenzen und religiösem Fanatismus. Die politische Rechte in den USA, die einen beachtlichen Einfluss auf die republikanische Partei gewonnen hat, verbindet die Ideologie einer ungehemmten kapitalistischen Marktwirtschaft mit christlichen Familienwerten und religiös unterfüttertem amerikanischen Sendungsbewusstsein. In diesem Weltbild stehen die USA für eine weiße, protestantische Familienordnung, für ökonomische Effizienz und uneingeschränkte globale Führungsverantwortung gegen Kommunismus, Islam und Sittenverfall. Die Reinheits- und Ordnungsvorstellungen einer fundamentalistischen muslimischen Bewegung wie der Taliban haben eine Entsprechung in den Sauberkeits- und Ordnungsvorstellungen der US-amerikanischen Rechten.
Europäischer Rassismus
Auch die europäische Rechte erstarkt. Auch hier überlagern sich anti-humanistische Strömungen von Antisemitismus und Islamophobie über christlichen Fundamentalismus, Anti-Amerikanismus und Anti-Liberalismus, einer Fundamentalkritik multikultureller Gesellschaften, bis hin zu einem europäischen Rassismus. In Ungarn strebt die Regierung Viktor Orbán eine, wie sie es bezeichnet, "illiberale Demokratie" an, zeigt sich antisemitisch und diskriminiert ethnische Minderheiten. Das französische System einer Art Wahlmonarchie in Gestalt des Präsidenten als Machtzentrum der Republik ist besonders anfällig für extreme politische Ausschläge. Es scheint nicht völlig ausgeschlossen, dass eine rechte Kandidatin diese Machtstellung erobert.
Auch in Deutschland hat sich mit einer rechtskonservativen Partei und islamophoben Demonstrationen eine Stimmungslage aufgebaut, die bislang zwar noch ohne politischen Einfluss ist, aber die Koordinaten des politischen Systems nach rechts verschieben könnte. Ebenso setzt die Rechte Großbritanniens den traditionellen Konservatismus unter Druck, obwohl die britische konservative Partei ohnehin rechts von ihren christdemokratischen Schwesterparteien in Kontinentaleuropa steht und mit dem Brexit eines ihrer zentralen Ziele erreicht hat.
Neue Autokratien
Auch in Staaten wie Russland oder der Türkei etabliert sich eine gefährliche Verbindung klerikaler und staatlicher Autoritäten. In Russland wird die neue Autokratie unter Führung von Präsident Wladimir Putin mit orthodoxer Religiosität und dem historischen Auftrag der slawischen Leitkultur Russlands verbunden. In der Türkei etabliert sich unter Führung des Autokraten Recep Erdogan zunehmend ein islamisch geprägter Staat, der mit der laizistischen Verfassung der Türkei seit Atatürk unvereinbar ist. Die subkutane Unterstützung des sunnitischen Islamismus durch die Türkei im Nahen Osten macht deutlich, wie weit sich die Türkei von ihrer laizistischen Europa-Orientierung entfernt hat.
Gegen Ende des 30-jährigen Krieges (1618-1648) war Europa zu weiten Teilen zerstört. Alle Ressourcen waren erschöpft: militärische, ökonomische und moralische. Auslöser war eine Glaubensspaltung des Christentums in Protestantismus und Katholizismus. Es ging nicht um den einen oder anderen Vorteil im Machtspiel feudaler Dynastien, es ging um die richtige Form des Glaubens und des Lebens. Die Natur des Konflikts schloss eine friedliche Beilegung aus. Zwischen Himmel und Hölle gibt es keinen Kompromiss.
Demokratie als Lebensform
Der Westfälische Friede markierte einen allgemeinen Erschöpfungszustand, war aber auch Ausdruck einer ethischen Erkenntnis: Der existentielle Konflikt um den richtigen Glauben und das richtige Leben muss zivilisiert werden.
Nicht das Christentum, sondern die Katastrophe, in die die christliche Glaubensspaltung das Abendland geführt hat, hat die Demokratie vorbereitet. Im Gefolge haben Aufklärung, Philosophie und Wissenschaft die christlichen Kirchen auf ihre spirituellen Aufgaben zurückgeführt, sie gezwungen, ihren politischen Machtanspruch aufzugeben. Die lange, auch blutige Auseinandersetzung zwischen klerikalem Machtanspruch und der Freiheit des Geistes lässt erwarten, dass auch in der Neuauflage des 21. Jahrhunderts eine längere kulturelle Transformation notwendig ist. Die Autonomie von Wissenschaft, Kunst und Politik ist Voraussetzung der Demokratie.
Demokratie ist nicht lediglich eine Staats-, sondern auch eine Lebensform, die es erlaubt, existentielle Konflikte ohne Gewalt auszutragen. Das neoliberale Projekt, dessen theoretische politische und kulturelle Fundamente spätestens seit der Weltwirtschaftskrise 2007 erodieren, glaubte, mit einer Schrumpfform von Demokratie auszukommen, da sich existentielle Konflikte im globalen Markt auflösen und die Zukunft nicht den Bürgern der Demokratie, sondern den Konsumenten und Produzenten globaler Märkte gehören würden. Welch ein Irrtum!
