Vor 40 Jahren erschütterte der Deutsche Herbst die Bundesrepublik. Lutz Taufer, ein ehemaliges Mitglied der Roten Armee Fraktion, erzählt.
Als die Studentin im Oktober 1980 ihre Wohnung in der Karlsruher Straße in Heidelberg betritt, denkt sie an einen Einbruch. Es herrscht Chaos, Papiere liegen rum. Sie hatte ihr Appartement für drei Monate an Andrea Heim untervermietet. Schnell findet die Polizei heraus: Heim ist Juliane Plambeck, die am 27. Februar 1975 an der Entführung des Landesvorsitzenden der Berliner CDU, Peter Lorenz, beteiligt war. Und die so sechs inhaftierte Terroristen freigepresst hat. Zum Aufräumen ist Plambeck vor ihrer Flucht nicht mehr gekommen. Am 25. Juli 1980 stirbt sie mit ihrem Komplizen Wolfgang Beer bei einem Autounfall.
Für die Ermittler ist die Wohnung eine Goldgrube. Ein Strategiepapier der RAF bietet seltene Einblicke in die Organisation. Darin befindet sich nicht nur der Aufruf an die Sympathisanten-Szene, von übereilten Aktionen abzusehen und auf langfristige Planung zu setzen. Das Papier enthält zudem Pläne vom Nato-Stützpunkt in Ramstein/Pfalz sowie von den "Hammonds Barracks" in Mannheim, topographische Karten von Heidelberg sowie einen Stadtplan von Mannheim/Ludwigshafen. Potenzielle Anschlagsziele sollen sein: US-Militäreinrichtungen oder multinationale Konzerne.
Botschaft gestürmt
Nicht nur die Ansammlung von US-Militär macht die Region interessant. Der mögliche rasche Wechsel zwischen Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen fordert die jeweiligen Behörden in ihren Zuständigkeiten heraus. Frankfurt als wichtiger Flughafen ist schnell erreicht, Autobahnen und der öffentliche Nahverkehr sind gut ausgebaut. Besonders Heidelberg bietet einen weiteren Anreiz.
"Hier ging es 1968, als es anderswo schon ziemlich den Bach runterging, erst richtig los", erinnert sich Lutz Taufer, ein früherer RAF-Terrorist. Taufer kommt 1970 von Freiburg nach Mannheim, studiert Psychologie, lebt in einer Wohngemeinschaft in der Lanzstraße und ist Mitglied im Sozialistischen Patientenkollektiv (SPK). "In Freiburg hat mich die Erschießung von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 politisiert. Das kannte man bisher nur aus blutigen Diktaturen, dass Studenten beim Demonstrieren erschossen werden. Da bin ich das erste Mal zu einem Teach-in gegangen. Aber erst an der Uni Mannheim habe ich bei einer politischen Gruppe mitgemacht, bei der Basisgruppe Politische Psychologie."
Dort diskutieren die Studenten über Sinn und Unsinn der Lerninhalte im Fachbereich, über den US-Imperialismus oder die kubanische Revolution. "Ich erinnere mich an viele Demonstrationen in Mannheim - vor allem gegen den Vietnamkrieg", erzählt der 73-Jährige. Ihren Alltag empfinden er und viele Kommilitonen als "unerträgliche Enge. Er war sehr stark geprägt von den nationalsozialistischen Sekundärtugenden Fleiß, Ordnung, Unterordnung, autoritäre Erziehung, ,Schwarze Pädagogik' (Erziehung, die auf Gewalt und Einschüchterung fußt, d. Red.)."
Gleichzeitig erleben die Studenten, wie weltweit bei Aufständen verkrustete Systeme attackiert werden oder in Vietnam eine Bauernarmee die stärkste Kriegsmaschinerie der Welt in die Knie zwingt. "Das sagte uns: Es ist das Unmögliche denkbar!" Als Holger Meins am 9. November 1974 bei einem Hungerstreik in Haft stirbt, ist Taufer bereit, einen Schritt weiter zu gehen. "Wir sagten uns: Jetzt müssen wir etwas tun, die Gefangenen haben alles gegeben, was sie tun konnten. Wir hatten die Vorstellung, sie befreien zu müssen." Das Kommando "Holger Meins", dem neben Taufer zwei weitere Mitglieder des ehemaligen Heidelberger SPK angehören - Siegfried Hausner und Hanna Krabbe -, scheitert jedoch in der deutschen Botschaft in Schweden beim Versuch, 26 RAF-Häftlinge freizupressen.
Heute sieht sich Taufer nicht nur in Verantwortung für den Tod zweier Geiseln, was "vollkommen diametral zu einer humaneren und gerechteren Gesellschaft steht". Sondern auch für das, was nach Stockholm geschah. Einer der "größten Irrwege" - die Erschießung von Geiseln - sei von den inhaftierten Kommando-Mitgliedern nie thematisiert worden. "Wir haben andere Aktionen kritisiert, wie die Entführung der Lufthansa-Maschine ,Landshut' 1977. Oder die Erschießung des US-Soldaten Edward Pimental 1985, nur um an seinen Ausweis zu kommen. Aber die eigene Aktion haben wir nie kritisiert."
Vom Terroristen zum Autor
- Lutz Taufer, geboren 1944, stürmte am 25. April 1975 mit fünf anderen RAF-Terroristen die deutsche Botschaft in Stockholm (Schweden). Sie nahmen Geiseln und forderten die Freilassung von 26 RAF-Gefangenen.
- Zwei Botschaftsmitglieder wurden ermordet, Taufer 1977 zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt.
- Er wurde 1995 aus der Haft entlassen. Er ist heute Vorstandsmitglied des Weltfriedensdienstes.
- Jüngst erschien mit "Über Grenzen. Vom Untergrund in die Favela" seine Autobiografie. (her)
Deutscher Herbst
- Als Deutscher Herbst wird die Zeit und politische Atmosphäre in Deutschland im September und Oktober 1977 bezeichnet.
- Sie war geprägt durch Anschläge der terroristischen Vereinigung Rote Armee Fraktion (RAF).
- Dazu gehören die tödlichen Attentate auf Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer, Generalbundesanwalt Siegfried Buback und auf den Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Jürgen Ponto, sowie die Entführung des Flugzeugs „Landshut“.
- Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe töteten sich im Oktober 1977 in ihren Gefängniszellen in Stuttgart-Stammheim. (red)
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