Wenn der Elefant dem Menschen in die Quere kommt, gibt es auf beiden Seiten Opfer. Ein Beispiel aus Assam im Nordosten Indiens, wo man versucht, die fatalen Begegnungen zu verhindern.
Das hätte schlimm enden können. Lokführer Hari Gopal Singh erzählt: "Es war etwa zwei Uhr nachmittags, als nach einer Kurve neben den Gleisen plötzlich ein Elefant auftauchte. Ich konnte den Zug gerade noch rechtzeitig anhalten. Die Räder rauchten." Im hügeligen, waldigen und kurvenreichen Gelände nahe von Guwahati, Assams größter Stadt, sehen Lokführer oft zu spät, wenn ein Elefant auf den Gleisen steht. Der Bremsweg eines langen Güterzugs betrage immerhin um die 200 Meter, sagt Hari Gopal Singh. In den vergangenen 25 Jahren wurden allein in Assam 70 Elefanten bei Zugkollisionen getötet.
Damit die Eisenbahn für den Elephas maximus nicht zum Todeszug wird, setzt jetzt die indische Tierschutzorganisation Wildlife Trust of India (WTI) in Zusammenarbeit mit Indian Railways da und dort Patrouillen ein. Mit Funk ausgerüstete Zweierteams spähen vor allem nachts die Gegend rund um die Strecke aus und informieren bei Gefahr die Lokführer. Pradip Kalita ist einer dieser Elefantenschutzengel. Er versieht seinen Dienst entlang den Gleisen von Deepor Beel, eines Sees nahe Guwahati. Das Gewässer ist eine überlebenswichtige Tränke für die Tiere. Aber sie müssen auf dem Weg die Schienen überqueren. Todesgefahr! Für Pradip Kalita ist der Unfalltod eines Elefanten eine Tragödie. Der graue Riese ist nämlich für gläubige Hindus das irdische Symbol für den elefantenköpfigen Gott Ganesch. "Immer wenn ich einen Elefanten sehe, bete ich still für mich. Selbst wenn ich im Wald nur sein Trompeten höre."
Patrouillen entlang von Bahnstrecken, die Zuggeschwindigkeit drosseln, bei unübersichtlichen Kurven Bäume fällen - das sind Schutzmaßnahmen, die laut WTI vielen Assam-Elefanten das Leben retten. Schwierig ist es, Zugpassagiere von der schlechten Angewohnheit abzubringen, Abfälle aus dem Fenster zu schmeißen, darunter Essensreste, die Elefanten zu den gefährlichen Gleisen locken.
Es war gegen Mitternacht, als der Bauer Purna Gogai die Herde hinter seinem Haus entdeckte. "Zwei Tage, bevor wir ernten wollten, tauchten etwa 50 Elefanten auf. Sie zertrampelten und fraßen fast ein Hektar meines Reisfeldes." Es geschah unmittelbar neben der Biogasanlage, die er mit dem Dung seiner zehn Kühe betreibt. Gemeinsam mit trommelnden, schreienden und Fackeln schwingenden Nachbarn vertrieb er die ungebetenen Gäste. Die Tiere kamen aus dem nahen Kaziranga-Nationalpark und vernichteten zwei Drittel der gesamten Ernte. Der Park ist weltberühmt wegen seiner über 2000 indischen Panzernashörner. Eine Wiedergutmachung für den Schaden erhielt Purna Gogai nicht.
Wälder mit zu wenig Nahrung
Es ist der Hunger, der viele unter Assams über 5000 wildlebenden asiatischen Elefanten aus ihren Wäldern treibt. Allein zwischen 1991 und 1999 verloren die nordostindischen Gliedstaaten laut der internationalen Naturschutzunion (IUCN) über 3000 Quadratkilometer Wald. Neueste verfügbare und Satelliten gestützte Daten des Forstministeriums aus dem Jahr 2009 belegen für Assam über 300 Quadratkilometer Waldverlust. Illegales Abholzen für landwirtschaftliche Zwecke - etwa für Teegärten - ist einer der Hauptgründe. Die übrig gebliebenen Wälder sind fragmentiert und zu klein, sie liefern nicht mehr genügend zu fressen. Elefanten können dann häufig nur mit dem Ausweichen auf Agrarflächen überleben. Nach der Erntezeit, wenn auf den Feldern nichts mehr zu finden ist, dringen die Herden bis in die Dörfer vor. Dann zerstören sie manchmal sogar Hütten, um an Vorräte wie Bananen oder Jackfrüchte heranzukommen. Die Versuche, die Eindringlinge zu verjagen, enden oft tödlich.
2010 war das bisher schlimmste Jahr. Fast 500 Menschen starben in Indien nach Auseinandersetzungen mit dem größten aller Landsäuger. Der Konflikt fordert Opfer auf beiden Seiten. Wenn Elefanten das Getreide fressen, Reis- und Hirsefelder zertrampeln, Vorratsspeicher plündern - all dies wird von den Bauern mehr oder weniger noch toleriert. Aber wenn bei diesen Konflikten Menschen sterben, gibt es auch unter den Elefanten Tote. Meist werden sie vergiftet. Jedes Jahr kommen in Indien um die hundert Elefanten um.
Ein Weg für den Nomaden
"Der Elefant ist ein großer, intelligenter Nomade." So beschreibt Vivek Menon, Indiens prominentester Elefantenexperte, sein Forschungsobjekt. Menon ist Gründer und Direktor der Nichtregierungsorganisation WTI und schrieb zahlreiche Bücher zum Thema. Er sagt: "Wenn man den Elefanten am Herumziehen hindert, frisst er seine Wälder auf. Deshalb wollen wir ihm in Indien, im Gegensatz zu Afrika, seine natürlichen Wanderungen ermöglichen." Das Schlüsselwort heißt "Korridore". Der WTI hat auf dem Subkontinent insgesamt 88 natürliche Korridore ermittelt, die Elefanten traditionellerweise benutzen, um von einem Wald zum nächsten zu ziehen. "Diese Wege sind jedoch meist durch die menschliche Zivilisation unterbrochen. Da liegen Reisfelder, Dörfer, Straßen, Gleise." Konflikte mit dem Menschen sind programmiert.
