Jemanden am Weglaufen zu hindern, ohne ihn einzusperren: Vor dieser Aufgabe stehen Pflegeeinrichtungen. Denn demente Bewohner „mit Weglauftendenz“ gehören zum Alltag in Hessens Heimen. Manchmal helfen kreative Einfälle im Umgang mit ihnen.
Freundlich sagt die alte Dame „Ich müsste mal raus“ und drückt den Türknopf. Einmal, zweimal, dreimal –nichts passiert. Sie will aufgeben, da wird die Tür von außen geöffnet und ein Besucher tritt ein. Blitzschnell schlüpft die Frau hindurch. Doch die Pflegekräfte haben es gesehen. Mit Zureden lässt sich die ältere Frau wieder ins Else-Steinbrecher-Haus zurückführen.
Das Gebäude im nordhessischen Hofgeismar gehört zur Evangelischen Altenhilfe Gesundbrunnen. Ein Wohnbereich ist auf Menschen mit Demenz ausgerichtet. Deren Pflege bringt eine besondere Herausforderung mit sich: Nicht alle, die hier wohnen, wollen bleiben. „Wegläufer“ werden sie genannt. Sie zieht es zur Ex-Wohnung oder zu Verwandten. Manche wissen auch gar nicht, wo es hingehen soll.
Gute Auffassungsgabe
Dem Bundesverband Ambulante Dienste und Stationäre Einrichtungen (bad) zufolge gehören „Wegläufer“ zum Alltag in Pflegeeinrichtungen. Statistiken gebe es nicht – auch weil die Flucht oft schon nach ein paar Metern endet. Fitte „Wegläufer“ können auch weite Strecken überwinden. 6600 Personen werden gemäß Landeskriminalamt (LKA) jedes Jahr vermisst gemeldet – wie viele aus Pflegeheimen sind, werde nicht erfasst. „Meist klären sich die Fälle schnell innerhalb weniger Tage nach ihrem Verschwinden“, sagt LKA-Sprecher Stefan Ullrich. Zuletzt galten 54 Personen im Alter über 60 Jahren in Hessen als vermisst.
Manche „Wegläufer“ besitzen eine gute Auffassungsgabe. Mit Beschwichtigungen sind sie nicht zufrieden. „Demenziell Erkrankte lassen sich nicht veräppeln“, sagt Evelyn Wehrmann-Jablonski, Koordinationsfachkraft für soziale Betreuung bei der Altenhilfe. Um das Verhalten der Menschen zu verstehen, müsse man sich in sie hinversetzen: „Stellen Sie sich vor, Sie haben den Herd angelassen und jemand sagt Ihnen, dass Sie nicht weg dürfen“, erklärt Wehrmann-Jablonski.
28 Bewohner leben im Erdgeschoss des Else-Steinbrecher-Hauses. Zehn davon sind potenzielle „Wegläufer“. Der Umgang mit ihnen ist für Pflegeeinrichtungen ein Spagat: Die Weglaufenden können stürzen, erfrieren oder überfahren werden. Gleichzeitig dürfe und wolle man sie nicht einsperren, sagt Klaus Vering, Heimleiter am Gesundbrunnen: Ein Haus mit dem Charakter eines psychiatrischen Gefängnisses „ist für Demenzkranke keine angemessene Unterbringung“.
Einsatz optischer Täuschungen
Im Else-Steinbrecher-Haus ist das Hinauskommen erschwert, aber nicht unmöglich. „Wenn man hin–aus will, kommt man auch hinaus“, sagt Vering. So öffnet sich der Eingang, wenn man einen Knopf drückt und einen weiteren dreht. Türen sind mit Fototapeten von Steinmauern bedeckt. Auf dem Boden vor dem Notausgang prangt ein dunkles Loch – eine optische Täuschung. Die wirkt bei einigen Bewohnern, aber nicht allen.
Die Wahl der Mittel ist für die Pflegeheime auch ein moralischer Spagat. Einige setzen auf Haltestellen, an denen nie ein Bus hält. Vering lehnt das als Irreführung ab. „Es tut mir in der Seele weh, wenn Menschen so entwürdigt werden“, sagt er. Peilsender findet er dagegen sinnvoll. „Das ist ethisch in Ordnung, weil es die Möglichkeit erhöht, jemanden gehen zu lassen und ihn wiederzufinden.“
Die „Wegläufer“ verschärfen ein anderes Problem: Es fehle in der Pflege an Personal – besonders für Demenzkranke. „Wir bräuchten eine Verdoppelung der Personalmenge“, sagt Vering. Das wären rund 24 Vollzeitstellen auf 30 Betten. Doch es gebe keinen speziellen Pflegeschlüssel für Demenzkranke. So blieben nur „wenige Minuten pro Tag, die an wirklicher Pflegezeit einem Bewohner zur Verfügung stehen“. Hubert Röser, Sprecher des bad, kennt das Problem: „Klar, wäre es schön, wenn wir mehr Pflegekräfte hätten“, sagt er. Allerdings müsse alles refinanzierbar sein.
Gegen Freiheitsentzug
Weitgehend geklärt sind juristische Fragen rund um die „Wegläufer“. Einem Pflegeheim werde selten ein Verschulden vorgeworfen, wenn ein Bewohner verunglücke. Höchstrichterliche Urteile hätten sich „für das allgemeine Lebensrisiko und gegen den Freiheitsentzug“ ausgesprochen, sagt bad-Jurist Andreas Ditter. Eine Einrichtung könne freiheitsentziehende Maßnahmen – vom Bettgitter bis Peilsender – nur in engem Rahmen einsetzen. Für jeden Einzelfall sei ein Richterbeschluss nötig. Sehe ein Gericht keine Notwendigkeit, „ist einer Pflegeeinrichtung kein Verschulden vorzuwerfen“.
Betreuung im Alltag
Nicht nur Pflegeheime müssen sich um „Wegläufer“ kümmern. Ein paar Hundert Meter vom Else-Steinbrecher-Haus entfernt liegt das Krankenhaus Gesundbrunnen. Die Spezialklinik für Geriatrie hat Patienten, die neben ihrem eigentlichen Einlieferungsgrund immer öfter auch Demenz haben oder geistig verwirrt sind. Das Krankenhaus hat daher eine „Memory-Station“ eingerichtet, die mit dem typischen Krankenhaus-Stil bricht: Es gibt einen Gruppenraum und Betreuung durch sogenannte Alltagsbegleiter. Elemente wie eine Wandmalerei machen die Station wohnlicher.
„Durch das Zusatzangebot können wir die Leute besser führen“, sagt Stationsärztin Sabine Leutiger-Vogel. Wegläufer gibt es auch dort – das Problem ist aber kleiner. Denn der Betreuungsschlüssel im Krankenhaus sei höher als in einem Pflegeheim.
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