Verteidigung westlicher Werte
Das Marginalisierte und Verdrängte bricht mit Macht und Gewalt in diese Ordnung ein, bevor sie sich etablieren konnte, befeuert von einem "linken" humanitären und einem "rechten" machtstrategischen Interventionismus des Westens, der nun, angesichts des angerichteten Scherbenhaufens, den Rückzug antritt. Aber dieser Rückzug kommt zu spät. Die Verteidigung westlicher Werte am Hindukusch, im Irak, in Syrien jeweils in abenteuerlichen Allianzen lässt den Dschihadismus auf westliche Metropolen ausgreifen. Die Zuspitzung des Konfliktes zwischen Sunna und Schia hat alle Charakteristika eines Religionskriegs, der Europa aus seiner eigenen Geschichte vertraut ist - mit all den Beimengungen machtstrategischer, ökonomischer und politischer Interessen.
Wenn die Verunsicherung demokratischer Gesellschaften durch Terror die politische Rechte erstarken ließe, wenn diejenigen, die nur formal, aber nicht normativ ihren Frieden mit der parlamentarischen Demokratie geschlossen haben, wenn diejenigen, die meinen, dass die Demokratie an eine ethnische Gemeinschaft, an eine geteilte Religiosität, an die Ausgrenzung der Anderen gekoppelt sei, erstarken, dann hätten die Feinde der offenen Gesellschaft einen Sieg errungen. Pegida und AfD, wie viele Wohlmeinende unter ihnen auch sein mögen, laufen Gefahr, zu nützlichen Idioten derjenigen zu werden, für die allein die Idee einer pluralen, von wechselseitigem Respekt über alle Differenzen der Herkunft, der Kultur und der Religion hinweg bestimmten Zivilkultur eine Provokation darstellt.
Die Demokratie ist die einzige Staatsform, die auf eine vitale Zivilgesellschaft, eine Zivilkultur der Kooperationsbereitschaft, der Rücksichtnahme und der Anerkennung angewiesen ist und diese zugleich erst ermöglicht. Ohne dieses Fundament in einem humanistischen Ethos des Respekts vor jedem Individuum, seiner Rechte und seiner Würde, wird die demokratische Ordnung zu einem bloßen Rekrutierungsverfahren politischer Eliten.
Ethos der Menschenrechte
Die Demokratie ist ohne eine Bürgerschaft, die ihr Substanz gibt, nicht lebensfähig, sie wird zur Fassade, die bei den ersten Angriffen kollabiert - die Weimarer Republik bietet dafür reichlich Anschauungsmaterial. Nicht die Verteidigung des christlichen Abendlandes gegen eine vermeintliche Islamisierung steht auf der politischen Agenda, sondern die Revitalisierung der Demokratie als eine Ordnung, die den Wahrheitsanspruch individueller menschlicher Würde gegen die Zyniker selbsternannter Gotteskrieger verteidigt.
Wer dieser Herausforderung dadurch zu begegnen sucht, dass er die heiligen Schriften der Weltreligionen auf ihre Vereinbarkeit mit Menschenrechten und Demokratie abprüft, ist auf dem Holzweg. Keine der großen Religionsgemeinschaften sollte man als Demokratiebewegung missverstehen. Keine von diesen ist ein natürlicher Verbündeter der demokratischen Zivilgesellschaft. Auch die katholische Kirche hat bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) gebraucht, um ihr Vorurteil zu überwinden, die Demokratie sei eine Verirrung des Liberalismus. Das ist noch nicht lange her und wir sollten, unabhängig davon, welchem Glauben wir anhängen, hoffen, dass die Demokratieverträglichkeit religiöser Identitäten sich in Gestalt eines humanistischen Ethos bewerkstelligen lässt, für das die Völkergemeinschaft mit der Universal Declaration of Human Rights, der Menschenrechtspakte aus den 1960ern und des bis heute dauernden Menschenrechtsdiskurses, die normativen Grundlagen gelegt hat.
Der Menschenrechtsdiskurs ist offenkundig anschlussfähig an ein weites Spektrum kultureller, weltanschaulicher und religiöser Prägungen. Das Ethos der Menschenrechte ist der Kern eines neuen Humanismus, der allein als Leitkultur einer globalen Zivilgesellschaft taugt.
(Gekürzte Version des Vortrags
"Humanistische Reflexionen"
im Ernst-Bloch-Zentrum in
Ludwigshafen)
Julian Nida-Rümelin
Julian Nida-Rümelin (Bild), geb. 1954 in München, war 1998 bis 2001 Kulturreferent der Landeshauptstadt München und anschließend bis 2002 Kulturstaatsminister.
Nida-Rümelin lehrt seit 2004 an der Ludwig-Maximilians-Universität München, seit 2009 Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft.
Er kooperiert mit dem Deutschen Verband für Finanzanalysten und Assetmanager für eine ethisch sensible Ausbildung von Finanzmanagern.
Als Autor veröffentlichte Nida-Rümelin Bücher wie "Die Optimierungsfalle - Philosophie einer humanen Ökonomie (2011)", "Akademisierungswahn - zur Krise beruflicher und akademischer Bildung" (2014) oder "Humanistische Reflexionen" (2016). malo (BILD: dpa)
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/deutschland-welt_artikel,-welt-und-wissen-fuer-einen-erneuerten-humanismus-in-ethik-und-politik-_arid,938295.html