Chaos, Kontrollverlust, Ringen um Zuständigkeiten – die Flüchtlingswelle 2015 hat die Asylverwaltung über die Grenze der Belastbarkeit geführt und ihr heftige Kritik eingebracht. Viele Pannen treten erst jetzt zu Tage.
Das Image ist angekratzt, das Vertrauen schwindet: In mindestens 1176 Fällen soll die Bremer Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) Flüchtlingen zu Unrecht Asyl bewilligt haben. Im Raum steht unter anderem der Verdacht der Bestechlichkeit.
Und es ist nicht das erste Mal, dass das Bundesamt derart negative Schlagzeilen macht: Im vergangenen Jahr sorgte Franco A. für Wirbel, ein Bundeswehrsoldat, der als syrischer Flüchtling anerkannt worden war, obwohl er nicht einmal Arabisch sprach. All das wirft Fragen auf: Wie anfällig ist das Asylverfahren in Deutschland für Missbrauch und Manipulation? Und wie konnte es dazu kommen?
Chaotische Arbeitszustände
Das Jahr 2015. Recht unvorbereitet traf der Flüchtlingsstrom Deutschland. Während 2014 noch rund 202 000 Flüchtlinge im Land gezählt wurden, waren es im Jahr darauf plötzlich rund 900 000. Die meisten von ihnen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. Im Bamf stapelten sich die unbearbeiteten Asylanträge – auch, weil schlicht Mitarbeiter fehlten. Die Behörde reagierte: Im Frühjahr 2016 wurde das Personal zunächst von 2800 auf 4800 Mitarbeiter aufgestockt, später auf fast 7000.
Einer dieser neuen Mitarbeiter des Bundesamtes war Abdullah Khan. Anfang 2016 arbeitete der Reporter der „Bild“-Zeitung verdeckt vier Monate lang als Sachbearbeiter beim Bamf in Berlin. Am Mittwochabend gewährte er Fernsehzuschauern bei „Markus Lanz“ Einblicke in die Zustände, die damals im Bundesamt herrschten – und die er als „absolut chaotisch“ beschreibt. Anstelle einer Ausbildung habe er eine Schulung von gerade einmal zehn Tagen erhalten.
Khan erzählt von einem Interview mit einem Asylbewerber, den er auf etwa 60 Jahre schätzte – der aber angab, 24 zu sein. Er habe sich gefragt: Was macht man da? Und dann die Antwort des Mannes ins Computersystem eingetragen und einen Aktenvermerk gemacht. Fast 80 Prozent der Antragsteller hätten angegeben, keinen Ausweis zu haben. Verloren, von der Terrororganisation Islamischer Staat weggenommen, nie einen besessen – das seien einige der Begründungen gewesen. Es sei schwer gewesen zu entscheiden, wer hier die Wahrheit sagt und wer lügt.
Der Moderator fragt nach der Möglichkeit der Manipulation: „Sie hätten Akten fälschen können?“ „Ja“, antwortet der Reporter. „Das ist auch eines der Kernprobleme. Jeder Sachbearbeiter trägt Daten in das System ein. Ich könnte jeden möglichen Menschen anlegen, den auch nennen, wie ich möchte.“ Es sei einfach zu manipulieren. Auf die Frage, was sich ändern müsse, erklärt Khan, es müssten mehr Kontrollorgane geschaffen werden.
Und wie nehmen die Menschen auf der anderen Seite die Situation beim Bamf wahr? „Die Behörde war einfach restlos überlastet“, sagt Mia Lindemann, Vorsitzende des Asylarbeitskreises Heidelberg. Es sei ein ungeheurer politischer Druck aufgebaut worden, die Verfahren schnell durchzuziehen. Außerdem hätten viele der neu eingestellten Mitarbeiter schlicht nicht gewusst, welche Kriterien für den Schutzstatus gelten. Vielen hätten sowohl soziokulturelle Kenntnisse als auch solche über das Herkunftsland gefehlt, so dass sie in den Anhörungen nicht gezielt nachfragen konnten.