Khoj Terang ist Bauer und lebt seit 25 Jahren im kleinen Dorf Ramterang in einer hügeligen, Bambus bewachsenen Landschaft nahe der burmesischen Grenze. Genau hier verläuft ein traditioneller Elefanten-Wanderweg, ein Korridor. "Darum müssen wir unser Dorf verlassen. Hinzu kommt, dass die Elefanten jeweils fast unsere gesamte Ernte zerstören", erzählt Khoj Terang. Auf die Frage, wie das bei ihm ankomme, sagt er: "Natürlich hat der Elefant das Recht zu leben. Aber ich glaube, dass der Mensch mehr Rechte hat. Wir hängen nämlich sehr an unserem Land. Das ist für uns eine sehr emotionale Sache."
Der Elefantenkorridor bei Ramterang ist einer der wichtigsten im Nordosten Indiens, das letzte Bindeglied zwischen Assams Wäldern und jenen des Nachbarlandes Myanmar. Umgesiedelt werde, wenn alles andere nicht funktioniere. Zum Beispiel wenn keine alternativen Möglichkeiten für den Lebensunterhalt da sind.
Im Gespräch mit den Menschen in Ramterang hat man das Gefühl, sie wissen nicht wirklich, was auf sie zukommt. Eigenartig ist, dass sie bereits einen Vertrag unterschrieben haben, der sie zum Wegzug verpflichtet - ohne zu wissen, wohin sie ziehen müssen. Der WTI, der im Auftrag des Staates die Umsiedlung organisiert, sagt zwar, der Wegzug sei freiwillig; doch die Menschen hängen eben an ihrem Ort. Manche lockt aber das neue Gratis-Haus oder die Schule im neuen Dorf, wo man nicht mehr stundenlange Fußmärsche braucht, um hinzukommen, so wie jetzt. Der größte Teil des Umzugs wird von internationalen Tierschutzorganisationen finanziert.
Elefantenbaby auf dem Rücken
Das Elefantenbaby litt an zahlreichen Verletzungen und war in einem erbarmungswürdigen Zustand. "Es hatte große Schmerzen und war in Panik. Ich übernahm dann die Rolle seiner Mutter. Die ersten zwei Monate schlief ich bei ihm." Prasmanta Das ist Tierpfleger. Wir treffen ihn im Gehege des WTI-Zentrum für Wildtier-Rehabilitation in Bokakhat am Rande des Kaziranga-Nationalparks. Hier werden derzeit sechs Elefantenbabys gepflegt und auf ihre spätere Wiederauswilderung vorbereitet.
Fast alle sind Opfer der menschlichen Zivilisation. Entweder wurden sie bei Konflikten von ihrer Herde getrennt oder fielen in Gräben von Assams Teegärten. In Assam liegt das größte Teeanbaugebiet der Erde. "Jetzt bin ich nur noch tagsüber bei ihm", erzählt Prasmanta Das. "Ich tue all das, was seine Mutter auch tun würde. Ich gebe ihm Milch, putze ihm das Maul, massiere es, kraule es hinter den Ohren. Das Kalb sieht in mir so etwas wie seine Mutter." Wie eng die Bindung des acht Monate alten Babys an seinen zweibeinigen Mutterersatz ist, merkt man daran, dass es während unseres Gespräches immer wieder nach ihm ruft. Man gab ihm den Namen Philipp. Im Gehege folgt er dem Pfleger auf Schritt und Tritt.
Die Vorbereitung auf die Wiederauswilderung kann Jahre dauern, da man wartet, bis sich hier in Gefangenschaft natürliche "Familien" gebildet haben. Dann setzt man sie zusammen aus.
Abhijit Bhawa ist Tierarzt im Rehazentrum und meist zugegen, wenn irgendwo in Assam ein verletztes Tier geborgen werden muss. So war es auch bei Philipp. "Er hat eine aufregende Geschichte. Als Zweijähriger fiel er auf einer Teeplantage in eine Felsspalte und verklemmte sich. Als seine Mutter ihn herausholen wollte, fiel auch sie in die Spalte." Was dann folgte, war die wohl abenteuerlichste Elefantenrettungsaktion Assams. Zuerst musste der Fels teilweise entfernt werden, um die Mutter zu befreien. "Schließlich schafften wir es, sie mit Seilen und mit speziell trainierten Elefanten herauszuziehen. Aber das Baby. . . Wir befürchteten zunächst, das sei eine hoffnungslose Sache. Das Tier war zwischen den Felsen eingeklemmt und verletzt. Der einzige Weg zu ihm führte durch ein kleines Loch unter ihm. Wir vergrößerten diese Öffnung, so dass sich drei von uns hineinzwängen konnten. Wir krochen also unter das Kalb und drückten es mit unseren Rücken nach oben. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie schmerzhaft das war. Aber wir schafften es!"
Für Assams Elefantenzukunft sieht Abhijit Bhawa schwarz. Es gebe immer mehr Konflikte zwischen Mensch und Elefant. "Die Lebensräume der Elefanten und anderer Tiere schrumpfen täglich. Deshalb ist nach einer Auswilderung das Risiko groß, dass sie erneut Opfer werden und erneut verletzt in unserem Rehabilitationszentrum landen."
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