Unglücke - Die Ortschaft Musljumowo war Heimat von Tausenden Menschen / Nukleare Belastung wurde über Jahrzehnte geheim gehalten / Familien kämpfen für Wiedergutmachung

Die vergessene Atomkatastrophe

Von 
Oliver Bilger
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Ein verlassener Lebensmittelladen. © Ekaterina Anokhina

Sie hoffen seit Jahrzehnten auf Gerechtigkeit: Die Bewohner eines kleinen Dorfes im Südural, die Opfer einer fast unbekannten Atomkatastrophe wurden. In der Fabrik Majak produzierte die Sowjetunion lange Jahre Plutonium – mit verheerenden Störfällen.

Musljumowo muss einmal ein gewöhnliches russisches Dorf gewesen sein. Geduckte Holzhütten und Backsteinhäuser. Unbefestigte Wege. Gemüse im Vorgarten. Plumpsklo auf dem Hinterhof. Die Ortschaft war Heimat für 4500 Menschen. Aber das ist lange her. Dann war Musljumowo für viele Jahre kein gewöhnliches Dorf. Grund dafür ist ein schmaler Fluss namens Tetscha.

In den 40er und 50er Jahren kippte eine nahegelegene Atomfabrik radioaktive Abfälle, überwiegend Caesium-137 und Strontium-90, in das Flüsschen, aus dem die Bewohner von Dörfern wie Musljumowo ihr Trinkwasser bezogen. Forscher hatten damals auf Befehl des Diktators Josef Stalin in dem Werk Majak mit der Produktion von Plutonium für die erste sowjetische Atombombe begonnen. Die Anlage war geheim und auf keiner Karte zu finden. Versteckt in den Birken- und Fichtenwäldern des südlichen Urals.

Entlang des Flusslaufs stieg die Zahl von Krebs- und Leukämiefällen, Menschen bekamen Herz-Kreislauf-Probleme, litten unter Strahlenkrankheit, Unfruchtbarkeit und Missbildungen. Die Behörden evakuierten mehrere Dörfer, zerstörten Häuser, um eine Rückkehr zu verhindern. Musljumowo, gut 80 Kilometer östlich vom Majak-Werk gelegen, war eine Ausnahme, die Menschen blieben.

Erst im Jahr 2007 zogen Bewohner um. Heute ist Musljumowo kein Dorf mehr. Nur ein paar Mauerreste sind geblieben. Der alte Lebensmittelladen ist eine der wenigen Ausnahmen: die Fenster zugemauert, draußen rostet ein Hinweisschild. Endzeit-Szenerie statt Dorf-Idyll. Acht Familien leben noch immer in Musljumowo. Grund dafür sind mal Probleme mit Dokumenten über ihr Anwesen, mal meinen sie, dass ihnen höhere Kompensationen zustehen.

Suche nach Arbeit

Gilani Dambajew, ein schmaler Mann mit breitem Schnauzbart, ist einer von ihnen. Der 62-Jährige zog in den 80er Jahren aus Tschetschenien nach Musljumowo. Eigentlich ist er ausgebildeter Tänzer. Die Suche nach Arbeit verschlug ihn in den südlichen Ural: Als Gastarbeiter baute er jedes Gebäude für Kolchosen. Am Ende eines Sommers entschied er sich zu bleiben, weil das Leben hier „angenehmer“ sei, erinnert sich Dambajew. Von der Strahlung ahnte er da noch nichts. „Wir hatten keine Ahnung, was Radioaktivität ist“, erzählt Dambajew. Niemand habe den Dorfbewohnern etwas erklärt. Manchmal sei die Polizei gekommen und habe den Menschen verboten, im Fluss zu schwimmen. Wieso, erklärten die Polizisten nicht. Einmal im Jahr riefen Polizisten die Einwohner von Musljumowo zusammen und brachten sie in Bussen in eine Klinik in die Regionalhauptstadt Tscheljabinsk. Dort untersuchten Ärzte die Menschen und nahmen Blutproben. Fragten die Betroffenen, was es mit der Prozedur auf sich habe, blieben die Antworten vage: Prophylaxe. Wofür? Schweigen.

Starb ein Patient, gaben die Mediziner Herzprobleme als Todesursache an. Von Krebs war in offiziellen Dokumenten keine Rede. „Viele Menschen starben“, erzählt Dambajew. Forscher beobachteten die Auswirkungen der Strahlendosis, der die Bürger von Musljumowo über Jahrzehnte heimlich ausgesetzt waren. Es ist der einzige Ort auf der Welt, an dem sich Auswirkungen radioaktiver Stoffe in diesem Umfang erforschen lassen. Dambajew und seine Nachbarn fühlten sich hingegen wie die Teilnehmer eines großen Experiments – als unfreiwillige Versuchskaninchen. Von Dambajews Backsteinhaus sind es nur ein paar Fußminuten bis ans Ufer. Einen kleinen Hang hinab, wo die Tetscha gemächlich an einigen Birken vorbeischiebt. Der Fluss wirkt romantisch wie ein Postkartenmotiv. Nur Tod und Krankheit stören das Bild. Die Gefahr ist nicht zu sehen, zu hören oder riechen. Sie lässt sich allerdings messen. Die Anzeige eines Geigerzählers springt am Ufer schnell in die Höhe. Die Strahlung ist ein Vielfaches höher als jeder Normalwert. Deswegen will Dambajew weg, weit weg vom Fluss.