Kulturelle Unterschiede
Lindemann erzählt die Geschichte einer jungen Frau aus Gambia, die in ihrem Asylverfahren angab, sie hätte mit einem etwa 40 Jahre älteren Mann verheiratet werden sollen. Sie konnte fliehen. „Was sie aber in der Anhörung nicht erzählen konnte, ist die Tatsache, dass sie vor der Hochzeit hätte beschnitten werden sollen – weil man darüber in ihrer Kultur einfach nicht spricht“, sagt Lindemann. Im Asylverfahren sei ihr einfach nicht geglaubt worden, sie wurde abgelehnt. „Dann hat sie es noch einmal versucht, mit einem neuen Verfahren“, so Lindemann. „Dieses Mal hat sie über die Angst vor der Beschneidung gesprochen.“ Nun aber sei ihr nicht geglaubt worden, weil sie das beim ersten Verfahren nicht vorgetragen habe.
Solche Geschichten erschüttern Lindemanns Glauben an den Rechtsstaat und das Asylrecht, sagt sie. Und ihrer Einschätzung nach werden die meisten der abgewiesenen Menschen zu Unrecht abgewiesen.
Schutz für Straftäter
In Bremen hingegen erhielten einem Bericht des Magazins „Der Spiegel“ zufolge auch Straftäter Flüchtlingsschutz. So informierte die Außenstelle bei einem Mann, der angab, in Syrien für den Geheimdienst gearbeitet zu haben, gegen die Vorschrift offenbar nicht die Sicherheitsexperten des Amtes.
Es geht um die Frage, wem die Entscheider in der Behörde glauben – und warum. „Der Eindruck von Glaubwürdigkeit ist natürlich ein subjektiver“, sagt ein Asylrechtler aus der Region, der nicht möchte, dass sein Name veröffentlicht wird. Das beginnt schon bei der Einschätzung der Lage im Herkunftsland. Beispiel Afghanistan. „Da gibt es viele verschiedene, auch gegensätzliche Stellungnahmen“, erklärt der Rechtsanwalt. Außerdem stelle sich die Frage, nach welcher Richtlinie die Anhörungen stattfinden. Er jedenfalls kenne die internen Richtlinien leider nicht.
In vielen Fällen seien die Gründe für eine Ablehnung nicht nachvollziehbar gewesen. „Es gibt eine weit verbreitete Unkultur des Textbausteinwesens“, so der Anwalt. „Da sind die tollsten Blüten zustande gekommen.“ Von den Einzelschicksalen, die laut Bamf maßgeblich sind für die Entscheidung, finde sich in diesen Begründungen zum Teil kaum etwas wieder. Oft seien die Entscheidungen einfach nur „unendlich schlecht“.
Dementsprechend hatten im vergangenen Jahr mehr als 40 Prozent der Asylbewerber Erfolg, deren negative Entscheidungen vor Gerichten überprüft wurden. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken im Bundestag hervor. „Fast die Hälfte der überprüften Asylbescheide wurde also durch die Verwaltungsgerichte korrigiert“, erklärt Pro Asyl dazu. „Bei syrischen und afghanischen Asylsuchenden waren es sogar über 60 Prozent.
Tausende Bescheide prüft das Bamf nun nach dem Verdacht in Bremen – deutschlandweit. Betroffen sind zehn Außenstellen des Bundesamtes, in denen Abweichungen festgestellt wurden. Die Hauptfrage aus Sicht der flüchtlingspolitischen Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Luise Amtsberg: „Was sind das für Unregelmäßigkeiten im Asylverfahren an den Außenstellen?“ Diese Frage stellt sie im Interview mit der „Deutschen Welle“. „Wenn Rückstellungen in andere europäische Länder nicht erfolgt sind, ist der Schaden weniger groß, als wenn zum Beispiel die Identität der Asylsuchenden nicht ausreichend geprüft wird.“ Die Qualität dieser Unregelmäßigkeiten müsse der Innenausschuss des Bundestages nun herausfinden. Nur so könne der Schaden eingeschätzt werden.
