Schiffsunglücke hat es in den vergangenen 100 Jahren unzählige gegeben. Tausende Menschen starben. Erst kürzlich machte die Havarie der "Costa Concordia" Schlag- zeilen. Doch der Mythos vom Untergang der "Titanic" ist bis heute unerreicht.
Es war in der Nacht des 14. April 1912, kurz vor Mitternacht, als die "Titanic" auf einen Eisberg stieß. Knapp drei Stunden später war das damals größte Schiff der Welt in den eisigen Meerestiefen versunken. Ungefähr 1500 Menschen riss es mit in den Tod. Niemand, der dabei war, lebt heute noch. Und dennoch scheint der Moment im kollektiven Gedächtnis seltsam präsent. Fast jeder hat irgendeine Vorstellung, was in diesen Stunden geschah: In der ersten Klasse klapperte das Kristallglas auf den Tischen, die Kapelle spielte bis zum Untergang weiter, die Menschen mit billiger Fahrkarte in den Unterdecks starben zuerst.
Trotz aller Schiffskatastrophen, die die Welt in den vergangenen 100 Jahren gesehen hat, fasziniert bis heute keine die Menschen so sehr wie der Untergang der "Titanic" auf ihrer Jungfernfahrt. Dank unzähliger Verfilmungen, Bücher, Fotos und Ausstellungen haben die meisten bildliche Assoziationen im Kopf, wenn sie nur den Namen hören. Mal sind diese richtig, mal haben sich Legenden im Lauf der Jahrzehnte verselbstständigt. Nicht nur Hollywood hat eine Menge dazuerfunden.
Kaum verbreitete sich im Januar die Nachricht vom Unglück des Kreuzfahrtschiffs "Costa Concordia" vor der Küste Italiens, wurden Vergleiche mit der "Titanic" laut. Selbst in unseren Sprachgebrauch hat der Ozeanriese Eingang gefunden: "Keine Panik auf der Titanic". Im Gedenkjahr wird die Erinnerung an das damalige Vorzeigeschiff der White Star Line allerorten neu geweckt. In Belfast, wo das Schiff gebaut wurde, eröffnete ein neues Museum und Geschäftszentrum. Und James Camerons "Titanic" mit Kate Winslet und Leonardo DiCaprio kommt als 3D-Version zurück ins Kino.
Teure Erinnerungsstücke
Das Geschäft mit Erinnerungsstücken rund um die "Titanic" boomt. Regelmäßig werden Rekordpreise für ein Stück Geschichte bezahlt. 2008 blätterte ein Käufer in London umgerechnet rund 42 000 Euro für eine Fahrkarte der Jungfernfahrt hin. 2010 wurden bei einer Auktion in Südengland über 62 000 Euro für einen auf dem Luxusdampfer verfassten Brief gezahlt. Ende März wurde in Großbritannien eine Karte des letzten Mittagsmenüs auf der "Titanic" versteigert - für rund 91 000 Euro. Demnächst kommen in New York mehr als 5000 Artefakte beim Auktionshaus Guernsey's unter den Hammer - darunter Parfüm-Flakons, Schmuckstücke der Passagiere und Schiffsteile. Die vom Wrack geborgenen Stücke sind nur als Kollektion zu haben, ihr Wert wird auf knapp 150 Millionen Euro geschätzt.
Aber warum ist es gerade die "Titanic", die die Menschen nicht loszulassen scheint? "Dafür gibt es viele Gründe", erklärt John Wilson Foster, emeritierter Professor aus Belfast und Autor mehrerer "Titanic"-Bücher. "Es war immerhin der Untergang des damals größten Kreuzfahrtschiffes der Welt und es gab 1500 Tote." An Bord des Dampfers waren mehr als 2200 Menschen.
Mit ein Punkt sei auch, dass die Liste der Passagiere sehr vielfältig gewesen sei. "Das führte dazu, dass das Schiff selber als Mikrokosmos der europäischen und US-amerikanischen Gesellschaft der Zeit gesehen wurde." In der ersten Klasse seien einige der reichsten Männer der Welt mitgefahren. Und auch kulturell gesehen war die Passagierliste vielfältig - es waren Schriftsteller, Maler, Modeschöpfer und Schauspieler an Bord. "Die Besetzung für diese Tragödie, die zum Teil ins Melodrama verschoben wurde, ist in der Geschichte der Schiffskatastrophen nie besser gewesen", sagt Foster.
In den vergangenen 100 Jahren sei die Geschichte auch immer wieder neu erfunden worden. Die erste Welle habe es um 1912 gegeben, innerhalb weniger Woche seien zig Bücher und Filme zur Katastrophe erschienen. In den 50er Jahren kam die zweite Welle, angeregt durch das Buch und den Hollywood-Film "A Night to Remember". "Bis in die 80er Jahre schlief das Ereignis wieder", so Foster. Die Entdeckung des Wracks 1985 und Camerons Film 1997 hätten das Interesse dann "globalisiert".
"Man könnte die Bedeutung des Schiffes und seines Sinkens für jede Generation oder Interessen-Welle einzeln zusammenfassen", so der Experte. Die "Titanic" sei ein Phänomen der Populärliteratur - das Interesse daran sei stets durch das Angebot angeregt worden. "Und man muss ja zugeben, dass das Schiff und die Ereignisse um es herum außerordentlich spektakulär sind."
Risiko Mensch bleibt
Damals war die "Titanic" das größte Schiff der Welt, heute wäre sie eher mittelgroß. Mehr als 7500 Passagiere reisen auf den größten Kreuzfahrtschiffen, dreimal so viel wie auf die "Titanic". Große Containerschiffe und Tanker sind heute mehr als 130 Meter länger - und unterliegen völlig anderen Sicherheitsbestimmungen. Denn nach dem "Titanic"-Unglück wurde erstmals eine Konferenz einberufen, die einen internationalen Mindeststandard für die Sicherheit auf See schaffen sollte. Daraus entstand das "Internationale Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (SOLAS)", bis heute der gültige Maßstab für Schiffbauer und Reeder.
Eine Kollision mit einem Eisberg ist heute sehr unwahrscheinlich. Die Kommunikations-, Ortungs- und Navigiertechnik beruht auf elektronischen Seekarten, Satelliten stützen die Navigation und Radar warnt vor Hindernissen. Dennoch kann man ein Schiff auf einen Felsen setzen, wie der Kapitän der "Costa Concordia" bewies. Das größte Sicherheitsrisiko bleibt der Mensch.
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