Staatlicher Konzern wiegelt ab

Rosatom, Russlands staatlicher Atomkonzern und Majak-Betreiber, erklärt, seit 1956 seien keine Abfälle mehr in die Tetscha geleitet worden. Umweltschützer bezweifeln dies, wie folgender Zwischenfall belegt: Zuletzt stellte sich 2005 heraus, dass der damalige Majak-Direktor über Jahre illegal radioaktive Abfälle in der Tetscha entsorgt hatte.

Nicht nur der strahlende Fluss belastet die Region. Die Majak-Anlage ist berüchtigt für Pannen und Störfälle. Im Herbst 1957 ereignete sich der erste schwere Unfall in der Geschichte der Atomenergie. In der Plutoniumfabrik fiel an einem Tank, in dem 80 Tonnen hoch-radioaktiver Abfall lagerten, das Kühlsystem aus. Zuerst verdampfte Kühlflüssigkeit, dann führte ein kleiner Funke eines defekten Kontrollgeräts zu einer mächtigen Explosion. Sie zerriss den Behälter und schoss radioaktive Partikel bis zu 1000 Meter hoch in die Luft. Die radioaktive Wolke zog bis an Musljumowo heran. Knapp zehn Jahre später kam es erneut zur Verschmutzung, als Schlick am Ufer eines Sees trocknete, den die Fabrik Majak inzwischen statt der Tetscha für Abfälle nutzte: Starker Wind blies radioaktiven Staub ins Umland.

In der Sowjetzeit fiel es leicht, Störfälle zu vertuschen. Betroffene in der Region kannten nicht mehr als Gerüchte. Erst mit der Perestroika und dem Zusammenbruch des Staates sollte das ganze Ausmaß ans Licht kommen. Die Sowjetunion habe die Menschen ignoriert, das neue Russland werde für sie da sein, versprach der neue Präsident Boris Jelzin. Nun, da Stille und Geheimhaltung rund um Majak endlich durchbrochen waren, verkündete der Präsident die Verlegung des Ortes. Zunächst geschah jedoch nichts. Bagger trugen Erdschichten am Ufer ab, schütteten Steine auf. Inzwischen sind Warnschilder verblichen, Stacheldrahtzäune niedergerissen. Präsidenten wechselten, Dambajew blieb in seinem Dorf.

Streit über Zahlungen

Als Rosatom und die regionale Verwaltung endlich die Dorfbewohner umsiedelten, freiwillig, wie das Unternehmen erklärt, schließlich sei die offiziell zulässige Strahlendosis nie überschritten worden, da konnte Dambajew wählen: zwischen einem Haus in Nowomusljumowo oder der Zahlung von einer Million Rubel pro Wohnung. Für sein Haus, in dem er mit seiner Frau lebt, stünden ihm jedoch zwei Millionen zu, meint Dambajew, weil es aus zwei Wohneinheiten besteht. Solange die Ansprüche nicht geklärt sind und eine Anerkennung als Strahlenopfer aussteht, will er nicht umziehen. Der Rentner hat einen Kleinwagen angeschafft, damit er Lebensmittel auf Vorrat kaufen kann, für das Leben in der Einöde, wo in nächster Nachbarschaft nichts ist außer Grassteppe und Ruinen. In der Küche lagern mehrere Dutzend Wasserkanister. Aus einer kleinen Anrichte neben dem Bett im Schlafzimmer kramt Dambajew Dokumente hervor. Auf einer ganzen Seite sind die gesundheitlichen Folgen seines Lebens an der kontaminierten Tetscha aufgelistet. Ein Bluttest, den er vor drei Jahren in einer Spezialklinik machen ließ, wies um das Achtfache erhöhte Strahlenwerte seiner Organe auf.

Eine weitere, offizielle Untersuchung befand indes, dass die Werte zwar erhöht seien, dies jedoch nicht eindeutig auf das Leben an der Tetscha zurückzuführen sei. Stattdessen könnten sie ebenso die Folge medizinischer Untersuchungen sein. Demnach gebe es keinen klaren Beleg für Strahlenfolgen und somit keinen Grund für eine Kompensation. „Ich bekomme nichts“, konstatiert Dambajew bitter. Wie andere Betroffene fordert er: bessere medizinische Versorgung, höhere Kompensationen oder eben eine Chance, die Region zu verlassen. „Ich bin ein Mensch. Ich habe Rechte.“ Auf die will er weiter pochen.

Wer mit dem nuklearen Erbe der Sowjetunion lebt, fühlt sich vergessen. Nur wenn in Majak erneut etwas vorfällt, rücken die Region und das Schicksal der Menschen wieder in den Fokus. So wie im vergangenen Herbst. Als im September europäische Messstationen erhöhte Werte bemerkten, führte die Spur in den Südural.

Der russische Wetterdienst verzeichnete die höchste Konzentration in einem Dorf nicht weit von der Atomfabrik und von Musljumowo – 986 Mal über dem zulässigen Wert. Rosatom wiegelte ab: Alle Berichte über ein Leck seien unbegründet. Alle Anlagen arbeiteten routinemäßig, alles sei sicher. Der Kreml gab sich ebenfalls unwissend. Das Vorgehen weckt Erinnerungen an den alten Umgang zu Sowjetzeiten.

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