Strukturelle Kontrollen
Der Rechtsanwalt jedenfalls warnt jetzt schon davor, wegen der möglichen Vorfälle in Bremen das ganze Asylverfahren schlechtzureden – bei aller Kritik an der Durchführung. Aber: „Die Frage muss doch jetzt sein: Warum hat man nicht von vornherein dafür gesorgt, dass das Bamf personell ordentlich ausgestattet ist?“ Die derzeitige politische Diskussion treffe vor allem diejenigen, die den Flüchtlingsstatus bereits bekommen haben. „Und das halte ich für eine sehr problematische Entwicklung.“
Lindemann vom Asylarbeitskreis Heidelberg sieht das ähnlich: Auch sie sorgt sich, dass sich die Stimmung Flüchtlingen gegenüber weiter verschlechtern könnte, der Generalverdacht gegen sie weiter befeuert wird. Das Bundesamt bezeichnet sie als Prügelknaben der Nation. „Bei dem hohen politischen Druck, der auf das Bamf ausgeübt worden ist, muss man sich doch fragen: Was hätte strukturell anders laufen müssen, damit diese Behörde eine echte Chance gehabt hätte? Es hätte eine ordentliche Ausbildung der Mitarbeiter geben müssen und eine viel höhere Qualitätssicherung und Qualitätskontrollen.“ Die erneute Überprüfung von Bescheiden hält Lindemann für schlimm – vor allem für die Menschen, die bereits einen Aufenthaltstitel haben. Für diese Menschen, die sich in Sicherheit gewähnt hätten, sei das ein schwerer Schlag. „Ich kann nur hoffen, dass das an uns hier vorüber geht.“
Jutta Cordt
Die 54-jährige Leiterin des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf), Jutta Cordt (Bild), studierte Rechtswissenschaftlerin, startete ihre Laufbahn im Landesarbeitsamt Nordrhein-Westfalen als Trainee für den höheren Dienst.
Später führte ihr Weg als Führungskraft unter anderem nach Duisburg und Hagen, Saarbrücken, Ravensburg und in die Zentrale der Bundesagentur für Arbeit (BA) nach Nürnberg.
Vor ihrem Wechsel Anfang des Jahres 2017 an die Bamf-Spitze leitete sie Regionaldirektionen der BA – zuerst in Sachsen und dann Berlin-Brandenburg.
Cordt stammt aus Herne im Ruhrgebiet, wuchs in Bochum auf. Sie ist Motorrad-Fan, joggt gern und ist mit einem BA-Kollegen verheiratet.
Dass der Job als Bamf-Präsidentin herausfordernd sein wird, war der Juristin von Anfang an klar. Doch sie habe Nerven so stabil wie die Stahlseile der Golden-Gate-Brücke, sagte sie vor dem Amtsantritt.
Der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) schenkte ihr zur Amtsübernahme einen Kompass – für die „richtige Richtung“.
Cordt schafft es im ersten Jahr, den Stapel unerledigter Asylanträge deutlich zu verkleinern. Die Behörde arbeitet in der Tat effizienter.
Jüngst ist Cordt massiv unter Druck geraten. Eine frühere Leiterin des Bamf Bremen soll dort zwischen 2013 und 2016 unrechtmäßig mindestens 1200 Anträge durchgewinkt haben. Gegen die Frau wird wegen Bestechlichkeit und bandenmäßiger Verleitung zur missbräuchlichen Asylantragstellung ermittelt.
Cordt kündigt an, 18 000 Asylbescheide von dort checken zu lassen. Manche Politiker sprechen ihr trotzdem das Vertrauen ab. Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth prüft in der Affäre auch eine Anzeige gegen die Behördenchefin selbst wegen Verdachts der Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt im Bundesgebiet. Von einem Ermittlungsverfahren ist aber nicht die Rede. dpa
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